|176|Im Geheimgang

Endlich war es so weit. Die Wachtmeister holten Sinan in seiner Zelle ab. Der erste Prozesstag war gekommen. Alles war besser als das stundenlange Herumsitzen in der Untersuchungshaft. Natürlich fesselten sie ihm wieder Hände und Füße. Rainer klopfte ihm noch mal aufmunternd auf die Schulter und dann ging es los. Mit einer weiteren Fluchtmöglichkeit auf dem Weg zum Gerichtssaal rechnete er nicht.

Das Kriminalgericht Moabit war diesbezüglich sowieso der denkbar schlechteste Ort für einen Ausbruchsversuch. In dem sehr dicken Mauerwerk des Kriminalgerichts hatte man ein verdecktes Gängesystem angelegt, das bis heute als einmalig gilt und allein aus Kostengründen wohl niemals wieder so gebaut werden könnte. Jeder kennt die Bilder, wenn Straftäter aus der Untersuchungshaft in den Gerichtssaal geführt werden. Meist verbergen sie ihr Gesicht, weil sie nicht im Fernsehen gezeigt werden wollen. Solche Aufnahmen gibt es aus dem Kriminalgericht Moabit nicht. Geheimgänge reichen von der Untersuchungshaftanstalt bis direkt in die großen Sitzungssäle im Saalbau. Dieses verborgene Wegesystem ist teilweise an den brückenartigen Überführungen an der Decke der hohen Flure des Kriminalgerichts zu erkennen. Häufig bezeichnet man sie als »Seufzerbrücken«, weil sie mit ihren kleinen vergitterten |177|Fenstern an die besagte zugemauerte Brücke in Venedig erinnern, die den Dogenpalast mit den »Prigioni nuove« (dem neuen Gefängnis) über einen acht Meter breiten Kanal, den Rio di Palazzo, verbindet. Vom Dogenpalast kommend mussten die Gefangenen die Brücke auf ihrem Weg in die dunklen Verliese des Kerkers passieren. Denkt man an die letzten Blicke, welche die Häftlinge von dort auf die Weite der glitzernden Lagune werfen konnten, wird schnell klar, woher der Name der Brücke stammt. Stellt man sich den Gerichtsflur vor den großen Sitzungssälen im Kriminalgericht als den Kanal vor, sind die Übereinstimmungen in den räumlichen Ausmaßen verblüffend.

Bei Verhandlungsbeginn im Kriminalgericht öffnet sich dann plötzlich unauffällig eine seitliche Eichentür und der Angeklagte steht direkt im Sitzungssaal. Ohne jeglichen vorherigen Kontakt zu Zeugen oder aufgebrachtem Publikum. Eine saubere Idee anno 1906. Wenn der Verurteilte schließlich von Gerichtswachtmeistern über die »Seufzerbrücke« zurück in die Haftanstalt Moabit gebracht wird, sieht er durch die vergitterten Fenster zwar keine Lagune, aber eben jenen Gerichtsflur, über den er bei einem Freispruch das Gericht als freier Mann verlassen hätte.

 

Sinan schlurfte mit den Gerichtswachtmeistern durch dieses Gängelabyrinth. Es war schmal und unzählige Türen wurden vor ihm auf- und hinter ihm wieder abgeschlossen. Erst ging es immer weiter runter und später wieder mehrere Treppen hoch. Schließlich öffnete sich die letzte Tür und er stand in einem Sitzungssaal mit einer bestimmt sieben Meter hohen Decke. Die Bank, auf der er Platz nehmen musste, war etwa bis in Höhe von einem Meter zwanzig |178|von einer Holzwand umzäunt. Links von ihm hatten fünf Richter und eine Protokollführerin Platz genommen, die von der erhöhten Richterkanzel auf ihn hinabsahen. Vor ihm saß sein Verteidiger und schräg gegenüber der Staatsanwalt. Beängstigend fand Sinan das nicht mehr. Immerhin kannte er ein entsprechendes Szenario schon aus Chemnitz. Trotzdem war er sehr aufgeregt. Wenn er auch hier freigesprochen wurde, war er bald ein freier Mann! Noch bevor das Gericht die Hauptverhandlung eröffnete, ging sein Verteidiger schon zur Richterbank. In der Hand hielt er das Urteil aus Chemnitz: »Ich hoffe, Sie haben mitbekommen, dass mein Mandant hinsichtlich des Raubüberfalls in Chemnitz freigesprochen wurde.« Der Vorsitzende meinte nur lapidar, dass man hier nicht in Chemnitz sei.