|98|Eine neue Staatsanwältin und das alte Leid

Mitte April war es dann so weit. Annas letzter Tag bei der Staatsanwaltschaft war gekommen. Unser Café Jura wurde daher deutlich ausgeweitet. Stühle wurden herangeschafft und es gab jede Menge leckeren Kuchen. Anna bedankte sich bei den anderen Staatsanwälten für die erfahrene Hilfe und zeigte sich etwas traurig, die Abteilung nun zu verlassen. Andererseits freute sie sich darauf, etwas anderes kennenzulernen und als Richterin tätig zu werden (die Staatsanwaltschaft war Annas erste Station im Rahmen ihrer dreijährigen Proberichtertätigkeit gewesen). Sie bekam viele gute Worte mit auf den Weg.

Am Ende der Abschiedsfeier erwähnte Oberstaatsanwalt Berndt nebenbei, dass ich ab morgen das große Zeichnungsrecht erhalten würde. Das war recht ungewöhnlich, da es normalerweise erst nach sechs Monaten erteilt wird und ich erst vier Monate da war. Künftig musste ich also selbst Anklagen, Strafbefehlsanträge und Verfahrenseinstellungen nicht mehr zur Gegenzeichnung vorlegen. Ich freute mich über die gewonnene Freiheit und war auch ein bisschen stolz darauf, dass man mir diese Befugnisse vorzeitig zutraute. Doch bekam ich rasch einen Dämpfer. Oberstaatsanwalt Berndt meinte nur: »Nicht dass Sie denken, Sie hätten das Zeichnungsrecht wegen guter Leistungen vorzeitig erhalten. Morgen kommt die neue Staatsanwältin und wir können |99|vom Aufwand her nicht zwei Staatsanwälte gleichzeitig gegenzeichnen. Ich behalte Sie weiterhin im Auge.« Lachend tapste er auf die Zimmertür zu. Ich lachte mit. Man konnte ihm einfach nicht böse sein. Außerdem konnte ich seine Äußerungen immer gut einordnen. Der Schalk saß ihm ganz tief im Nacken. An der Tür drehte er sich noch einmal um und meinte, dass er mich jetzt endlich auch in die Vertretung der Dezernate anderer Kollegen bei Urlaub oder Krankheit einbeziehen könne.

Diese Ankündigung nahm ich halbwegs gelassen auf. Ich hatte mein Dezernat mittlerweile auf hundertfünfundzwanzig offene Verfahren verkleinern können und demzufolge bisher keinen weiteren Termin bei Dr. Ring wahrnehmen müssen. Auch von meinem Bauchwehstapel hatte ich inzwischen mindestens zwei Drittel abgearbeitet. Ich blickte halbwegs optimistisch in die Zukunft, wobei mir Anna sicher fehlen würde. Sie hatte sich immer Zeit genommen, meine Fragen zu beantworten, obwohl sie selbst regelmäßig bis spätabends an ihren Akten saß. Nun würde ich vielleicht (im Rahmen des Generationenvertrages zwischen den Proberichtern) vom Fragenden zum Befragten werden.

Am nächsten Tag saß mir dann eine neue Kollegin gegenüber: Dr. Maja Jonas. Sie kam aus dem Saarland, hatte wie ich vier Jahre Jura studiert, ein zweijähriges Referendariat absolviert und dann sogar noch im Strafrecht promoviert. Moabit war die erste Station im Rahmen ihrer Proberichtertätigkeit. Von dem, was sie hier in den kommenden Monaten erwarten würde, hatte sie keine Ahnung.

Jens, der jetzt ihr Gegenzeichner war, hatte mir eingeschärft, zunächst alles positiv zu formulieren. Sie sollte langsam »aufgebaut« werden. Schon nach zwei Tagen war jedoch |100|angesichts der massiv anschwellenden Aktenberge auf ihrer Seite des Schreibtisches kaum noch etwas zu verheimlichen. Dort entwickelte sich dasselbe Elend wie bei mir in den ersten Tagen und Wochen und das tat mir unendlich leid. Auf einem Extrastapel häuften sich Akten, die mal »in Ruhe« geprüft werden mussten. Bald wuchs daneben ein zweiter Stapel in die Höhe. Ich versuchte zu helfen, wo es nur ging. Gerade zu Anfang hatte sie sehr viele Fragen, die aber oft einfach zu beantworten waren. Trotzdem machte sie natürlich viel später Schluss als ich und hatte freitags immer einen Rucksack dabei, um übers Wochenende Akten nach Hause zu schleppen.