|113|Wochenenddienst im Bereitschaftsgericht

Maja kam nach einem Monat schon ganz ordentlich mit ihrem Dezernat zurecht. Sie hatte ein Gespür dafür, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, und setzte die Vorgaben von Jens geschickt um. Auch sie hatte bereits ihren Antrittsbesuch bei Dr. Ring hinter sich, und ich hatte nicht das Gefühl, dass demnächst ein weiterer Termin notwendig war. Ein Vorteil für sie war, dass sie mich jetzt wieder bis in die Abendstunden befragen konnte. Die zusätzliche Arbeit durch die Vertretung des halben Dezernats von Gerlinde nahm mich ordentlich in Anspruch. Um den 12. Mai herum erwähnte Gerlinde in der Kaffeerunde zu meinem Entsetzen, dass der Abschluss der beiden Schleuserverfahren doch etwas länger als die ursprünglich veranschlagten zwei Wochen, und zwar »voraussichtlich« bis Ende Mai, dauern würde. In der Folgezeit entstanden wilde Spekulationen zwischen Mona und mir, was das »voraussichtlich« wohl zu bedeuten hatte.

 

Am darauffolgenden Wochenende hatte ich meinen ersten Wochenenddienst. Eine Außenstelle des Kriminalgerichts Moabit ist das Bereitschaftsgericht am Tempelhofer Damm. Im Grundgesetz steht geschrieben, dass ein Beschuldigter unverzüglich, spätestens mit Ablauf des Tages nach seiner Festnahme, dem Ermittlungsrichter vorzuführen ist, damit |114|ein Richter entscheiden kann, ob die Freiheitsentziehung fortgesetzt werden soll. Wird ein Beschuldigter also am Freitagabend aufgegriffen und soll er wegen eines dringenden Tatverdachts und Flucht- oder Verdunklungsgefahr in Haft bleiben, so muss darüber ein Richter bis spätestens Sonnabend 23.59 Uhr entscheiden. Deshalb ist es erforderlich, dass einige Richter am Wochenende erreichbar sind. Gleiches gilt für Staatsanwälte, welche die Untersuchungshaft bei dem Ermittlungsrichter beantragen.

Auch wenn es nicht um die Frage geht, ob jemand verurteilt wird oder nicht, hat die Entscheidung über die Anordnung der Untersuchungshaft erhebliche Bedeutung. Es kommt immer wieder vor, dass Beschuldigte den Hauptverhandlungstermin in Untersuchungshaft abwarten müssen und dann freigesprochen werden. Eine mehr als unangenehme Sache für den – letztlich zu Unrecht – Beschuldigten. Er kann dann zwar nach einem Haftentschädigungsgesetz einen finanziellen Ausgleich verlangen. Die Beträge werden nach festen Tagessätzen berechnet und können die erlittenen Schäden, was die Psyche und das Ansehen im Familien- und Freundeskreis anbelangt, nicht wirklich kompensieren. Abgesehen von nachgewiesenen Vermögensschäden wurde zu meiner Zeit pro angebrochenem Tag ein Betrag von elf Euro gezahlt.

Andererseits tauchen Beschuldigte, die nicht in Untersuchungshaft genommen werden, häufig unter und versuchen sich so der Strafverhandlung zu entziehen. Nach ihnen muss dann mit erheblichem Aufwand gefahndet werden. Manchmal bleiben sie auch für immer verschwunden.

Ich begann meinen Dienst am Samstag um 10 Uhr in den Räumen des Bereitschaftsgerichts. Dort erwartete mich |115|bereits ein größerer Stapel Ermittlungsakten, und gleich das erste Verfahren hatte es ziemlich in sich. Zwei junge Männer im Alter von 22 und 23 Jahren aus Berlin-Marzahn, einem Bezirk am östlichen Rand der Stadt, waren ganz dick ins Drogengeschäft eingestiegen. So heftig, dass die Beamten des mobilen Einsatzkommandos, welches die beiden observierte, an den Abhörgeräten riesige Ohren bekamen. Der Handel lief nur noch in Größenordnungen von Kilogramm. Ein Kilogramm Haschisch hier, ein Kilogramm Marihuana da, und das eine oder andere Kilogramm Heroin war auch dabei. Schon beim Lesen der Ermittlungsakte konnte einem schwindlig werden. Und es war nicht erkennbar, wie die beiden da hineingeraten waren. Sicher, ihre Bundeszentralregisterauszüge waren nicht völlig leer. Beide hatten Jugendstrafen erhalten. Dies betraf jedoch Fälle wie Ladendiebstahl, Erschleichen von Leistungen (Schwarzfahren) und Besitz geringer Mengen Betäubungsmittel (das konnten Partydrogen oder Ähnliches sein). Man konnte nicht sagen, dass das Nichtigkeiten waren. In einer Großstadt wie Berlin sind derartige Vorstrafen jedoch nichts Ungewöhnliches. Es deutete jedenfalls nichts darauf hin, dass die beiden einen der großen Fahndungserfolge des Drogendezernats im laufenden Jahr darstellen würden.

