|129|Der unwirkliche Rechtsanwalt

Normalerweise entscheidet das Zufallsprinzip, welchem Staatsanwalt ein Ermittlungsfall zugeteilt wird. Oberstaatsanwalt Berndt ließ eingehende neue Verfahren immer der Reihe nach zuweisen. Ab und zu wählte er jedoch einen abweichenden Modus. So zum Beispiel, wenn eine Vielzahl gleich gelagerter, aber schwieriger Ermittlungsverfahren einging, bei denen die Bearbeitung in einer Hand sinnvoll war, um eine einheitliche Vorgehensweise sicherzustellen.

In diesem Sinne wurde ich von Oberstaatsanwalt Berndt zum zuständigen Staatsanwalt für eine größere Anzahl von Sozialhilfebetrugsfällen »ernannt«. Es ging um deutsche Staatsbürger, die alle vor mehr als dreißig Jahren aus der Türkei nach Deutschland eingewandert waren, später ihre Arbeit verloren und seit vielen Jahren Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe bezogen. Im Rahmen internationaler Abkommen hatte eine türkische Bank gegenüber deutschen Finanzämtern Angaben zu Zinseinkünften gemacht. Auf Nachfrage ergab sich, dass die Beschuldigten dort sehr hohe Einlagen hatten. In Berlin waren es mehr als hundert Beschuldigte, die seit Jahren von staatlicher Hilfe lebten und im Ausland Einlagen in Höhe eines sechsstelligen Eurobetrages hatten. Dieses Vermögen hatten sie gegenüber den zuständigen Stellen in Deutschland nie angegeben.

 

|130|Anfang Juni ging Oberstaatsanwalt Berndt für drei Wochen in Urlaub und Jens, als Gruppenleiter, übernahm für den Zeitraum seiner Abwesenheit die Aufgaben des Abteilungsleiters. In dieser Zeit erfolgte die Verteilung der Akten nicht nach dem Zufallsprinzip. Jens ließ sich alle Neueingänge vorlegen, schaute sie kurz durch und überlegte sich, welcher Staatsanwalt sie erhalten sollte. Einmal rief er Maja und mich in sein Zimmer. Auf seinem Schreibtisch hatte er fein säuberlich zwei neue Ermittlungsvorgänge aufgebahrt. Wir sollten selbst entscheiden, wer welches Verfahren bekommen würde. Über den Inhalt verriet er uns nichts. Beide Ermittlungsverfahren sahen äußerlich nach einer Menge Arbeit (und damit nicht besonders einladend) aus. Der eine Stapel bestand bereits aus drei Akten, die durch einen Aktengurt zusammengehalten wurden. Es war also schon ein kleines Gürteltier. Waren weitere Ermittlungen notwendig, konnten aus den drei Aktenbänden auch schnell fünf oder sieben werden. Das zweite Verfahren umfasste zwar nur einen Aktenband. Jedoch gehörte ein geheimnisvoller Pappkarton mit unbekanntem Inhalt und ein Gegenstand dazu, der in einer blauen Plastiktüte steckte. Auch da ließ sich natürlich spekulieren, ob sich umfangreiche und noch auszuwertende Unterlagen in dem Karton befanden oder ob die Polizei vielleicht bald den nächsten Karton für dieses Ermittlungsverfahren vorbeibringen würde.

Jens ließ natürlich Maja den Vortritt. Wir mussten alle ein bisschen lachen. Es war wie bei einem Fernsehquiz, wo der Moderator fragt: »Wollen Sie lieber Tor A oder den braunen Umschlag und 200 Euro?«, und der Kandidat hilflos abwechselnd auf den braunen Umschlag und den Vorhang vor Tor A schaut. Schließlich entschied sich Maja für die |131|Akte mit dem Pappkarton. Es war ein Verfahren wegen versuchten Versicherungsbetruges (durch einen vorgetäuschten Einbruchsdiebstahl).

Mein Verfahren richtete sich gegen »Rechtsanwalt« Peter Schmitz. Der Tatvorwurf bestand im Wesentlichen in Betrug und Missbrauch einer Berufsbezeichnung. Alles lief auf die entscheidende Frage hinaus: War Peter Schmitz wirklich Rechtsanwalt? Er »residierte« in der Karl-Marx-Allee 22 und hatte bereits mehrere Mandanten, unter anderem auch in familienrechtlichen Verfahren, vertreten. Er flog auf, als er gegen ein amtsgerichtliches Urteil per Fax beim Amtsgericht am letzten Tag der Frist Berufung einlegte. Die dortige Richterin dachte, dass ein Anwalt eigentlich wissen müsse, dass es für die Wahrung der Berufungsfrist auf den Eingang der Berufung beim Berufungsgericht (in dem Fall dem Kammergericht Berlin) ankommt. Sie hielt Schmitz für einen Berufsanfänger und wollte ihn anrufen. Dabei musste sie feststellen, dass sein Briefkopf weder Telefon- noch Faxnummer enthielt. Verwundert rief sie bei der Rechtsanwaltskammer Berlin an, um die Nummer zu erfragen. Dort teilte man ihr mit, dass es nur einen Rechtsanwalt Peter Schmitz in Berlin gebe, dessen Kanzlei jedoch in der Grunewaldstraße liege. Es stellte sich heraus, dass dieser Peter Schmitz mit dem Verfahren nichts zu tun hatte.

