|165|Zeitvertreib in der Haftzelle

Sinan kehrte von dem Gespräch mit seinem Verteidiger in die Zelle zurück. Der hatte sich nicht auf eine Prognose hinsichtlich des Prozessausgangs festlegen wollen. Offensichtlich hatten sie seine DNA auf einer am Tatort sichergestellten Maske gefunden. Dass die DNA von ihm stammte, stand mit einer Wahrscheinlichkeit von 12 Millionen zu 1 fest. Der Verteidiger meinte, dass man auch hier wie in Chemnitz mit ständig zwischen den Tätern ausgetauschten Masken argumentieren müsse. Da die Maske aus dem Bein einer Jogginghose gemacht worden war, konnte die DNA ja vielleicht auch von dem Träger dieser Hose stammen? Außerdem hatte der Verteidiger nach intensivem Studium der Ermittlungsakte noch eine weitere Lücke entdeckt. Lächelnd weihte er Sinan ein.

Wieder in der Zelle zurück, war Sinan alles andere als zufrieden. Er blickte jedoch halbwegs optimistisch auf den kommenden Prozess. In der Zelle ließ es sich jetzt wieder besser leben. Schließlich waren sie nur noch zu zweit. Benjamin hatte ihn mächtig genervt. Er hatte auch nach ihrer ersten Auseinandersetzung seine arrogante Art beibehalten und, wie Rainer meinte, »seinen Bildungsvorsprung raushängen lassen«. Insbesondere Rainer war deshalb mehr als sauer. Sie hatten sich daher angewöhnt, »Benni« ein bisschen zu ärgern. Das war im Übrigen, wie sich herausstellen sollte, |166|ein ganz angenehmer Zeitvertreib. Zuerst hatten sie ihn ständig mit seiner »wichtigen Rolle« in der Weltpolitik aufgezogen. Das klappte aber nur bedingt. Mehr Spaß machte es da schon, ihn nachts nicht richtig schlafen zu lassen. Rainer mochte Lieder von Tom Jones und brüllte dem schlafenden Benjamin den Refrain einiger Lieder ins Ohr. Zwischendrin gab es auch einen Becher kaltes Wasser ins Gesicht. Diese »Gesamtumstände« der Haft, insbesondere der Schlafentzug, rüttelten an Bennis Nervenkostüm. In der zweiten Nacht fing er an zu weinen und sagte, dass er »nach Hause« wolle. Jetzt machte es Rainer erst richtig Spaß. Er war in seinem Element. Scheinbar fürsorglich sagte er, dass bald alles gut werde und Benjamin bestimmt zu seinen Eltern zurückkönne. Zwei Stunden später ließ er es sich aber nicht nehmen, das »Muttersöhnchen« erneut zu wecken. Am nächsten Tag durfte Benjamin die Haftanstalt verlassen. Er hatte bei einem Haftprüfungstermin die Tat gestanden. Der Richter setzte den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft gegen Auflagen aus. Als Benjamin dann seine Sachen aus der Zelle holte, wandte er sich mit finsterem Gesicht an Rainer und erklärte, dass er die Vorfälle hier in der Zelle öffentlich machen und über das Internet verbreiten werde. Rainer gelang daraufhin ein abschließendes und uninteressiertes Gähnen.