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Niemand versuchte die drei anderen Gesetzeshüter aufzuhalten, als sie vortraten und mich ergriffen. Ehrlich gesagt versuchte noch nicht einmal ich sie aufzuhalten. Ich war zu sehr darauf konzentriert, einen Blick auf Bones zu erhaschen, weil mir die Umstehenden inzwischen den Blick auf den Kampfplatz verstellten. Er hatte sich nicht bewegt, seit ich zuletzt einen Blick auf ihn hatte werfen können. Hatte ich Gregor noch rechtzeitig aufgehalten? Oder war sein Messer zu tief eingedrungen?

»Cat, was hast du getan?«, krächzte Vlad. Er konnte nicht aufhören, meine Hände anzustarren. Die Flammen erstarben allmählich, bestimmt sehr zur Freude der Wachleute, die meine Arme festhielten.

»Alles okay mit Bones?«, wollte ich wissen, seine Frage ignorierend. Ein seltsamer Friede überkam mich. Ich hatte Gregor nicht bewusst diesen tödlichen Feuerball an den Kopf geschleudert, aber ich bereute es auch nicht. Selbst wenn ich Bones damit nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen war, würde es jetzt nicht mehr lange dauern, bis ich mit ihm vereint sein würde. Und Gregors Tod bedeutete Freiheit für meine Mutter. Es gab weniger lohnenswerte Dinge, für die man sterben konnte.

Mencheres wirkte genauso verdutzt wie Vlad. Offenbar konnte er wirklich nicht mehr in die Zukunft sehen, denn sein Gesichtsausdruck besagte deutlich, dass er sich einen solchen Ausgang der Ereignisse nicht hätte träumen lassen.

Meine Mutter bahnte sich einen Weg durch die Menge. Ihre Augen leuchteten immer noch grün, und sie versetzte dem ersten Wachmann, mit dem sie in Kontakt kam, einen Fausthieb.

»Hände weg von meiner Tochter!«, rief sie.

»Vlad«, sagte ich, »bitte …«

Sein Gesichtsausdruck wurde undurchdringlich, dann nickte er knapp. Schließlich ergriff er meine Mutter und drückte sie so unnachgiebig an seine Brust, dass sie sich keinesfalls würde freimachen können. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln, weil mir klar war, dass er sich bereit erklärt hatte, sie länger als nur für den Moment zu beschützen.

»Du bist ein guter Freund«, sagte ich.

Mehr brachte ich nicht hervor. Einer der Wachleute nahm mich in den Schwitzkasten und würgte den Abschiedsgruß ab, den ich noch an meine Mutter hatte richten wollen. Dann wurde ich auf den Kampfplatz gezerrt. Die blonde Gesetzeshüterin stand schon in der Mitte, ein langes Silbermesser in der Hand.

Seid mit der Urteilsvollstreckung schnell bei der Hand, was?, dachte ich, während ich all meinen Mut zusammennahm. Ich brachte es nicht über mich, den Blick auf die Menge zu richten, die sich um Bones geschart hatte. Wenn er noch lebte, wollte ich nicht, dass er das hier mit ansehen musste. Ich hoffte nur, dass die Gesetzeshüterin es wirklich schnell über die Bühne bringen würde und alles vorbei war, bevor Bones auch nur merkte, was geschah.

»Stopp.«

Sofort erkannte ich Bones’ heisere Stimme, und mein Herz machte einen Sprung. Er lebte. Bitte, lass alles schnell vorbeigehen, und, o Gott, bitte mach, dass er nicht zusehen muss.

»Sie hat gegen das Gesetz verstoßen«, fauchte die blonde Vampirin. Sie hatte mich gepackt und mir den Kopf in den Nacken gebogen, als Bones angehumpelt kam.

Ich sah ihn an, versuchte, ihn in diesem kurzen Augenblick wissen zu lassen, dass ich ihn liebte und keine Angst hatte, als seine nächsten Worte die Gesetzeshüterin innehalten ließen.

»Gregor hat betrogen.«

Die Vampirin ließ mich so abrupt los, dass ich zu Boden fiel. Bones würdigte mich keines Blickes. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Vampirin gerichtet, die auf ihn zukam.

»Wenn du lügst, stirbst du mit ihr«, fuhr sie ihn an. Bones deutete auf seinen Bauch, wo selbst unter den Blutflecken noch seltsame dunkle Schlieren auf seiner Haut zu sehen waren.

