|179|Zweiter Sitzungstag

Am zweiten Verhandlungstag in dem Vergewaltigungsprozess waren die Mutter von Nina R. sowie Freunde als Zeugen geladen, welche das Opfer nach der Tat in der Diskothek getroffen und zur Anzeige gedrängt hatten.

Die Mutter wurde zum familiären Hintergrund befragt. Außerdem sollte sie angeben, was sie über das Verhältnis ihrer Tochter zu Männern wisse. Sie beschrieb ein sehr enges und offenes Verhältnis zu ihrer Tochter, wonach sie über alle Themen reden konnten. Die Mutter wusste, dass die Tochter noch Jungfrau war und dies auch bleiben wollte, bis sie eine feste Beziehung eingegangen war. Sie erklärte, dass es aber von ihrer Seite auch kein Problem gewesen wäre, wenn ihre Tochter mit einem Mann sexuell verkehrt hätte. Immerhin war sie schon siebzehn Jahre alt. Die Mutter betonte, dass sie »nicht hinter dem Mond« lebe. Ihre Tochter habe ihr, gleich als sie nach Hause kam, von der Tat erzählt und geweint.

Der Verteidiger fragte nochmals nach, ob die Mutter wirklich nichts von sexuellen Kontakten der Tochter zu Männern vor der Tat wisse. Dies wurde verneint. Ob dies auch Anal- und Oralverkehr beinhalte. Ja. Ob sie besonders stolz auf die Jungfräulichkeit ihrer Tochter gewesen sei. Die Mutter antwortete achselzuckend, dass sie die Einstellung ihrer Tochter zur Sexualität gut finde. Stolz sei sie darauf |180|aber nicht, schließlich sei Geschlechtsverkehr in diesem Alter heute etwas ganz Normales.

Als Nächste wurde eine Freundin von Nina R. vernommen. Sie war an dem fraglichen Abend in der Diskothek dabei gewesen. Ob ihr die Jungfräulichkeit von Nina R. bekannt gewesen sei und ob sie deswegen vielleicht im Freundeskreis verspottet worden sei? Die Freundin erklärte, eng mit Nina R. befreundet zu sein. Sie würden sich sehr gut verstehen und natürlich auch über Männer sprechen. Sie wisse von ihrer Jungfräulichkeit und kenne ihre Vorstellungen über eine Beziehung. Die halte sie für völlig normal und habe sie niemals damit aufgezogen. Auch im Freundeskreis sei das nie ein Thema gewesen. Sie glaube auch nicht, dass Nina darüber noch mit anderen geredet habe. Verspottet hätte sie sowieso niemand. Dafür sehe sie viel zu gut aus. In der Diskothek sprächen sie ständig junge Männer an, die mit ihr tanzen oder ihr Getränke ausgeben wollten.

In der Tatnacht sei ihr gleich aufgefallen, dass Nina R. nicht so fröhlich wie sonst wirkte. Sie habe erst gedacht, dass sie schlechte Laune hätte. Dann fand sie es komisch, dass Nina nicht von ihrem Barhocker aufstehen wollte. Schließlich sah sie, dass sich vor Nina auf dem Boden ein Blutfleck gebildet hatte und ihr das Blut die Strumpfhose hinunterlief. Auf ihre Frage, was das zu bedeuten habe, erzählte Nina weinend alles. Sie erklärte ihrer Freundin, dass sie zur Polizei gehen müsse. Nina R. sagte daraufhin mehrmals monoton »Ja«, wollte aber nicht aufstehen und wirkte verwirrt. Schließlich gelang es ihr, sie mit einem Freund in ein Auto zu bringen und zur Polizei zu fahren.

Der Verteidiger begann gleich mit der Frage, ob es nicht merkwürdig sei, dass Nina R. zwei Wochen nach der Tat |181|schon wieder mit in die Diskothek gekommen und dabei freizügig gekleidet gewesen sei. Er zeigte der Freundin die Fotos. Die Freundin antwortete sofort erbost, dass daran nichts merkwürdig sei. Nina sei immer gern in die Diskothek gegangen. Sie könne sich doch jetzt nicht in ein Kloster einschließen und in Nonnentracht herumrennen. Schließlich müsse der Angeklagte bestraft werden und nicht Nina.

