32

Als ich die Augen öffnete, sah ich kahle Betonwände vor mir, dann beugte sich ein dunkler Kopf über mich. »Alles in Ordnung, Kätzchen?«

Bones’ Gesicht, rußverschmiert. Starker Rauchgeruch hing im Raum. Sofort sah ich meine Hände an. Sie lagen auf meinem Bauch, bleich und unschuldig. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet.

Ich setzte mich so schnell auf, dass mein Kopf mit dem von Bones zusammenstieß. Mencheres stand etwa einen Meter entfernt von uns in dem kleinen Raum, der, wie ich jetzt sah, eine Sicherungszelle für Vampire war.

»Ganz ruhig, Süße«, sagte Bones und strich mir mit den Händen über die Arme.

Ich hoffte, dass ich ohnmächtig geworden war, nachdem ich die Sprengladungen hatte hochgehen lassen, dass alles danach nur ein schrecklicher Alptraum gewesen war. »Meine Mutter? Rodney?«

»Sie ist in Sicherheit. Er ist tot.« Bones’ Stimme war ein Krächzen. Rodney war wirklich umgekommen, was bedeutete, dass das Feuer auch Wirklichkeit war. Das Feuer. Das ich ausgelöst habe.

Ich wollte es nicht glauben, aber ich erinnerte mich – oh, ich erinnerte mich! Dieses Hochgefühl, als ich all meinem Hass und meiner Wut freien Lauf gelassen und zugesehen hatte, wie sie sich in Feuer verwandelt hatten.

»Ich habe pyrokinetische Kräfte.«

Ich hatte es laut ausgesprochen und dabei Bones’ Gesicht beobachtet, in der Hoffnung, er würde mir irgendeine andere Erklärung für das Geschehene anbieten. Aber das tat er nicht.

»Scheint so.«

»Aber wieso?«, fragte ich und schwang die Beine von der Pritsche. Sie hingen nur schlaff und nutzlos herab. Das war’s dann mit Herumtigern. Mein ganzer Körper war erschöpft. »Du hast mir doch erzählt, dass sich die individuellen Fähigkeiten eines Vampirs erst nach Jahrzehnten ausprägen. Und ich dachte auch, sie entsprächen den Fähigkeiten des Erzeugers. Aber du bist kein Pyrokinetiker, Bones, es sei denn, du hast mir etwas verschwiegen.«

»Ich habe dir nichts verschwiegen, und selbst wenn man die Jahre mitzählt, die du als Mensch verbracht hast, ist mir noch kein Vampir untergekommen, Meister oder nicht, der seine Kräfte so kurz nach seiner Verwandlung entwickelt hat.«

Bones klang frustriert. Ich sah den anderen Vampir an, begegnete dem Blick aus seinen kühlen, dunklen Augen. In ihnen stand weder Überraschung noch Verwirrung geschrieben, – und mit einem Mal wusste ich auch, warum.

»Du Bastard«, flüsterte ich.

Bones dachte wohl erst, ich hätte ihn gemeint, aber dann folgte er meinem Blick zu dem dunkelhaarigen Vampir, der geschwiegen hatte.

»Er hat es die ganze Zeit über gewusst.« Meine Stimme wurde immer lauter, je wütender ich wurde. »Er hat gewusst, dass Gregor mich in seiner Vision nicht einfach gesehen und beschlossen hat, mich für sich zu gewinnen, weil ich ein Mischling war oder weil er sich in mich verliebt hatte. Er hat gewusst, dass Gregor mich als Vampirin gesehen hat, die alles um sich herum in ein flammendes Inferno verwandeln kann. Deshalb wollte Gregor mich haben, um meine Macht für sich nutzen zu können. Aber Mencheres wollte das auch. Deshalb hat er Gregor all die Jahre lang eingekerkert. Er wollte meine Macht für sich. Weiter nichts

Bones fragte Mencheres nicht, ob ich recht hatte. Seine braunen Augen wurden grün, während er den Mann anstarrte, den er seit über zweihundertzwanzig Jahren kannte.

»Dafür sollte ich dich umbringen.« Seine Stimme war fast ein Knurren.