»Flüssiges Silber«, stellte er fest. Er hielt ihr Gregors Messer entgegen. »Irgendwo da drin muss es einen Injektionsmechanismus geben. Gregor hat mich vergiftet, als er mich das letzte Mal getroffen hat, wollte mich für den Rest des Kampfes schwächen. Bestimmt hat er gedacht, dass das eh keiner mehr rausfindet, wenn ich erst verschrumpelt bin.«

Das also erklärte den unbeschreiblichen Schmerz, den ich durch die mentale Verbindung zu Bones empfunden hatte – durch diesen einen heimtückischen Stich war Silber in seine Blutbahn gelangt. Ich hatte gewusst, dass die Schmerzen zu heftig gewesen waren, als dass sie von einer normalen Wunde hätten herrühren können. Typisch Gregor, etwas so Niederträchtiges zu tun, nachdem ihm aufgegangen war, dass er Bones in einem fairen Kampf nicht würde besiegen können.

Die Gesetzeshüterin nahm das Messer und musterte es eingehend. Sie betastete es von allen Seiten, und als ihr Daumen am oberen Ende des Heftes zudrückte, ergoss sich eine glänzende Flüssigkeit über die Klinge.

»Clever«, murmelte sie. Dann wandte sie sich mit strengem Gesichtsausdruck mir zu. »Sie konnte das nicht wissen. Ihre Strafe für ihre Einmischung bleibt also dieselbe.«

»Ich wusste es.«

Die Vampirin sah mich an.

»Ich habe gespürt, wie das Silber in Bones gebrannt hat«, fuhr ich fort. »Wir sind miteinander verbunden, weil Bones mein Erschaffer und mein Ehemann ist. Deshalb habe ich es gewusst.«

Lucius kam auf mich zu. »Er ist nicht dein Mann, sondern Gregor!«

Bones warf Gregors Leiche mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu. »Jetzt hat sie ja wohl eindeutig nur noch einen Ehemann, oder?«

Dem Ausdruck auf dem Gesicht der Vampirin nach war meine Erklärung nicht gut genug gewesen. Ich erstarrte. Für Bones zu sterben wäre eine Sache gewesen, aber wenn man eine Chance gehabt hatte, mit dem Leben davonzukommen …

»Außerdem hat Gregor mir, als ich sechzehn war, einmal ein ganz ähnliches Messer gezeigt«, fügte ich hinzu. »Es war so lange her, dass ich es ganz vergessen hatte. Aber schon als Bones so seltsam reagiert hat, nachdem Gregor ihn verletzt hatte, und ich spüren konnte, wie sich der Schmerz weiter in ihm ausbreitete, obwohl das Messer entfernt war …«

»Lügnerin«, rief Lucius. »Gregor hatte noch nie so ein Messer. Das habe ich gestern erst für ihn abgeholt!«

Der Blick der Gesetzeshüterin richtete sich auf ihn. Zu spät wurde Lucius klar, was er getan hatte.

»Du hast ihm Beihilfe geleistet«, stellte sie fest. »Ergreift ihn.«

Zwei der anderen Gesetzeshüter fingen Lucius ein, als er wegzulaufen versuchte. Sie waren so stark, dass Lucius keine Chance haben würde zu entkommen. Aber ich vermutlich auch nicht.

Die wissenden grünen Augen der Gesetzeshüterin sahen schließlich mich an, ihr Blick war argwöhnisch. »Schwörst du bei deinem Blut, dass du erst in das Duell eingegriffen hast, als dir klar wurde, dass Gregor betrogen hat?«

»Ja.«

Immerhin stimmte es ja fast. Ich hatte gewusst, dass etwas faul war; nur nicht, was. So gesehen hatte ich mich also erst eingemischt, als mir klar war, dass Gregor mit unfairen Mitteln kämpfte. Und hätte Gregor kein falsches Spiel getrieben, hätte ich mich im Grunde auch gar nicht einmischen müssen, weil Bones ihn am Ende sowieso umgebracht hätte.

Die Gesetzeshüterin funkelte mich kurz an, aber ich hielt ihrem Blick stand. Dann blickte sie sich um. Bones bedachte sie mit einem strengen Blick. Genau wie Mencheres, Spade und Vlad. Hätte sie ihr Urteil zu meinen Ungunsten gefällt, wären berechtigte Zweifel bestehen geblieben. Bones hätte das Urteil nicht anerkannt, und es hätte ein Blutbad gegeben. Das war ihr sicher auch klar. Aber würde es ihre Entscheidung beeinflussen?

