|19|Staatsanwalt in Moabit

Am 15. Dezember schien die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel herab. Das Wetter entsprach so gar nicht meiner Gemütslage. Ein trübes und graues Licht, bei dem man einen Elefantenbullen in hundert Metern Entfernung leicht übersehen kann, hätte besser gepasst. Aber auch die Passanten um mich herum, die mit mir vom U-Bahnhof Turmstraße in Richtung Kriminalgericht gingen, wirkten nicht fröhlich beschwingt. Wenn da mal nicht der eine oder andere Angeklagte dabei war. Kurz darauf erreichten wir das Kriminalgericht Moabit. König Friedrich Wilhelm I. hatte 1717 in der Gegend Hugenotten angesiedelt, die Maulbeerplantagen betreiben und Seidenraupen züchten sollten. Sie nannten das Gebiet in Anlehnung an das Alte Testament »Moabiter Land«. Die Gebietsbezeichnung überdauerte die Eingemeindung nach Berlin (1861), die Eingliederung in den Stadtbezirk Tiergarten sowie die jüngste Zusammenlegung zum Bezirk Berlin-Mitte. Mit Moabit verbindet man vor allem das Kriminalgericht und die angeschlossene Justizvollzugsanstalt. Wenn jemand sagt, der oder der befinde sich gerade in Moabit, ist damit in der Regel ein Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt (nicht als Angestellter oder zu Besuch) gemeint.

Allein die Straßenfront des Kriminalgerichts zur Turmstraße hat die Länge eines kleinen Straßenzugs. Während |20|ich in Richtung Hauptportal an dem Gebäude mit den sechzig Meter hohen Türmen entlangging, sah ich zu den Fenstern hoch, ob vielleicht irgendwo jemand nach dem neuen Staatsanwalt Ausschau hielt. Das war jedoch ziemlich unwahrscheinlich. Die Staatsanwaltschaft Berlin, die zum großen Teil in dem Gebäude des Kriminalgerichts sitzt, ist die größte in Europa. Ihr gehören ungefähr dreihundertdreißig Staatsanwälte an. Anders ausgedrückt: Man stelle sich alle Staatsanwälte des Bundeslandes Hessen in einem Gebäude vor, dazu die vielen Strafrichter und weiteren Bediensteten, insgesamt etwa fünfzehnhundert Menschen. Aus den Fenstern blickte niemand heraus. Nur die großen von Bendorff geschaffenen Skulpturen »Gesetz« (mit einem dicken Gesetzbuch) und »Macht« (bärtig, mit einem großen Schwert) schauten mich von der Fassade über dem Hauptportal Ehrfurcht gebietend an. Wie magisch sehen sie dem Passanten direkt in die Augen und zwingen die Blicke all jener nieder, die kurz vor dem Betreten des Haupteingangs noch ein letztes Stoßgebet Richtung Himmel schicken wollen.

 

Als das Kriminalgericht nach vierjähriger Bauzeit 1906 eröffnet wurde, war es die Attraktion in Berlin. Dies galt in vielerlei Hinsicht. Architektonisch war es eine Meisterleistung der Architekten Rudolf Mönnich und Carl Vohl aus der preußischen Bauverwaltung. Der monumentale Bau gilt als Wahrzeichen des Wilhelminismus und wurde schon damals als »kaiserlicher Faustschlag ins Gesicht der Moabiter Arbeiterklasse« kritisiert. Er war der erste Stahlbetonbau auf dem europäischen Festland und das erste elektrisch erleuchtete Gebäude Berlins. Ein eigenes Kraftwerk erzeugte die benötigte Energie, und die Wasserversorgung wurde durch |21|einen hundertzwanzig Kubikmeter fassenden Wasserbehälter in einem achtundvierzig Meter hohen Kuppelbau sichergestellt. Der Gebäudekomplex zieht sich zweihundertzehn Meter in die Länge und ungefähr neunzig Meter in die Tiefe. Die Baukosten beliefen sich auf die damals unglaubliche Summe von 8 597 900 Reichsmark (immerhin ein gutes Drittel der Baukosten des Reichstages).