Mencheres’ Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Glas wäre ausdrucksstärker gewesen. »Vielleicht tust du ja das sogar. Ich konnte die Zukunft nur bis zum heutigen Morgen voraussehen, also nehme ich an, dass ich bald tot sein werde. Nun, da du mein Mitregent bist und Cat ihre Bestimmung erlangt hat, werden meine Leute geschützt sein, wenn ich nicht mehr bin.«

Die undurchdringliche Maske fiel von ihm ab, und trotzige Entschlossenheit machte sich auf Mencheres’ Zügen breit.

»Ja, ich habe Cat Gregor vor zwölf Jahren weggenommen, damit ihre Macht meinen und nicht seinen Leuten zugutekommt. Ich war es auch, der dir den Tipp gegeben hat, der dich in der Nacht, in der du Cat kennengelernt hast, in diese Bar in Ohio geführt hat, Bones. Findest du das zu manipulativ? Ich nicht. Ich habe eine vieltausendköpfige Sippe, die sich darauf verlässt, dass ich sie beschütze, und das muss mir mehr bedeuten als deine gekränkten Gefühle. Wenn du so lange am Leben bleibst wie ich, wirst du auch lernen, dass es notwendig ist, kalt und manipulativ zu sein, selbst denen gegenüber, die man liebt.«

Bones’ Schnauben klang so verbittert, wie ich mich fühlte. »Du behauptest, du würdest mich lieben? Für dich bin ich doch nur eine Schachfigur.«

Mencheres sah ihn aus seinen dunklen Augen unverwandt an. »Ich habe dich immer geliebt. Wie einen Sohn sogar.«

Bones näherte sich Mencheres. Er trug noch die Kleidung, die er bei der Attacke auf Gregors Haus getragen hatte, beschmiert mit Blut, Ruß und Erde … und dazu noch ein paar Silbermesser.

Mencheres machte keine Bewegung und zuckte nicht mit der Wimper, von seiner ungeheuren Macht war nichts zu spüren, als Bones ein Messer hervorzog.

»Bist du dir deiner Sache so sicher?«, fragte Bones, während er Mencheres mit der Messerspitze über die Brust fuhr. »So überzeugt davon, dass du mich aufhalten kannst, bevor ich dir das Messer im Herz herumdrehe?«

Ich wollte aufspringen und zwischen sie treten. Nicht aus Sorge um Mencheres, sondern weil das Messer vielleicht am Ende ins Bones’ Herz gesteckt hätte, wenn Bones den Meistervampir angegriffen und der sich doch noch verteidigt hätte. Aber meine Beine gehorchten mir nicht.

»Ich könnte dich aufhalten, aber ich werde es nicht tun.« Mencheres klang sehr erschöpft. »Wenn du nicht anders kannst, tu es, um dich an mir zu rächen. Ich habe schon mehr als lange genug gelebt.«

»Bones«, flüsterte ich, und wusste nicht genau, ob ich ihn damit drängen wollte, das Messer fallen zu lassen – oder es zu benutzen.

Bones’ Hand schloss sich fester um den Messergriff. Mencheres rührte sich nicht. Während ich wartete, kam ich mir trotz meiner fehlenden Atmung vor, als würde ich die Luft anhalten.

Bones machte eine blitzschnelle Handbewegung, und das Messer steckte wieder in seiner Gürtelscheide. »Ich habe es auch schon einmal verdient, den Tod von dir zu empfangen, Mencheres, aber du hast mich am Leben gelassen. Jetzt lasse ich dich am Leben, und damit sind wir quitt. Aber wenn du mich noch einmal anlügst oder mich oder sie benutzt, ändert sich das.«

Bones trat zurück. Mir kam es vor, als wäre Mencheres ein wenig in sich zusammengesunken, ob vor Erleichterung oder Überraschung, wusste ich nicht. Dann setzte sich Bones zu mir und legte mir die Hand auf mein immer noch unbrauchbares Bein.