Mittlerweile hatten sich bereits mehrere Mandanten des »Rechtsanwalts« Peter Schmitz aus der Karl-Marx-Allee 22 bei der Polizei gemeldet. In allen Fällen war die Vertretung durch den »Rechtsanwalt« eher unglücklich verlaufen. Mehrmals hatten die Mandanten vor Gericht mitbekommen, wie ein Richter oder der Rechtsanwalt der Gegenseite verwundert nachgefragt hatte, wo denn der Kollege sein |132|Examen gemacht habe, wenn er »eigentlich gar nichts« wisse. Auch die Honorarvereinbarungen von »Rechtsanwalt« Schmitz wirkten verdächtig. So agierte er beispielsweise in einem Fall für 20 Euro oder »einen Pott Kaffee und einen Zehner«.

Ich beriet mich mit Jens über das weitere Vorgehen. Er meinte, dass man jetzt bei der »Kanzlei Rechtsanwalt Schmitz« eine Durchsuchung durchführen müsse, um festzustellen, ob die Räume überhaupt als Kanzlei eingerichtet seien, in welchen Fällen er noch tätig sei und ob sich Unterlagen zu seiner beruflichen Qualifikation finden würden.

Ein paar Tage später bekam ich dann Besuch. Der in der Grunewaldstraße praktizierende Rechtsanwalt Schmitz erschien in meinem Zimmer und war völlig aufgebracht. Bei ihm hatten sich schon mehrere verärgerte Mandanten des vermeintlichen Rechtsanwalts aus der Karl-Marx-Allee gemeldet. Auch gab es zahlreiche Beschwerden über Telefon und Internet. Es kostete ihn erhebliche Mühe, die Verwechslung aufzuklären. Er befürchtete nun eine Rufschädigung seiner Kanzlei durch diese Negativwerbung unter seinem Namen.

 

Vier Wochen später kam die Ermittlungsakte von der Polizei zurück, beigefügt waren mehrere Pappkartons. Die Durchsuchung war erfolgreich durchgeführt worden. Bei der Auswertung der beschlagnahmten Unterlagen hatte sich gezeigt, dass es höchste Zeit für ein Eingreifen gewesen war. Aus »Rechtsanwalt Peter Schmitz« war mittlerweile die »Rechtsanwaltskanzlei Schmitz & Kollegen« geworden. Inzwischen vertrat er bereits über zwanzig Mandanten in laufenden Gerichtsverfahren. Gegenüber den Polizeibeamten |133|agierte »Rechtsanwalt« Peter Schmitz relativ routiniert. Er protestierte sofort gegen die Beschlagnahme der Mandantenakten und verwies auf wichtige Gerichtstermine und Fristen. Auf die Frage, ob und wo er denn seine juristischen Staatsexamen gemacht habe, antwortete er prompt. Er habe beide Examen in Berlin abgelegt und sei jeweils mit den Abschlüssen »gut« unter den »Besten seines Jahrgangs« gewesen. Worauf der Polizeibeamte anmerkte, dass die »Kanzlei« in der einfach eingerichteten Wohnung nicht gerade nach der »Speerspitze der Juristerei« aussehe. Rasch beschied ihn »Rechtsanwalt« Schmitz: Alles sei etwas provisorisch, da er sich noch nicht entschieden habe, ob er sich dauerhaft in Berlin oder Dessau niederlassen wolle. Examenszeugnisse konnte er (merkwürdigerweise) nicht vorlegen. Er zeigte aber einen Seminarschein über »öffentliches Recht für Soziologiestudenten« vor, der seine Leistungen mit »gut« bewertete. Die Polizeibeamten sammelten alles ein und verließen unter dem Protest von »Rechtsanwalt« Schmitz die »Kanzleiräume«.

Zur Sicherheit rief ich beim Justizprüfungsamt Berlin an, wo die juristischen Staatsexamen abgenommen werden. Ein Mitarbeiter begab sich tief in den Keller, wo die Prüfungsunterlagen aller Juristen aufbewahrt werden, die jemals in Berlin ihr Staatsexamen abgelegt haben. Die Auskunft beendete die juristische Karriere des »Rechtsanwalts« Peter Schmitz aus der Karl-Marx-Allee endgültig. Der Mitarbeiter war bis in die sechziger Jahre zurückgegangen. Es gab nur einen in Berlin examinierten Juristen mit dem Namen Peter Schmitz, und der hatte seine Kanzlei in der Grunewaldstraße.