|225|Nur ein schwerer Raub

Das Gericht kehrte aus der Beratung zurück. Alle erhoben sich und das Gericht verurteilte den Angeklagten im Namen des Volkes zu sechs Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe. Das Gericht wandte den Strafrahmen des § 250 Abs. 1 Strafgesetzbuch (drei Jahre Mindeststrafe) an. Die Tat sei in allen Einzelheiten geplant gewesen. Das Gericht sei der festen Überzeugung, dass dazu auch die Pistolenattrappe gehörte. Durch gute Worte lasse sich ein Opfer kaum zur bereitwilligen Hinnahme der Fesselung überreden. Zugunsten des Angeklagten müsse im Zweifel jedoch davon ausgegangen werden, dass er einer der beiden Täter war, die Erika L. festgehalten und geschlagen hatten. Das Gericht hielt es zwar für unwahrscheinlich, aber eben nicht für ausgeschlossen, dass der Angeklagte den Einsatz der Pistolenattrappe als Schlagwerkzeug im Eifer des Gefechts nicht mitbekommen habe. Innerhalb des so gegebenen Strafrahmens seien vor allem die schweren Tatfolgen strafschärfend zu berücksichtigen gewesen. Das betreffe zunächst Erika L. Ihre Schilderungen und ihre weitere Lebensgeschichte hätten das Gericht tief bewegt. Aber auch Werner L. dürfe nicht vergessen werden. Er habe schließlich ebenfalls ganz schön was abbekommen. Auf der anderen Seite, und sicher am anderen Ende der Skala menschlicher Wertschätzung, stünde der Angeklagte. Seinem Geständnis |226|könne das Gericht nicht viel Gutes abgewinnen, zumal der Angeklagte ohnehin kurz vor der Verurteilung gestanden habe. Auch hohe Freiheitsstrafen würden keinen bleibenden Eindruck beim Angeklagten hinterlassen. Aber andere Mittel habe das Gericht eben nicht. Und wenn die Strafe nur dazu diene, die Allgemeinheit wenigstens für eine gewisse Zeit vor dem Angeklagten zu schützen.

Die »lächelnde Guillotine« beugte sich vor und blickte dem Angeklagten direkt in die Augen. Der Angeklagte müsse sich später nach seiner Entlassung überlegen, ob er noch mal straffällig werden wolle. Dann könne es gut sein, dass er für viel längere Zeit oder sogar für immer die Welt hinter Gitterstäben betrachten müsse. Es war kein Lächeln im Gesicht des Vorsitzenden zu sehen. Ich überlegte, ob da in diesem Prozess jemals eines gewesen war, konnte mich aber nicht daran erinnern.

Als Einzelfall gesehen, so der Vorsitzende, hätte die Strafe sieben Jahre und sechs Monate betragen müssen. Nach dem Strafgesetzbuch sei jedoch die Leipziger Verurteilung zu berücksichtigen und eine Gesamtstrafe zu bilden.2 Da aber die Strafe für die gestohlene Wodkaflasche bereits vollstreckt sei, könne sie nicht mehr einbezogen werden. Um dem Gesamtstrafenprinzip dennoch gerecht zu werden, sei deshalb ein strafmildernder Ausgleich vorzunehmen. Daher die »nur« sechs Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe.

 

|227|Dann war die Urteilsbegründung zu Ende. Die schriftliche Darlegung der Entscheidung würde später erfolgen. Der Angeklagte wurde abgeführt und der Verteidiger packte seine Sachen zusammen. Ich ging zu ihm und erklärte, dass es vielleicht in Absprache mit den zuständigen Stellen bei Staatsanwaltschaft und Vollstreckungsgericht eine Möglichkeit gäbe, den Angeklagten etwas früher aus der Haft zu entlassen (was bei seiner Vorstrafe eigentlich nicht möglich war). Dazu müsse der Angeklagte aber Namen nennen, die auch bestätigt werden konnten. Wenn er dazu irgendwann bereit sei, solle sich der Verteidiger bei der Staatsanwaltschaft melden. Sechs Jahre und neun Monate sind schließlich eine lange Bedenkzeit, dachte ich.