 

Nachdem ich die Schleuse im Eingangsbereich passiert hatte, stand ich in der gigantischen Mittelhalle des Kriminalgerichts. Sie ist mit neunundzwanzig Metern immerhin drei Meter höher als das Brandenburger Tor und siebenundzwanzig Meter breit. Auf zwölf gewaltigen Pfeilern ruhen die Gewölbe des Mittelteils und der Seitenschiffe. Der Bauleiter und königliche Baurat Carl Vohl beschrieb 1908 die Mittelhalle als den »vornehmsten Bau des Gebäudes«. Die Umgänge sind mit Skulpturen verziert, welche die »Religion«, »Gerechtigkeit«, »Streitsucht«, »Friedfertigkeit«, »Lüge« und »Wahrheit« symbolisieren. Die »Lüge« zischt mit vorgehaltener Hand und Fuchskopf zur »Streitsucht« hinüber, aus deren Kopf kiefersperrende Schlangen wachsen.

Staunend und ganz klein tappte ich in die Halle mit den vielen Gängen und überlegte, wie ich das Personalbüro, Zimmer 424, finden könnte. Es dauerte zwanzig Minuten, weil ich mich schämte, immer wieder Passanten nach dem Weg zu fragen, und stattdessen auf Lageskizzen an den Wänden zurückgriff. Im Grunde kann man das Problem so beschreiben: Das Kriminalgericht hat drei bzw. vier (was den Saalbau betrifft) Etagen, die über siebzehn teilweise versteckte Treppen bzw. Treppenhäuser zu erreichen sind. Drei |22|Längsgänge, die man sich merken muss, führen wie Hauptschlagadern von Ost nach West. Allerdings durchkreuzen fünf bis sechs Quergänge jede Etage. Und am Übergang zum Saalbau gibt es Zwischenetagen. Auch die Raumnummerierungen helfen nicht wirklich weiter, da die erste Ziffer keinen Hinweis auf die Etage enthält. Geht man beispielsweise in der Mittelhalle in den zweiten Stock, so findet man linker Hand nicht etwa Raum 221, sondern 521. Folgt man dem Gang, etwa um Raum 530 zu suchen, so stellt man fest, dass an Raum 529 die 545 anschließt. Jetzt darf man nicht verharren und auf eine Eingebung hoffen, wo das »verschwundene Zimmer« sein könnte. Richtig ist, bis 526 zurückzugehen und dort in einen Seitengang zu biegen, wo nach zehn Metern eine Tür mit der Nummer 530 kommt.

Bereits bei der Eröffnung des Kriminalgerichts schrieb die ›Norddeutsche Allgemeine Zeitung‹ im April 1906 fassungslos: »Um sich in dem Labyrinth von Korridoren, Treppen und Seitengängen zurechtzufinden, wird es eines längeren Studiums bedürfen.« Um die Verwirrung perfekt zu machen, baute man in der Folgezeit fleißig an. So entstand Ende der fünfziger Jahre der erste Erweiterungsbau (C-Bau) und 1962 der zweite (D-Bau). Ende der sechziger Jahre wurde an der Rückseite des Altbaus ein dritter Erweiterungsbau fertiggestellt, 1980 der vierte (E-Bau), und 1991 konnte schließlich der fünfte Erweiterungsbau (B-Bau) eingeweiht werden.

So war es also 9.20 Uhr (zwanzig Minuten Verspätung), als ich die Tür zum Personalbüro öffnete.

 

Zwei Damen begrüßten mich freundlich und baten mich, Platz zu nehmen. Sie stellten zwei dicke Aktenordner auf |23|den Tisch und wiesen mich darauf hin, dass zunächst diese allgemeinen Dienstanweisungen durchzulesen und jede einzelne durch Unterschrift zu quittieren sei. Schon nach den ersten Seiten merkte ich, dass es sich teilweise um sehr alte Vorgaben zu Verhalten bei Feueralarm etc. handelte und ich ungefähr einen Tag brauchen würde, um dies alles genau durchzulesen. Ich versuchte mich deshalb überblicksartig durchzukämpfen und erklärte nach eineinhalb Stunden, dass ich fertig sei. Später hörte ich, es gebe eine Dienstanweisung, wonach Alkohol »nur in Maßen« erlaubt sei. Gesehen habe ich sie aber nicht.

