|52|Der Aktenberg wächst

Hier sind Ihre Handakten für die Sitzungen nächste Woche – warum gucken Sie denn so komisch?« Fünf graue Akten landeten auf meinem Schreibtisch, während Frau Henz von der Geschäftsstelle triumphierend verschwand. Anna konnte sich ein Grinsen über das Leid auf der anderen Seite der zusammengeschobenen Schreibtische nicht verkneifen. »Ach ja, das hatte ich vergessen zu erwähnen. Auch die Anfänger müssen nach circa fünf bis sechs Wochen am staatsanwaltschaftlichen Sitzungsdienst teilnehmen. Ist ein- bis zweimal die Woche und dauert so von 9 bis 15 Uhr.« Mein festes System (Bearbeitung der täglich eingehenden Aktenflut, Gegenzeichnung durch Jens, Bauchwehstapel genau im Auge behalten), mit dem ich mich Ende Januar mehr schlecht als recht arrangiert hatte, wurde nun in seinen Grundfesten erschüttert. Es war nicht nur die reine Sitzungszeit, die ich abschreiben konnte, die Akten mussten schließlich auch vorbereitet werden (wohl am Wochenende). Nahmen die Grausamkeiten denn gar kein Ende?

 

Jede Anklage, die ein Staatsanwalt erhebt, führt zu einer Hauptverhandlung vor einem Strafgericht. Neben den Richtern und dem Angeklagten (gegebenenfalls mit Verteidiger) nimmt auch ein Staatsanwalt teil. Und natürlich das interessierte |53|Publikum. Denn die Verhandlungen werden grundsätzlich öffentlich durchgeführt.

Früher, kurz nach der Eröffnung des Kriminalgerichts, waren diese Verhandlungen eine echte Attraktion. Es gab nur ein paar Kinos, in denen Stummfilme von zehn Minuten Länge liefen, noch kein Fernsehen und keine DVDs, die das Interesse an Straftaten heute ziemlich abdecken. Damals wurden bei Sensationsprozessen unter der Hand für Einlasskarten vierzig bis fünfzig Mark bezahlt, was viel Geld war. Es gab berühmte Vorsitzende Richter und Staatsanwälte. Fotografen wetteiferten darum, sie für Berliner Illustrierte auf die Platte zu bannen. Gleiches galt für renommierte Strafverteidiger, die schon mal mit einer Equipage vor dem großen Portal vorfuhren, einer hatte gar eine weiß gefütterte Robe. Vor dem Gericht hielten ein Dutzend Motorräder der großen Berliner Zeitungen, die die aktuellen Berichte stückweise im Eiltempo den Redaktionen zuführten. Denn schon in der Mittagszeitung sollte der Prozessauftakt und in dem Abendblatt der ganze Sitzungstag ausführlich beschrieben sein. Das erforderte wahre Geschwindigkeitswunder in der Übertragung von Stenogrammen, Abfertigung der Boten sowie im Satz und Druck.

Heutzutage sieht das mit dem Interesse an den Hauptverhandlungen völlig anders aus. Sicher: Es gibt ihn noch, den einen oder anderen sensationellen Prozess gegen einen ehemaligen Politiker oder Bankvorstand. In der Regel herrscht in den Sitzungssälen jedoch gähnende Leere. Kaum ein Zuschauer verirrt sich hierher. Lediglich Gerichtsreporter klappern jeden Morgen die Säle ab. Die Tür geht dann auf und der Reporter schaut den Vorsitzenden Richter scharf an und erhofft sich ein Zeichen. Schüttelt er den Kopf, wird |54|nur eine langweilige normale Straftat verhandelt. Reagiert er jedoch nicht, wittert der Reporter Beute und lässt sich im Saal nieder.

