|136|Gerlinde kämpft an allen Fronten

Die Vertretung des Dezernats von Gerlinde wurde langsam auch ein psychisches Problem. Das lag nicht unbedingt am Umfang der zusätzlichen Akten, die Mona und ich zu bearbeiten hatten. Schwieriger war es schon, häppchenweise über immer weitere Wochen der Vertretung ihres Dezernats informiert zu werden. Wirklich anstrengend war es aber, den Ansprüchen von Gerlinde selbst zu genügen. Sie schaffte es nicht, sich einfach nur auf ihre Schleuserverfahren zu konzentrieren. Ständig musste sie kontrollieren, wie wir ihre Ermittlungsverfahren bearbeiteten. Gerlinde war wie eine Glucke und wir die Eindringlinge, die ihr die Küken, ihre Ermittlungsverfahren, weggenommen hatten. Häufig hielt sie Mona oder mir einen Vortrag, dass in einem bestimmten Verfahren nicht so, sondern anders vorgegangen werden müsse. Letztlich führte dies dazu, dass sich Gerlinde den halben Tag doch wieder mit ihren Ermittlungsakten befasste und mit den Schleuserverfahren nicht vorankam. Dadurch verlängerte sich natürlich wieder die Zeit der Vertretung. Eine Situation, mit der keiner von uns dreien glücklich war und die einer endlosen Spirale glich.

 

Eines der von mir übernommenen Ermittlungsverfahren überwachte Gerlinde besonders genau. Es ging um einen Häftling in Berlin-Grünau. Er war in Abschiebegewahrsam |137|und sollte demnächst in seine Heimat, nach Afrika, ausgeflogen werden. Bereits seit zwei Tagen befand er sich im Hungerstreik, als er an einem Samstagabend dem Wärter gesundheitliche Probleme meldete. Er klagte über Schmerzen im Brustbereich. Dieser informierte den zuständigen Kollegen Christian W. vom Haftpersonal, der einen medizinischen Ausbildungsberuf erlernt hatte, jedoch kein Arzt war. Das EKG-Gerät war gerade defekt, es gab jedoch einen Defibrillator. Dieser sogenannte Schockgeber wird bei gefährlichem Flimmern der Herzkammern zur Wiederbelebung (bzw. um wieder einen normalen Puls zu erzeugen) eingesetzt. Das Gerät verfügte aber auch über einzelne Funktionen eines EKG. Damit führte der Mitarbeiter Messungen der elektrischen Impulse am Herzmuskel des Häftlings durch, die unauffällig blieben. Er schickte ihn mit der Bemerkung, ihm fehle nichts, zurück in die Zelle. Zwei Stunden später alarmierten ihn Mithäftlinge erneut, da der Afrikaner kaum ansprechbar war. Christian W. entschied sich nun, den Mann in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu bringen. Der behandelnde Oberarzt war ziemlich wütend, dass er nicht früher eingeliefert worden war. Nur durch eine schwierige Notoperation konnte sein Leben gerettet werden. Ein Defibrillator sei nicht geeignet, akute Herzerkrankungen sicher auszuschließen.

Die Presse erfuhr von dem Fall, und es standen kleinere Artikel in den Berliner Zeitungen. Es gab Anfragen der Presse an die Berliner Staatsanwaltschaft, sodass sich deren Pressesprecher schon in unserer Abteilung nach dem Fall erkundigt hatte. Generell ist das Prozedere des Abschiebegewahrsams von politischer Brisanz. Häufig ist von einem angeblich zu harten und unmenschlichen Umgang mit den |138|illegalen Einwanderern und abgelehnten Asylbewerbern die Rede. Andererseits ist allen bewusst, dass der Vollzug der Abschiebung eine schwierige und anspruchsvolle Tätigkeit darstellt. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Betroffenen oftmals alles Mögliche probieren, um die Abschiebung zu verhindern. Das Personal muss mit Hungerstreik und Selbstverletzungen klarkommen.

Gerlindes Fall bot aus meiner Sicht keine Anhaltspunkte für eine besonders hartherzige und unmenschliche Einstellung des Personals. Sicherlich war es grob fahrlässig, den Häftling zunächst nur mit dem Defibrillator zu untersuchen und nicht gleich ins Krankenhaus einzuliefern. Andererseits hatte der Mitarbeiter ihn zwei Stunden später in die Notaufnahme gebracht. Insofern konnte ich ihm nicht unterstellen, dass er generell keinen Rettungswillen gehabt hatte. Er hätte nur die Gefährdungssituation früher erkennen müssen. Ich entschied mich daher, beim Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls zu beantragen, wonach der Beschuldigte zu einer Geldstrafe verurteilt werden sollte. Im Unterschied zu einer Anklage konnte Christian W. den Strafbefehl akzeptieren, es musste also nicht zwingend zur Hauptverhandlung kommen. Gerlinde war damit aber gar nicht einverstanden. Sie meinte, der Beschuldigte solle nochmals zur Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft, also bei mir, geladen werden. Ausführlich erläuterte sie mir, wie es ihr schon gelingen werde, dessen ausländerfeindliche Einstellung zu »entlarven«. Dann könne auch eine Freiheitsstrafe in Betracht kommen. Ich war dagegen, zumal die Polizei Christian W. bereits ausführlich vernommen hatte. Auch sonst sah es mit der Beweislage in diesem Fall gar nicht so gut aus. Nach der Notoperation hatte man sich entschieden, den Häftling |139|zu entlassen. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Die Mithäftlinge, welche die Geschehnisse mitbekommen hatten, waren inzwischen abgeschoben worden und standen somit nicht als Zeugen zur Verfügung. Die Diskussion zog sich hin. Schließlich schaltete sich Jens ein, der durch die Durchgangstür zu seinem Zimmer alles mitbekommen hatte. Jens meinte, dass es im Moment nicht die Ermittlungsverfahren von Gerlinde seien und sie es hinnehmen müsse, dass andere Staatsanwälte andere Verfahrensweisen bevorzugten. Damit war das Thema vorerst beendet. Gerlinde stapfte enttäuscht in ihr Zimmer. Dort warteten schon die beiden Schleuserverfahren auf sie. Es waren wirklich große Verfahren. Ein paar Tage zuvor war ich zufällig in ihrem Zimmer gewesen. Dort stapelten sich in den Ecken und sogar auf dem Schrank mehrere große beschriftete Kartons. Einige standen geöffnet neben ihrem Schreibtisch. Sie enthielten unzählige Aktenordner, mit denen auch die beiden Tische in dem Zimmer vollgestellt waren.