Die Damen beschrieben mir, welches Zimmer für mich vorgesehen war, und nannten mir die Raumnummer des für mich zuständigen Oberstaatsanwalts, bei dem ich mich gleich melden sollte.

Jede Abteilung bestand aus etwa sechs bis acht Staatsanwälten, hatte einen Gruppenleiter und einen Oberstaatsanwalt als Abteilungsleiter. Meist waren sechs Abteilungen unter der Führung eines Hauptabteilungsleiters zusammengefasst, der wiederum dem Behördenleiter unterstand. Da die Staatsanwaltschaft Berlin so groß ist, trug er zu meiner Zeit sogar die Bezeichnung Generalstaatsanwalt. Den einzelnen Abteilungen waren unterschiedliche Aufgaben zugewiesen. Für Delikte wie Brandstiftung, organisierte Kriminalität, Jugendkriminalität, Drogen, Sexualdelikte, Staatsschutz, Tötungsdelikte oder Ähnliches waren Spezialabteilungen zuständig. Alle anderen Fälle kamen in die sogenannten Buchstabenabteilungen. Solch einer wurde ich zugeteilt. Meine Abteilung war für die Buchstaben Ce bis Do zuständig. Hieß der in Berlin wohnhafte Beschuldigte also Dorn und waren ihm keine Spezialdelikte, sondern |24|»nur« allgemeine Straftaten vorzuwerfen, landete sein Fall in unserer Abteilung.

 

In der rekordverdächtigen Zeit von zehn Minuten hatte ich die Tür meines Oberstaatsanwaltes gefunden. Oberstaatsanwalt Berndt bat mich freundlich herein. Er stand ein Jahr vor seiner Pensionierung, war etwas beleibt und schaute mich über den Rand seiner Brille, die ihm weit auf die Nase gerutscht war, mit einem verschmitzten Lächeln an. »Da sind Se ja. Hamse Ihre Kollegen und Ihr Zimma schon jesehen?«, fragte er mit starkem Berliner Akzent. Das anhaltende und irgendwie listig wirkende Lächeln irritierte mich etwas, ebenso die große Tüte voller Überraschungseier (ohne Schokolade), die auf seinem Tisch stand. Später hatte ich ausreichend Gelegenheit herauszufinden, dass der Oberstaatsanwalt ein sehr umgänglicher und gutmütiger Typ war, der seine gestressten Mitarbeiter äußerst fair führte und keine Zankereien aufkommen ließ. Keiner seiner Staatsanwälte wollte freiwillig in eine andere Abteilung wechseln (und die Überraschungseier sammelte er für seinen Enkel). Nachdem er mich den Mitarbeitern der Geschäftsstelle vorgestellt hatte, gingen wir in die Zimmer der anderen Staatsanwälte der Abteilung. Alle boten mir sofort das Du an, was ich sehr nett fand. Da waren Steffen und Jörg, Gerlinde (mit Adelstitel), Mona, Anna (auch eine abgeordnete Proberichterin) und Jens (unser Gruppenleiter). Ich kam mit Anna in ein Zimmer, das vielleicht fünfzehn bis sechzehn Quadratmeter groß war.

Man stellt sich die Arbeit des Staatsanwalts, geprägt durch Film und Fernsehen, vielleicht so vor: Der Staatsanwalt sitzt in einem geräumigen Büro an einem großen, glänzend |25|polierten Holztisch. Im Zimmer befindet sich nur eine Akte, die fein säuberlich vor ihm auf dem Tisch liegt. Jetzt steht er auf und versucht mit seinem Golfschläger ein paar Bälle zu putten, während er über die Freisprechanlage mit einer Geschädigten telefoniert: »Seit einer Woche beschäftige ich mich ausschließlich mit Ihrem Fall. Ich halte es für taktisch klug, jetzt so und nicht anders vorzugehen. Morgen habe ich noch einmal eine Besprechung mit Kriminalkommissar XY zu diesem Punkt angesetzt. Wir reden dann noch mal ausführlicher darüber, wenn ich von der Tatortbesichtigung zurück bin.« Wenn der Leser solch ein Bild vor Augen hat, sollte er es in Gedanken zerreißen und in den Papierkorb werfen. Die Wirklichkeit im Kriminalgericht Moabit sieht doch etwas anders aus.