Ich selbst sah mir später mal einen Teil der Hauptverhandlung in einem Mordprozess an. Der Prozess fand im berühmten Saal 700 (hoch über dem Hauptportal gelegen) statt. Der Saal ist riesig, die Decke vielleicht sieben Meter hoch. Nicht ganz so prunkvoll wie der Saal 500, eine Etage tiefer, der auch der »Kaisersaal« genannt wird, doch wurde hier 1906, kurz nach der Eröffnung des Gerichts, der bekannte »Hauptmann von Köpenick« verurteilt. Später gab es im 700er wichtige RAF-Prozesse. Ich dachte erst, links im Saal stünde ein Straßenbahnwaggon. Es war jedoch eine Sicherheitskabine, in welcher der Mordverdächtige hinter getönten Glasscheiben saß. Durch einen winzigen Schlitz konnte er Papiere herausreichen oder entgegennehmen. Es ging um einen Doppelmord an einem Ehepaar, das zwei Kinder hinterlassen hatte. Der Angeklagte hatte gestanden, nachts in das Einfamilienhaus eingebrochen zu sein. Doch zu dem geplanten Diebstahl kam es nicht. Die Frau hörte Geräusche und sah nach dem Rechten. Der Angeklagte versetzte ihr zwei Messerstiche, dann begab er sich (angeblich, um durchs Fenster zu fliehen) ins Schlafzimmer, wo er den inzwischen gleichfalls aufgewachten Ehemann mit sieben Messerstichen tötete. Auch der Frau konnten die Ärzte nicht helfen. Nach drei Monaten im Koma erlag sie ihren Verletzungen.

Der Angeklagte war bereits einmal wegen Mord im Vollrausch zur Höchststrafe (fünf Jahre) verurteilt worden und machte im Prozess Strafmilderung wegen Drogenabhängigkeit geltend. Die Polizei hatte dem Beschuldigten nach Ergreifung |55|zunächst nur ein Haar von sieben Zentimetern Länge abgenommen. Dieses Haar reichte nicht, um durch eine Haaranalyse die Drogenabhängigkeit eindeutig zu bestätigen bzw. zu widerlegen. Als der Sachverständige in der Untersuchungshaftanstalt eine weitere Haarprobe nehmen wollte, war es bereits zu spät. Der Angeklagte hatte seine Haare (alle Körperhaare!) vollständig abrasiert. Mit den nachwachsenden Haaren konnte der Sachverständige nichts anfangen. Die Haarwurzel ist unter der Kopfhaut von Blutgefäßen umschlossen, welche die sich ständig teilenden und später verhornenden Zellen ernähren. Im Blut vorhandene Drogen werden dabei eingelagert und wachsen dann sozusagen mit den Haaren aus dem Körper heraus. Da bekannt ist, wie schnell Haar (sei es im Kopf-, Achsel-, Bein- oder Schambereich) bei bestimmten Menschentypen (z. B. Afrikaner oder Europäer) wächst, kann der Sachverständige ermitteln, ob und wenn ja, welche Drogen der Beschuldigte in welchem Zeitraum konsumiert hat. Die nachwachsenden Haare konnten aber nur noch Auskunft über den Zeitraum in der Untersuchungshaft geben.

Der Angeklagte in der Sicherheitskabine sah ohne Kopfhaare und Augenbrauen etwas merkwürdig aus. Konnte sich jemand auf verminderte Schuldfähigkeit wegen Drogenabhängigkeit berufen, obwohl er selbst die Möglichkeit der Überprüfung vereitelt hatte?

Ich schaute mich im Saal 700, der bestimmt achtzig Zuschauern Platz bietet, um. War er gefüllt? Die Antwort: Es gab zwei Zuhörer, die vielleicht beruflich (Presse) oder als Verwandte oder Bekannte der Opfer hier waren. Verübeln konnte man es den Leuten jedoch nicht. Die Fragen, über die hier verhandelt wird, können schnell krank machen.

|56|Später hörte ich, dass das Landgericht dem Angeklagten tatsächlich eine Strafmilderung zugebilligt und ihn zu vierzehn Jahren Freiheitsstrafe (Mord im Zustand verminderter Schuldfähigkeit) verurteilt hatte. Mit etwas Glück kann der damals circa dreißigjährige Täter im Alter von vierzig Jahren schon wieder auf freiem Fuß sein. Obwohl er insgesamt drei Menschenleben auf dem Gewissen hat. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein, wobei ich nie erfahren habe, was dabei herauskam.

 

Am Freitagabend vor meiner ersten Sitzungswoche trollte ich mich gegen 20 Uhr mit Anna in Richtung Ausgang des Kriminalgerichts. Die fünf Sitzungsakten für Montag hatte ich zur Vorbereitung mitgenommen. Warum auch weggehen, fernsehen oder Bücher lesen? Man hatte doch alles da. Das pralle Leben sprang einem aus den Akten förmlich entgegen.