|140|Gerlinde kann nicht mehr

Im weiteren Verlauf des Monats Juni gab es (neben meinem viel zu kurzen Urlaub) zwei wichtige Ereignisse, die unsere Abteilung betrafen. Zum einen wurde uns eine weitere Staatsanwältin zugewiesen: Frau Eggers, die bereits kurz vor Vollendung ihres 65. Lebensjahres stand – drei Monate fehlten ihr noch zur Pensionierung. Eine sehr nette und umgängliche Kollegin, die in einer anderen Abteilung bis zur Gruppenleiterin (also rechten Hand des dortigen Leiters) aufgestiegen war. Als dieser Oberstaatsanwalt in einen anderen Bereich wechselte, bekam Frau Eggers mit der Nachfolgerin viel Ärger, was mehr oder weniger vorprogrammiert war. Vor vierzig Jahren, als Frau Eggers bei der Staatsanwaltschaft ihren Dienst antrat, war das eine Welt ohne Computer, Drucker und so weiter. Anklagen, Strafbefehlsanträge oder Verfahrenseinstellungen tippte man auf der Schreibmaschine, machte Durchschläge mit Blaupapier und korrigierte Rechtschreibfehler mit Tipp-Ex. Das war alles deutlich zeitaufwändiger als heute, wo man Masken im Computer abspeichern, Fehler schnell korrigieren und Schriftsätze ausdrucken kann. Gerlinde (die auch schon seit ungefähr dreißig Jahren bei der Staatsanwaltschaft war) erzählte, dass sie anfangs mal wegen achtunddreißig offenen Verfahren zum Hauptabteilungsleiter zitiert worden war. Das sei damals sehr viel gewesen.

|141|Heutzutage waren aber hundert und mehr offene Verfahren in dem Dezernat eines Staatsanwalts normal, und ohne technische Hilfsmittel waren die hohen Eingangszahlen schlichtweg nicht mehr zu bewältigen. Frau Eggers war es nie gelungen, sich die Benutzung von moderner Technik anzueignen. Woran es genau lag, wussten wir nicht. Jedenfalls tippte sie nach wie vor ihre Schriftsätze auf ihrer eigenen alten Reiseschreibmaschine und machte Durchschläge mit Blaupapier. Das führte dazu, dass die Zahl der offenen Verfahren in ihrem Dezernat immer größer wurde und sie sich schließlich eingestehen musste, dass sie mit der täglich in ihr Zimmer strömenden Aktenflut überfordert war. Die anderen Staatsanwälte der Abteilung mussten laufend einspringen und Frau Eggers unterstützen. Dies führte zu Spannungen. Schließlich entschied die neue Abteilungsleiterin, dass Frau Eggers ausschließlich für die Asservatenverfügungen (und zwar für die gesamte Abteilung) zuständig war. Sie kommunizierte von da ab nur noch mit der Asservatenstelle und beantwortete Schreiben von Geschädigten oder Beschuldigten, die irgendwelche beschlagnahmten Gegenstände zurückhaben wollten. Eine sehr einseitige und trostlose Tätigkeit. Auf Dauer zermürbend. Fieberhaft suchte die Behördenleitung nach einer Lösung, um die Abteilung zu entlasten und Frau Eggers, einer altgedienten Staatsanwältin, eine annehmbare Tätigkeit zu verschaffen, die es ihr auch ermöglichte, ihr Gesicht zu wahren. Schließlich hatte man die gute Idee, Frau Eggers aus der Abteilung herauszunehmen und ihr ein halbes Dezernat zuzuteilen. Man war der Ansicht, dass Frau Eggers dies schaffen konnte. Voraussetzung war natürlich, dass in der neuen Abteilung ein angenehmes Arbeitsklima herrschte, sie also von einem |142|besonders netten und rücksichtsvollen Kollegen geleitet wurde. Mit zwei Worten: Oberstaatsanwalt Berndt!

 

Das zweite Ereignis betraf die Vertretung des Dezernats von Gerlinde. Ende Juni sollten die Schleuserverfahren ja »voraussichtlich« abgeschlossen sein. Mona und ich überlegten schon, wie wir uns bei Gerlinde unauffällig nach dem Stand der Dinge erkundigen konnten, als Gerlinde plötzlich im Café Jura meinte, dass »irgendetwas« mit ihrem Rücken »nicht in Ordnung« sei. Eine Stunde später verabschiedete sie sich und ging aufgrund erheblicher Schmerzen zum Arzt. Zwei Tage darauf bekamen wir Gewissheit. Gerlinde hatte sich einen Bandscheibenvorfall eingehandelt, als sie die Kiste eines Schleuserverfahrens, voll gepackt mit Aktenordnern, von dem Schrank in ihrem Zimmer herunterholte. Sie war den ganzen Juli krankgeschrieben. Mona rief wehklagend in die Kaffeerunde: »Ach, hätte Gerlinde bloß was gesagt. Ich hätte ihr bei der Kiste doch geholfen.« Alle mussten lachen. Mona war zwar drahtig und quirlig, aber nur 1,65 m groß. Jörg meinte grinsend, Mona solle froh sein, dass sie ihren Bügel mit der Robe allein in ihrem Schrank aufhängen könne.

»Noch einen Monat vertreten«, nörgelte ich. »Wieso einen Monat?«, fragte Jörg. »Weißt du nicht, dass Gerlinde ab 1. August fünf Wochen Urlaub hat?« Jens schüttelte den Kopf und meinte, vor September gehe es also mit den Schleuserverfahren nicht weiter. Mona und ich schauten hilfesuchend zu Oberstaatsanwalt Berndt, der aber nur stirnrunzelnd das Zimmer verließ.

Zwei Stunden später war er jedoch wieder lächelnd bei mir im Zimmer. Frau Eggers würde die Vertretung eines |143|halben Dezernats von Gerlinde übernehmen. Dann musste ich nur noch ein Viertel ihres Dezernats vertreten. Gleiches galt für Mona. Eine wirklich gute Lösung. Mit der dauerhaften Vertretung in diesem Umfang konnte ich leben.