Schnell war dann auch der Verteidiger verschwunden, und ich steckte meine Unterlagen ein. Die Berufsrichter kamen aus dem Beratungszimmer und wollten in ihre Büros zurückkehren. Sie verabschiedeten sich von mir bis zum nächsten Mal. Ich erwiderte, dass es wohl kein nächstes Mal gebe, da ich zum Zivilgericht wechseln würde. Außerdem sei ich froh, mich nicht häufiger mit so furchtbaren Fällen beschäftigen zu müssen. Ein Beisitzer meinte nur, dass er den Fall gar nicht so schlimm finde. Sie würden noch ganz andere Sachen verhandeln. Es sei doch »nur ein schwerer Raub« gewesen. Ich schaute ihm nach, bis er hinter der Saaltür verschwand. Er war knapp zwei Meter groß, vielleicht Anfang vierzig und machte einen sehr ernsthaften, aber nicht unfreundlichen Eindruck. Zuerst wollte ich es ihm nicht abnehmen, dass er den Fall nicht so furchtbar fand. Wahrscheinlich wäre er am Anfang seiner Karriere genauso entsetzt über den Raub gewesen wie ich. Dann kamen die vielen Jahre als Beisitzer in der großen Strafkammer und |228|die Maßstäbe begannen sich zu verschieben. Unmerklich, als Teil dieses menschlichen Verdrängungsautomatismus, der uns die Möglichkeit gibt, selbst grauenvollste Erlebnisse zu überstehen. Die Bereitschaft, Leid nicht nur zu sehen und für die Strafzumessung zu taxieren, sondern wirklich mitzuempfinden, wird zugunsten des Erhalts des inneren Seelenfriedens zurückgedrängt. Es musste so sein. Wie sonst sollten zum Beispiel Staatsanwälte, die jahrelang ausschließlich für Vergewaltigung und Kindesmissbrauch zuständig waren, mit ihren Erlebnissen klarkommen? Wie könnten sonst Ärzte ihre Arbeit auf einer Krebsstation für Kinder bewältigen?

Noch ein paar Jahre bei der Staatsanwaltschaft und ich würde den Fall der Erika L. ähnlich wie der Beisitzer erleben. Als nicht besonders schlimm, eben nur ein Fall unter vielen. Die Stoiker im alten Athen hätten das als lobenswerten Schritt auf dem Weg zur inneren Unabhängigkeit angesehen. Aber ich sah nichts Erstrebenswertes darin, genauso wie die meisten Staatsanwälte und Strafrichter es sicher nur als notwendige Folge ihrer Arbeit betrachteten.

 

Als ich in mein Zimmer zurückging, war es schon später Nachmittag und die riesige Haupthalle lag bereits im Halbdunkel. Sie war fast genauso menschenleer wie der Zuschauerraum des Sitzungssaales während der Verhandlung des Raubfalles. Die Staatsanwaltschaft würde mit der Höhe der Strafe gut leben können, überlegte ich, und entschied, keine Revision gegen das Urteil anzuregen. Zwei oder drei Jahre Freiheitsstrafe mehr oder weniger für Sinan H. – brachte das etwas Entscheidendes? Ich bezweifelte es. Jedenfalls nicht für Erika L. Die Frage stellte sich, ob sie die |229|Höhe der Strafe oder die Strafe als solche überhaupt interessierte. Das war schwer zu beurteilen. Mehr als einen Mosaikstein in der Verarbeitung des Überfalls konnte das Urteil eigentlich nicht darstellen.

Ich rief Kriminaloberkommissar Konrad an. Ich hatte ihm versprochen, ihn über den Ausgang des Falles zu informieren. Mit der Strafe schien er zufrieden, zeigte sich aber enttäuscht, dass der Angeklagte die Namen der Mittäter nicht preisgegeben hatte. Ich konnte das verstehen, denn dort lag sicherlich der Schlüssel für die Aufklärung vieler weiterer Raubüberfälle.