Ich weiß bis heute nicht, wann das Zimmer zuletzt renoviert worden war. Vielleicht vor dreißig Jahren. In der Mitte standen zwei alte zerkratzte Schreibtische aus Pressholz, hinter denen wir kaum Platz hatten. Es gab noch einen ähnlich prächtigen Garderobenschrank und einen kleinen Tisch, auf dem eine Kaffeemaschine stand, sowie einen kleinen Abstelltisch für die zu bearbeitenden Akten (den sogenannten Aktenbock). Eine Verbindungstür, die zum Glück nicht in unsere Richtung aufschwang, führte ins Nachbarzimmer. Dort saß Jens. Da die Tür meistens offen stand, war es vom Gefühl her nicht ganz so beengt. Die alte Heizung mit Rohren über Putz war in einem sehr dunklen Braunton gestrichen und nicht zu regulieren.

»So, denn können Se ja jleich anfangen. Se wissen ja, dit der Jens Ihr Jejenzeichna iss.« Herr Berndt wankte gemütlich Richtung Ausgang. Die nächsten sechs Monate bedurfte jede Verfügung, die ich (oder ein anderer Anfänger) |26|veranlasste, der Zweitunterschrift eines erfahrenen Staatsanwalts. Ohne sein Okay ging nichts.

Eigentlich wollte ich mit Jens besprechen, wie ich anfangen sollte. Doch Anna erklärte, der sei in einer Strafverhandlung und komme erst am Nachmittag wieder. Ich könne mich ja schon mal an den ersten Akten versuchen.

Bei einer Ermittlungsakte gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten der weiteren Sachbehandlung. Entweder man klagt an (beziehungsweise beantragt einen Strafbefehl), stellt das Verfahren ein oder ordnet weitere Ermittlungen durch die Polizei an. Auf dem Aktenbock thronte ein gewaltiger Stapel, der zwar nicht den Alpen, aber doch einem gewaltigen Vorgebirge glich. Womit sollte ich da bloß beginnen? Schockiert erkundigte ich mich bei Anna, warum denn all die Akten über Tage dort liegengeblieben seien. Anna zuckte unschuldig die Schultern und erklärte, dies sei der normale Akteneingang eines Tages. Sie schaute mich an, wobei sich ihre Augen zu Schlitzen zusammenzogen, und sagte: »Morgen kommen bestimmt wieder genauso viele.« Fassungslos starrte ich auf das Gebirge. Anna lachte und hatte ihren Spaß: »Mach dir nichts draus. Das geht mir genauso. Ich bin schon ein Dreivierteljahr hier und habe auch solche Stapel. Ich komme morgens um acht und bleibe bis abends um acht. Trotzdem werde ich nicht richtig fertig. Wie die anderen das schaffen, ist mir ein Rätsel.«

 

Am späten Nachmittag konnte ich Jens meine Vorschläge für einen Teil der Akten präsentieren. Nicht einer passte. Hier fehlte das, da war es die falsche Verfügung, beim nächsten waren die Formalien nicht eingehalten und so weiter. Ich begann mir Musterverfügungen von Jens als Standards |27|anzulegen und versuchte seine Anordnungen umzusetzen. Um 21 Uhr schlich ich durch die nun dunkle und menschenleere Mittelhalle zum Ausgang. Ich war völlig fertig von meinem ersten Arbeitstag. Nicht eine Ermittlungsakte von mir hatte es – mit Gegenzeichnung von Jens – zurück zur Geschäftsstelle geschafft. Das musste morgen anders werden, denn da war bereits der nächste Aktenstapel zu erwarten. Wenn ich nicht aufpasste, konnte sonst leicht ein Hochgebirge entstehen.