Am Ende zuckte sie mit den Schultern. »Ich kann nicht nachprüfen, ob du lügst, und Gregors Schuld ist erwiesen. Du bist also frei.«

Sofort packte Bones mich und drückte mich so heftig an sich, dass es mir die Luft abgeschnürt hätte, wenn ich noch hätte atmen müssen. Ich drückte ihn genauso fest, woraufhin unter Gregors Verbündeten entrüstetes Gemurmel laut wurde. Das wird Folgen haben, dachte ich. Folgen auch, weil ich vor einem so großen Publikum meine pyrokinetischen Fähigkeiten zur Schau gestellt hatte, auch wenn ich nicht wusste, wie lange ich sie überhaupt besitzen würde. Aber diese Sorgen sparte ich mir für später auf.

»Wir müssen das Silber aus deinem Körper entfernen, Crispin«, hörte ich Spade über Bones’ Schulter hinweg sagen.

»Noch nicht«, antwortete Bones.

Ich schubste ihn. »Doch. Sofort. Bist du wahnsinnig?«

Mit einem Schnauben ließ er von mir ab; in seinen Augen blitzte es. »Ich nicht, Süße. Aber du.«

Bones wusste, dass meine Einmischung nichts damit zu tun hatte, dass Gregor ein Betrüger war. Auch das wird Folgen haben, dachte ich, aber immer schön eins nach dem anderen.

Das flüssige Silber musste Bones aus dem Fleisch geschnitten werden, wie ich feststellte. Es war eine grausame, blutige Prozedur, während der ich mir wünschte, ich könnte Gregor immer und immer wieder umbringen. Kein Wunder, dass so etwas bei Duellen nicht erlaubt war. Ich würde eine so heimtückische Waffe jedenfalls nicht benutzen wollen. Bones verbarg seine Schmerzen wieder durch einen emotionalen Schutzschild vor mir, aber mir tat es trotzdem weh, dass er so leiden musste, und dazu war keine übernatürliche Verbindung zu ihm nötig.

Lucius wurde hingerichtet, nachdem ihm von den Gesetzeshütern der Prozess gemacht worden war.

Als sie mit Lucius fertig waren, setzte uns die oberste Gesetzeshüterin davon in Kenntnis, dass wir für den Raub eines Sippenmitglieds von Gregor eine Entschädigung zahlen mussten. Mir klappte die Kinnlade runter, als ich den Betrag hörte, aber Bones nickte nur und sagte, er würde sich darum kümmern. Da Gregor das Zeitliche gesegnet hatte, war mir unklar, an wen der Scheck gehen sollte, oder ob die Gesetzeshüter das Geld einfach selbst einkassieren würden, aber auch diese Sorge vertagte ich auf später.

Mencheres kniete neben uns auf dem blutigen Erdboden. Er streckte Bones die Hand entgegen, der sie ein paar Augenblicke lang ansah, bevor er sie ergriff und schüttelte.

»Und du hast das nicht vorausgesehen?«, wollte er von Mencheres wissen.

Der ägyptische Vampir hatte ein ganz leises Lächeln auf den Lippen. »Nicht einmal im Ansatz. Ich muss sagen, es ist ziemlich unangenehm, nicht zu wissen, was auf einen zukommt. «

Bones schnaubte. »Willkommen in der Welt der Normalunsterblichen! «

Spade hatte das letzte bisschen Silber aus Bones’ Körper herausgepult und rutschte mit einem Ächzen ein Stück von ihm weg. »Kreuzdonnerwetter, Crispin, hoffentlich muss ich mich mit so was nie wieder rumschlagen.«

Bones ließ ein neuerliches Schnauben hören. »Ganz meine Meinung, Kumpel.«

»Können wir uns verdrücken?« Nun, da kein giftiges Silber mehr in Bones’ Körper steckte, fand ich, dass der Zeitpunkt günstig war. Gregors Verbündete warfen uns nach wie vor feindselige Blicke zu, auch wenn die Gegenwart der Gesetzeshüter und Bones’ Freunde sie davon abhielten, handgreiflich zu werden. Aber man musste das Glück schließlich nicht herausfordern. Bones und ich hatten heute vermutlich sowieso schon all unsere neun Leben verspielt.

»Klasse Idee, Süße«, verkündete Bones und stand auf. »Und wohin?«

Ein trockenes Auflachen entfuhr mir. »Egal, nur nicht nach Paris.«