|121|Überraschende Wende

Der Tag der Urteilsverkündung war gekommen. Sinan wurde, wieder über den mittlerweile verhassten Innenhof des Gerichts, in den Verhandlungssaal des Landgerichts Chemnitz, Große Strafkammer, gebracht. Er würde keine neue Fluchtchance erhalten. Die Wachtmeister waren jetzt zu dritt, seine Hände waren mit Handschellen gefesselt und man hatte ihm eine Fußkette angelegt. Alle Zeugen waren gehört worden. Die zuständigen Polizeibeamten, die Angestellten des Ladens und schließlich der Inhaber selbst. Eine Sachverständige hatte ihr schriftliches Gutachten zu den gefundenen DNA-Spuren erläutert. Es folgten die Abschlussplädoyers. Der Staatsanwalt forderte acht Jahre Freiheitsstrafe! Sinan ließ alles über sich ergehen. Nach dem gescheiterten Fluchtversuch war er wie betäubt. Er selbst hatte sich, nach Beratung mit seinem Verteidiger, nicht zum Tatvorwurf geäußert.

Er saß auf der Anklagebank und wartete. Jetzt kam das Gericht aus dem Beratungszimmer und nahm Aufstellung. Alle erhoben sich, Sinan in Erwartung der Verurteilung. Doch was dann passierte, überraschte alle. Das Gericht sprach ihn auf Kosten der Staatskasse frei! Die Gründe bekam Sinan aufgrund seiner Freude gar nicht richtig mit. Sein Verteidiger erklärte sie ihm später. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens war ein kleines Missgeschick passiert. Das zuständige Polizeidezernat |122|hatte ja Teile eines Handschuhs an der Handschelle gefunden, mit der ein Opfer an den Heizkörper gefesselt worden war. Anschließend wurde dieses Stück fein säuberlich in eine Plastiktüte verpackt und selbige verschlossen. Der zuständige Polizeibeamte vermerkte auf der Tüte das Aktenzeichen des Raubüberfalls und die Bezeichnung »Handschuhrest«. Im Labor wurde das Material dann erfolgreich auf DNA-Spuren analysiert und die Untersuchung in einem Gutachten penibel erläutert. Nur die Reste des Handschuhs gab es danach nicht mehr. Entweder waren sie verloren gegangen oder bei der Spurensuche zerstört worden. Die Untersuchung lag schon Jahre zurück, sodass die Sachverständige darüber keine Auskunft mehr geben konnte. Sie versicherte jedoch, dass sie selbstverständlich nur die Probe aus der Plastiktüte entnommen und untersucht habe.

Das Gericht meinte nun, dass weder aus dem vorliegenden Foto von dem Handschuhrest noch aus der Beschriftung seitens der Polizei noch aus dem Gutachten hervorginge, ob es sich um einen Einmalhandschuh gehandelt habe. Somit könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Handschuh mehrfach benutzt wurde. Weiterhin sei nicht auszuschließen, dass der Angeklagte mehrere ähnliche Taten begangen habe und mit anderen eine Bande gebildet habe. Daraus ergäbe sich die Möglichkeit, dass der Angeklagte und etwaige Bandenmitglieder die Tarnungsmittel und Tatwaffen an einem gemeinsamen Ort aufbewahrt hatten. Daher könne auch ein anderer Täter den Handschuh am Tatort benutzt haben. Zwar sei die DNA des Angeklagten an dem Handschuh gefunden worden. Diese Spur könne jedoch auch daraus herrühren, dass der Angeklagte den Handschuh vorher bei einer anderen Tat benutzt hatte. Verurteilen könne das |123|Gericht aber immer nur wegen der konkreten Tat, die angeklagt werde. Somit blieben letzte Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten, die zu seinen Gunsten zum Freispruch führen mussten.

So viel zum Thema DNA-Spuren am Tatort! Der Staatsanwalt regte sich mächtig auf. Es waren ihm ein paar »Wenn« und »Könnte« zu viel. Außerdem war der Angeklagte wegen einer ganz ähnlichen Tat vorbestraft. Aber es nützte natürlich nichts mehr.

Sinan umarmte zufrieden seinen Verteidiger – die Handschellen hatte man ihm im Sitzungssaal abgenommen. Er hatte wohl doch einen richtig guten Verteidiger erwischt. Wobei er davon ausging, dass dieser ihn für schuldig hielt. Der Verteidiger hatte zu ihm gesagt, dass er gar nicht wissen wolle, ob Sinan schuldig sei. Gäbe es trotz Schuld einen Freispruch, so habe er damit kein Problem. Die Schuld müsse im Strafprozess voll nachgewiesen werden. Fehlurteile seien der Preis für ein rechtsstaatliches Verfahren.

Erleichtert kehrte Sinan in die Haftanstalt zurück. Und auch der Verteidiger war zufrieden, war doch klar, was jetzt passieren würde. Das, was eigentlich immer nach solchen »Siegen« geschieht. Zwar konnte Sinan nicht gleich freigelassen werden, da er noch eine Reststrafe absitzen musste und die Untersuchungshaft auch für das Verfahren in Berlin angeordnet worden war. Trotzdem würde er seinen Mithäftlingen stolz von dem erzielten Freispruch erzählen. Die würden natürlich sofort fragen, wer sein Verteidiger gewesen sei, in ihren Augen mit Sicherheit ein »Genie«.

 

Am übernächsten Morgen würde der Verteidiger in aller Ruhe seine Rechtsanwaltskanzlei aufsuchen und viele Briefe |124|auf seinem Schreibtisch vorfinden. Neue Mandanten (alles Häftlinge aus der Haftanstalt), die bereits freudig einer baldigen Haftentlassung oder einem Freispruch mit Hilfe des »Genies« entgegensahen. Schließlich waren sie alle irgendwie »unschuldig«.