|71|Wodka und seine Wirkungen

Sinan H. freute sich schon auf das Essen mit seinen Freunden. Es war immer wieder nett, mit seinen algerischen Landsleuten zusammenzutreffen. Sehr familiär war das und ein bisschen wie in der Heimat. Er hatte versprochen, eine Flasche Wodka mitzubringen, und ging in einen kleinen Einkaufsmarkt an der Straßenecke. In Leipzig fühlte er sich recht wohl.

Anfangs hatte er sein Geld auf dem Bau verdient, das war jedoch ziemlich anstrengend. Dann fand er eine Stelle als Kellner in dem Restaurant eines Landsmannes. Alles schwarz natürlich, da er ja keine Arbeitserlaubnis hatte. Sollte man ihn erwischen, musste er mit der erneuten Abschiebung nach Algerien rechnen. Aufpassen war also angesagt. Im Lokal hatte er stets gültige Papiere eines anderen Kellners bei sich, der dort nur wenige Stunden in der Woche aushalf. Für die übrige Zeit hatte er sich französische Papiere fälschen lassen. Die mussten gut sein und waren nicht billig. Zum Einsatz kamen sie allerdings noch nicht. Im Restaurant verdiente er ganz ordentlich. Er lebte sehr sparsam und hatte vor, früher oder später nach Algerien zurückzukehren. Mit den Raubüberfällen hatte er schon seit einiger Zeit Schluss gemacht. Damit hatte er letztlich auch nicht viel eingenommen. Außerdem war es gefährlich und er mit achtunddreißig nicht mehr der Jüngste.

|72|In einem hinteren Regal des Einkaufsmarkts fand er den gesuchten Wodka. Auf dem Weg zur Kasse überlegte er noch mal. 14,99 Euro für eine Flasche war ganz schön viel. Er drehte sich um und sah niemanden. Schon war die Flasche unter seiner Jacke verschwunden. Er verließ den Einkaufsmarkt und war in Gedanken bereits wieder bei dem bevorstehenden Essen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. »Bleiben Sie bitte mal kurz stehen.« Schnell riss er sich los und wollte fliehen, doch der andere stellte ihm ein Bein, sodass er stürzte. Die Wodkaflasche landete auf einem Rasenstück. Wütend warf er sich herum. Es gelang ihm, seinem Gegenüber in den Bauch zu treten. Als der Mann zusammensackte und nach Luft schnappte, wandte sich Sinan zur Flucht. Doch dann zögerte er einen Moment, machte noch mal einen Schritt zurück und schnappte sich die Flasche. Als er sich aufrichtete, um loszurennen, war da plötzlich noch ein anderer Mann, der von der Seite kam. Etwas Hartes traf ihn am Kinn. Er war einen Moment benommen, und als er zu sich kam, hatte man ihm bereits die Hände mit Klebeband hinter dem Rücken gefesselt.

 

Wegen 14,99 Euro! Und dass sie ihn auch noch mit Klebeband außer Gefecht gesetzt hatten. Mit seinen eigenen Waffen! Sinan trat wütend mit seinem Schuh, aus dem der Schnürsenkel entfernt worden war, gegen die Wand der Arrestzelle. Nach einer Weile beruhigte er sich. Er hatte einen Fehler gemacht. Aber noch war nichts passiert. Nach seinen französischen Papieren war er nicht vorbestraft. Wegen dieser Kleinigkeit würden sie ihn nicht dabehalten.

Als die zwei Polizeibeamten wenig später die Zellentür öffneten, war er sich relativ sicher, dass sie ihn jetzt wieder |73|laufen lassen würden. Er beschwerte sich nochmals lauthals über die unangemessene Behandlung und darüber, dass man ihn wegen einer Bagatelle festhielt. Einer der beiden entschuldigte sich höflich für die Unannehmlichkeiten, der Ermittlungsrichter sei aber nicht früher zu erreichen gewesen. Sie würden ihn jetzt sofort hinfahren.

Der Ermittlungsrichter erklärte ihm, dass es nicht um ein Kavaliersdelikt gehe. Er sei eines räuberischen Diebstahls verdächtig, weil er Gewalt angewendet habe, um im Besitz der gerade gestohlenen Wodkaflasche zu bleiben. Der werde, wie ein Raub, in jedem Fall mit einer Freiheitsstrafe geahndet. Auf die Frage von Sinan, ob er jetzt freikomme, räusperte sich der Richter und wies darauf hin, dass es ein kleines Problem mit seinen Papieren gebe. Er ordnete Untersuchungshaft an und meinte, ein Blick aus dem Fenster müsse für die nächste Zeit reichen. Sinan war sofort hellwach. Wenn sie seine wahre Identität herausfanden, gab es eine höhere Strafe (da er einschlägig vorbestraft war) und danach würden sie ihn sicher abschieben. Wachsam beobachtete er die Beamten, die ihn zur erkennungsdienstlichen Behandlung (Fingerabdrücke, Speichelprobe etc.) und anschließend in die Untersuchungshaftanstalt fuhren. Eine Chance zur Flucht erhielt er nicht. Sie waren immer mindestens zu zweit, kräftig und einen Kopf größer als er. Außerdem trugen sie Turnschuhe.