Nachdem die Polizei mitbekommen hatte, dass die beiden soeben Betäubungsmittel in den oben genannten Größenordnungen von Lieferanten übernommen hatten, entschloss sie sich zum Zugriff.

Sie wurden während der Fahrt auf der Autobahn durch ein Sondereinsatzkommando festgenommen. Der schnelle und harte Eingriff hätte der Fernsehserie über die Autobahnpolizei ›Alarm für Cobra 11‹ alle Ehre gemacht.

|116|Manchmal, wenn die Täter als sehr gefährlich und stark bewaffnet eingeschätzt werden, entscheidet man sich, diese während der Autofahrt zu überwältigen, weil dann die Gefahr sinkt, in einen Hinterhalt zu geraten. Die Einsatzkräfte können sich darauf konzentrieren, was im Innenraum des Fahrzeugs passiert. Da werden Autos ausgebremst, seitlich gerammt oder in die Leitplanke einer Autobahn abgedrängt.

Sie fanden zwei Kilogramm Haschisch und ein Kilogramm Marihuana in einem Rucksack im Kofferraum. Konnte man den Ermittlungsakten Glauben schenken, so waren die Beschuldigten von dem Zugriff im wahrsten Sinne des Wortes »überwältigt«. Es gab keinerlei Gegenwehr und beide weinten vor Schreck. In der anschließenden Vernehmung zeigten sich beide reumütig und geständig. Einer erklärte unter Tränen, dass er nach Hause zu seinen Eltern wolle. Ob die Männer vom Sondereinsatzkommando entsprechend einfühlsam reagieren konnten, ergab sich aus der Akte nicht. Sie waren ja eher auf harte Typen trainiert und nicht auf so etwas.

Beim Lesen der Ermittlungsakte wurde klar, dass Untersuchungshaft beantragt werden musste. Es war nicht nur die erhebliche Straferwartung, die eine Fluchtgefahr nahelegen konnte. Man wusste nicht, ob und wie viel Geld die Beschuldigten im Drogengeschäft bereits verdient und für »harte Zeiten« beiseitegelegt hatten. Sie hatten außerdem weder Lieferanten noch Abnehmer benannt, sodass auch die Annahme von Verdunklungsgefahr nicht fernlag.

Als die beiden später nacheinander dem Ermittlungsrichter vorgeführt wurden, ging ich mit ins Richterzimmer. Sie zeigten sich geständig und gaben noch zwei oder drei weitere Taten zu, die sie bereits gegenüber der Polizei erwähnt hatten. |117|Zu den Abnehmern und Lieferanten schwiegen sie sich weitgehend aus beziehungsweise erklärten, dass alles völlig anonym abgelaufen sei. Ich überlegte mir, dass es vielleicht sogar eine »gesundheitsfördernde« Maßnahme war, keine Namen zu nennen. Angesichts der gefundenen Mengen ging es hier ja schon um richtige Großhändler. Die konnten sicherlich schnell allergisch reagieren. Beide Beschuldigten erklärten dem Ermittlungsrichter nochmals nachdrücklich, dass sie jetzt aus ihren Fehlern gelernt hätten, nie wieder Drogen anfassen würden und nach Hause wollten.

Der Ermittlungsrichter erklärte ihnen, dass aufgrund des gewerbsmäßigen Handels mit großen Mengen eine erhebliche Strafe zu erwarten sei. Außerdem sei noch nicht klar, ob sie vielleicht sogar als Mitglieder einer Bande anzusehen seien. Dann wäre eine Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren einschlägig. Das war für die Beschuldigten zu viel. Es gab ein Zucken in den Mundwinkeln. Unter Tränen baten sie nochmals um Freilassung. Einer der beiden fragte dann noch, ob er jetzt »nach Kieferngrund« komme. Da dies die Untersuchungshaftanstalt für Jugendliche ist, verneinte der Richter die Frage natürlich, schließlich waren sie bei Tatbegehung bereits 21 Jahre alt. Sie kämen jetzt in die Justizvollzugsanstalt Moabit. Der Beschuldigte entgegnete völlig fassungslos, das ginge nicht, keinesfalls dürfe er da hingebracht werden. Die Zustände dort würde er nicht überleben. Es gebe nur eine Stunde Hofgang, den Rest des Tages sei man in eine kleine Zelle eingesperrt und so weiter. Nach einer Weile fragte der Ermittlungsrichter erstaunt, woher er sich so gut mit den Verhältnissen in der Justizvollzugsanstalt auskenne. Sein Cousin arbeite dort und habe ihm schon öfter erzählt, wie schlimm die Zustände seien, erwiderte |118|der Beschuldigte. Der Richter räusperte sich und meinte nur, dass er mal besser früher über die Worte seines Cousins nachgedacht hätte.