Ich musste schmunzeln. Endlich bekam der Verteidiger etwas Gegenwind. Sie ließ sich von ihm nicht die Butter vom Brot nehmen und hielt mit seinem aggressiven Ton mit. Ob sie das allerdings zu einer besseren Zeugin machte, war mehr als fraglich. Der Verteidiger versprach sich sicherlich etwas davon, sie wütend (gegen die Sache des Angeklagten) zu machen und sie dann als voreingenommen darzustellen. Erneut fragte er ausdrücklich, ob Nina R. mal etwas von »analen oder oralen Vorlieben« erzählt habe. Der Freundin klappte nun der Kiefer runter. Sie konnte offenbar nicht glauben, was sie gerade gehört hatte, und war stinksauer. Sie erwiderte, dass Nina ihr davon mit Sicherheit erzählt hätte. Zudem würde es überhaupt nicht zu Ninas Einstellung zu Partnerschaft und Sexualität passen. Diese Vorlieben entsprächen vielmehr den »dreckigen Phantasien des Angeklagten und des Verteidigers«.

Schließlich wurde die Freundin als Zeugin entlassen und der Freund vernommen, der Nina R. zur Polizei gefahren hatte. Von ihm gab es kaum neue Erkenntnisse und so näherte sich der zweite Verhandlungstag seinem Ende. Jetzt gab allerdings die Verteidigung neue interessante Details bekannt. Nina R. sei gar nicht so »sexuell prüde«, wie von ihr behauptet. Vielmehr würde sie es gerne anderen Männern |182|»oral besorgen«. Auch mit dem Angeklagten sei es in seinem Auto ungefähr einen Monat vor der Tat dazu gekommen. Es gebe sogar zwei Zeugen, die kurz zuvor aus dem Auto ausgestiegen seien und dann alles gesehen hätten. Kaum seien die beiden allein gewesen, habe sich Nina R. schon »über den Angeklagten hergemacht«.

Ich war froh, dass Nina R. das nicht mehr mit anhören musste. Aus meiner Sicht war es ein durchsichtiges Manöver mit dem schwierigen Ziel, aus Nina R. ein »leichtes Mädchen« zu machen. Da sie noch Jungfrau war, kam natürlich nur eine entsprechende Geschichte in Betracht. Sie musste selbstverständlich in der Öffentlichkeit spielen, damit man Zeugen auffahren konnte.

Es wurde vereinbart, für den dritten Verhandlungstag diese beiden Zeugen zu laden. Danach sollten die Abschlussplädoyers gehalten werden.

Innerlich hatte ich in diesem Fall meine Entscheidung getroffen. Ich würde eine Verurteilung beantragen. Das familiäre und freundschaftliche Umfeld von Nina R. gab aus meiner Sicht keine Anhaltspunkte dafür her, dass sie sich wegen eines gewollten Geschlechtsverkehrs vor irgendjemandem hätte rechtfertigen müssen und in einen Konflikt geraten wäre, der eine falsche Anschuldigung plausibel gemacht hätte. Es waren auch kein schwieriger oder problembelasteter Familienhintergrund, kein Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder sonstige psychische Drucksituationen erkennbar, die Ursprung einer derart eiskalt durchgezogenen Falschverdächtigung hätten sein können. Auch ein übersteigertes Geltungsbedürfnis, der Wunsch, durch eine solche Anzeige das allgemeine Interesse auf sich zu ziehen, schien mir fernliegend. Nina R. stand aufgrund ihres |183|Aussehens ohnehin im Mittelpunkt und konnte sich beim Ausgehen vor Aufmerksamkeit nicht retten. Sollte sie einen derartig folgenreichen Prozess bis ins Letzte durchziehen wollen, weil der Angeklagte sie angeblich hatte abblitzen lassen? Den sie auch nach den Angaben des Angeklagten nur von wenigen Kontakten in der Diskothek kannte und von dem sie gewusst hatte, dass er verheiratet und zweifacher Familienvater war? Ich hielt es für abwegig.

Aber genau das war der kritische Punkt. Damit Peter Z. verurteilt werden konnte, musste das Gericht der vollen Überzeugung sein, dass Nina R.s Version stimmte und die des Angeklagten falsch war. Blieben auch nur leiseste Zweifel, musste das Gericht zugunsten des Angeklagten entscheiden und ihn freisprechen. Es reichte also nicht, wenn das Gericht die Schilderungen von Nina R. für sehr wahrscheinlich und die des Angeklagten für ziemlich unwahrscheinlich hielt. Konnte das Gericht mit Sicherheit ausschließen, dass Nina R. den Geschlechtsverkehr freiwillig vollzogen hatte? Mir war es unmöglich vorherzusagen, wie das Gericht entscheiden würde. Ich meinte zumindest einschätzen zu können, dass die Ergebnisse der Hauptverhandlung ganz dicht an eine Verurteilung heranreichten. Vielleicht sah das der Verteidiger ähnlich und griff deshalb zu dem vermeintlichen Rettungsring (die kleine Sexgeschichte im Auto).