|31|Café Jura

Die Weihnachtsmusik ging mir auf die Nerven. Unweit meines Zimmers gab die gemeinsame Musikgruppe der Staatsanwaltschaft und Gerichte ihr alljährliches Konzert. Genau genommen war ich nicht genervt, sondern sauer, dass in meinem Dienstzimmer nichts an Besinnlichkeit und Beschaulichkeit erinnerte und ich mir das Weihnachtskonzert zeitlich eigentlich nicht leisten konnte. Ich entschied mich aber, doch kurz hinzugehen. Ich war jetzt eine Woche bei der Staatsanwaltschaft. Immerhin war das befürchtete Aktenhochgebirge bisher ausgeblieben. Einen Großteil der täglich hereinflutenden Akten konnte ich mit Gegenzeichnung von Jens wieder aus dem Zimmer hinausbefördern. Es gab allerdings einen größer werdenden Berg von Akten, bei denen Jens meinte, dass hier eine gründliche Prüfung angesagt sei, ob eine Anklage (oder eine endgültige Einstellung) möglich sei. Das müsse man mal »in Ruhe machen«. Ich hatte den Verdacht, dass er dabei die anstehenden freien Tage um Weihnachten und Silvester im Sinn hatte. Ich hasste diesen Stapel mit den »Bauchweh-Akten«. Viele davon waren »Gürteltiere«. So werden mehrbändige Akten bei der Justiz genannt, die mit Aktenriemen zusammengeschnürt sind. Es gelang mir mittlerweile, die einfachsten Standardverfügungen halbwegs richtig hinzubekommen. Das Schreiben von Anklagen und Strafbefehlen hatte ich |32|schon während des Referendariats (vor dem zweiten Staatsexamen) gelernt. Von Jens hatte es bereits die eine oder andere Standpauke gegeben. Besonders schön war es, wenn er eine Verfügung von mir zerriss und vor meinen Augen im Papierkorb, genannt »Rundordner«, verschwinden ließ. Total aufbauend.

Insgesamt war es eine ganz schöne Umstellung, nach zweieinviertel Jahren selbstständiger Tätigkeit nun nichts mehr allein entscheiden zu können. Auch sonst gab es eine Menge Änderungen. Ich telefonierte jetzt öfter mit der Polizei. Ein Kriminalkommissar brauchte dringend einen richterlichen Beschluss per Fax. Also verfügte ich, die Geschäftsstelle solle den Beschluss an die Polizeidienststelle faxen. Kurz nachdem die Akte in der Geschäftsstelle eingetroffen war, stand die dort residierende Frau Henz entrüstet in der Tür. »Sie wollen ein Fax absenden? Das machen Sie mal schön selber, Raum Nummer so und so.« Wiehernd verschwand Frau Henz, während die Akte knallend auf meinem Tisch landete. Selbstverständlich wurde es eine längere Exkursion zu dem »Faxraum«. Unangenehm war, dass das Faxgerät offensichtlich viel zu tun hatte und die Absendung erst nach fünfzehn bis zwanzig Minuten stattfinden sollte. Ich könne meine Nummer dalassen und würde dann telefonisch über Erfolg oder Misserfolg unterrichtet. Klappe es nicht, müsse ich noch mal hingehen. Mit der Möglichkeit der Faxversendung ging ich in der Folgezeit sehr behutsam um.

Als Staatsanwalt hatte man morgens spätestens um 9 Uhr im Büro zu erscheinen. Wenn kurz nach neun das Assessorenzimmer (so wurde unser Zimmer von den Kollegen genannt, da Anna und ich noch in der Probezeit waren) aus |33|irgendwelchen Gründen noch abgeschlossen war, gab es ein Problem. Die ersten Kollegen versuchten mit der Kaffeetasse in der Hand die Tür einzurammen. Es wurde laut, einsetzende Koffeinentzugserscheinungen machten sich bemerkbar. Um 9:00 Uhr hatte der Kaffee im Assessorenzimmer zu dampfen. Ungeschriebene Regel. Am dritten Tag meinte Anna, es müsse noch Wasser geholt werden. Ich schnappte mir die Kaffeekanne, doch Anna zeigte nur auf unseren Garderobenschrank. Darauf standen zwei große Kanister. »Füll mal die Kanister auf, damit wir nicht so oft gehen müssen. Der nächste Wasserhahn ist nämlich eine Etage tiefer.« Grinsend sah sie zu, wie sich das Dromedar in Bewegung setzte.

Wir hatten kein Problem damit, für die Kollegen Kaffee zu kochen. Schließlich nervten wir sie im Gegenzug mit unseren Fragen. Ein Deal. Zwischen 9 Uhr und 10:30 Uhr verwandelte sich unser Zimmer in ein Café Jura. Nachdem z. B. Jörg gegangen war (mit dem wir uns fünfzehn Minuten über ein lustiges Erlebnis aus seiner letzten Sitzung unterhalten hatten), kam Mona hereingeschossen: »Habt ihr gehört, was bei Richter XY los war?« Zwischendrin versuchte ich gnadenlos meine Fallfragen an die Frau oder den Mann zu bringen. Das wirkte sicher penetrant. Die Kollegen wussten aber über die notstandsähnliche Lage der Anfänger Bescheid und versuchten Rede und Antwort zu stehen.

Nach knapp einer Woche hatte ich einen Vorstellungstermin bei meinem Hauptabteilungsleiter Dr. Ring, Herr über sechs Abteilungen und rund vierzig bis fünfzig Staatsanwälte. Es zeigte sich, dass er bestens über den Zustand meines Dezernats Bescheid wusste. »Na, Sie haben ja hundertfünfundvierig offene Verfahren.« Mit offenen Verfahren bezeichnet man staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten, die |34|noch keiner Abschlussverfügung (Anklage zum Strafgericht oder Einstellung des Verfahrens) zugeführt sind. Sie müssen im Hinblick darauf ausgewertet werden, womöglich stehen noch weitere Ermittlungen an. Offene Verfahren zu bearbeiten ist also der Hauptbereich der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit, doch zu viele offene Verfahren sind ein Problem. Irgendwann kann ein Staatsanwalt dann den hohen Aktenumlauf nicht mehr beherrschen und bewältigen. Es kommt zu Verzögerungen und Beschwerden von Polizei und Anzeigeerstattern (von den Beschuldigten weniger, es sei denn, sie sitzen in Untersuchungshaft). Hauptabteilungsleiter Dr. Ring erklärte mir, dass er die kritische Grenze bei etwa hundertfünfzig offenen Verfahren pro Staatsanwalt sehe. Er wisse, dass die Zahl bei Anfängern zunächst etwas höher sei. Sie müsse dann aber schnell wieder unter die 150er-Marke sinken. Alles andere seien seine »Problemkinder«. Bei mir sei das bestimmt nicht weiter schwierig, da ich den Kracht (Jens) als Gegenzeichner habe. »Der Mann hat ja ein Auge«, meinte Dr. Ring anerkennend. Ich versuchte mir die Augen von Jens in Erinnerung zu rufen. Dann machte es klick! und ich verstand, dass er so etwas wie Ermittlerinstinkt meinte.

Über die Rahmenbedingungen meines Handelns in Kenntnis gesetzt, ging ich entschlossen in mein Zimmer zurück. Ich sagte diesen offenen Verfahren den Kampf an und dachte dabei insbesondere an den »Bauchwehstapel«. Eine Weihnachtsbescherung ganz eigener Art. Ich würde nicht in den Problemkindergarten von Dr. Ring kommen! Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass dort Kuscheln angesagt war.