 

Der Samstag zog sich hin und endlich war ich bei der letzten Ermittlungsakte für diesen Tag angelangt. So froh ich war, ans Ende zu kommen, so widerlich war der Inhalt der Akte. Die Mietwohnung des fünfundvierzigjährigen Beschuldigten befand sich in unmittelbarer Nähe einer Schule für lernschwache Kinder. Sie lag quasi auf dem Schulweg. Nachmittags, wenn die Kinder von der Schule kamen, versuchte der Beschuldigte sich auf der Straße mit Jungen im Alter von neun bis zwölf Jahren anzufreunden. Er verschenkte auch häufiger Geld für Eis oder Süßigkeiten. Die Kinder, die oft aus ärmeren Verhältnissen stammten, nahmen das Geld gerne an. Er hatte sich eine Spielkonsole mit großem Bildschirm angeschafft und lockte die Jungen erfolgreich in seine Wohnung. Dort sollten sie es sich vor der Playstation bequem machen und sich auch ein bisschen ausziehen. Dann machte er sich an die Kinder ran. Es geschah eher beiläufig, so als ob es etwas ganz Normales wäre. Obwohl die Jungen versprechen mussten, nichts zu verraten, bekamen die Eltern es doch relativ schnell heraus. Der Beschuldigte wurde festgenommen. In der Ermittlungsakte fanden sich fünf überzeugende Aussagen von Kindern, die über mehrere Seiten gingen. Sie waren sehr detailliert und untereinander stimmig. Dass es sich um ein vorher abgesprochenes »Fantasieprodukt« der lernschwachen Kinder handelte, von dem sie selbst unter der besonderen Situation der Vernehmung nicht abwichen, war ziemlich fernliegend.

Ich beantragte die Anordnung der Untersuchungshaft |119|und ging mit ins Richterzimmer, als der Beschuldigte vorgeführt wurde. Dieser zeigte sich erstaunt über die Vorwürfe. Ja, die Kinder seien in seiner Wohnung gewesen. Aber das seien doch nur dumme Jungs. Denen könne man nicht glauben. Es würde doch niemand für einen Euro oder die Benutzung der Playstation so etwas mit sich machen lassen. Mir wurde richtig übel. Für mich war er so schuldig wie die Nacht schwarz ist. Aber auch der Ermittlungsrichter hatte die Aussagen der Kinder genau gelesen und ordnete die Untersuchungshaft an. Der Beschuldigte erklärte lauthals, dass dies nicht ginge und er jetzt einen Verteidiger wolle. Der Richter zeigte eher kühl auf ein Formular, auf dem Telefonnummern des Anwaltsnotdiensts standen. Gleichzeitig fragte er, ob eine Haftprüfung beantragt werden solle, was der Beschuldigte bejahte.

Nicht allen Beteiligten gelang es, auf die Tatvorwürfe äußerlich emotionslos zu reagieren. Als der Gerichtswachtmeister den Beschuldigten abführte, meinte er zu ihm, er solle in der Untersuchungshaft nur sagen, warum er da wäre. Man würde sich dann schon um ihn »kümmern«. In dem Moment schaltete sich der Richter nochmals ein und meinte zum Beschuldigten, dass er das besser bleiben lassen solle.

In der Haftanstalt gibt es nämlich unter den Häftlingen klare Hierarchien, die auch mit den Tatvorwürfen zu tun haben. Ganz oben stehen besonders »intelligente« Täter, denen beinahe ein Coup mit dem ganz großen Geld ohne jegliche Gewaltanwendung gelungen wäre. Die Tatvorwürfe jedoch, die dem Beschuldigten gemacht wurden, rangieren ganz unten. Viele Häftlinge sind selbst Familienväter. Täter, die wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verhaftet oder verurteilt werden, haben es da oft nicht einfach.

 

|120|Gern hätte ich erfahren, was später im Strafverfahren gegen diese Beschuldigten herauskam. Allein die Zeit fehlte. Kam ich in mein Zimmer, vertiefte ich mich sofort in die dort reichlich vorhandenen Ermittlungsakten, versank darin, immer die nächste Akte schon im Blickfeld. Keine Zeit für die zurückliegenden Fälle, die einer nach dem anderen durch eine imaginäre Hintertür mit der Überschrift »Erledigt« verschwanden und dort in einer grauen Masse versackten.