»Keine Geheimnisse mehr. Woher kommt ihre Macht? Sie ist zu jung, und von mir hat sie sie nicht. Also, wie ist das möglich?«

Mencheres fuhr sich mit der Hand durch sein langes schwarzes Haar, bevor er antwortete. »Vampire trinken menschliches Blut, um die Lebenskraft der Sterblichen in sich aufzunehmen, die sie als Vampire nicht mehr besitzen. Sie aber trinkt kein Menschenblut, weil sie wahrhaftig tot ist.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Bones reagierte nicht. »Erzähl weiter.«

»Ihr Herz schlägt, wenn sie starke Gefühle empfindet«, fuhr Mencheres fort. »Was beweist, dass das Leben sich noch an ihr festklammert. An diesem Leben liegt es auch, dass ihr Körper menschliches Blut von sich weist, denn das Leben, das darin enthalten ist, braucht er nicht. Was ihr Körper aber braucht, um existieren zu können, ist Macht. So wie ein sterbender Mensch Energie aus Vampirblut bezieht, um sich verwandeln zu können, nimmt sie, die sie unablässig kurz vor dem Tod steht, untote Macht in sich auf, indem sie sich von anderen Vampiren ernährt.«

Aber ich hatte bisher nur von Bones getrunken … Moment, von Vlad auch.

Ich hatte von Vlad getrunken, und der war Pyrokinetiker. War es tatsächlich möglich, dass ich Vlads Macht über das Feuer mit seinem Blut in mich aufgenommen hatte? So musste es sein. Sonst gab es keine Erklärung für das Feuerwerk, das ich mit meinen Händen produziert hatte, und mir war bereits selbst aufgefallen, dass ich jedes Mal, wenn ich von Bones trank, stärker wurde. Sehr viel stärker, als es ein junger Vampir sein sollte.

Ich schluckte. »Weiß Gregor, woher ich meine Macht habe?«

»Gregors Visionen sind nicht so stark und treten auch nicht so oft auf wie meine. Er hat nur deine Macht gesehen. Er kannte ihre Quelle nicht. Vermutlich hat er gedacht, du würdest sie erst mit der Zeit entwickeln, sonst hätte er dich mit sechzehn schon in eine Vampirin verwandelt.«

Nach allem, was ich von Gregor wusste, glaubte ich das. Es erklärte auch, warum er damals nicht befürchtet hatte, ich würde meine geborgten Fähigkeiten gegen ihn einsetzen. Er hatte nicht geglaubt, dass ich sie so früh entwickeln würde.

»Habe ich diese Kräfte jetzt immer? Oder gehen sie, na ja, du weißt schon, auch wieder weg, wenn ich kein Blut von Vampiren mit besonderen Fähigkeiten mehr zu mir nehme?«

Mencheres wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich habe es euch ja gesagt; ich kann nicht mehr sehen, was die Zukunft bringen wird. Weder für dich … noch für irgendjemanden sonst.«

 

Da man an meinem »Zustand«, wie ich meine Fähigkeiten insgeheim nannte, nun nichts mehr ändern konnte, ging ich meine Mutter besuchen. Sie war in den vergangenen zwei Wochen mehr als nur durch die Hölle gegangen. Um meinen Körper aus seiner Erstarrung zu lösen, trank ich dann doch noch einmal Bones’ Blut, wobei mir mit leichtem Unbehagen bewusst wurde, wie schnell es mir dadurch besser ging. Ich war so stolz auf meine Fortschritte gewesen, dabei hatte ich sie gar nicht selbst bewirkt. Ich hatte mich von einem Halbblut in einen teilzeit-untoten, Energie saugenden Blutegel verwandelt. Ich kam mir vor wie eine Art Scheinvampir oder besser gesagt, eine noch größere Missgeburt.

Als uns der Weg zu meiner Mutter nicht nach oben, sondern immer weiter einen schmalen Gang im Keller entlangführte, musste ich überrascht feststellen, dass sie ebenfalls in einer Art Sicherungszelle für Vampire untergebracht war.

»Warum?«, wollte ich wissen. »Hat sie ihren Blutdurst noch nicht im Griff?«

»Es ist zu ihrem Schutz«, antwortete Bones knapp. »Sie hat versucht, sich Gewalt anzutun. Mehrmals.«

O nein. Ich rang noch um Fassung, da nickte Bones dem Wachmann vor der Stahltür zu, und wir wurden eingelassen.

Meine Mutter saß in einer Ecke des kleinen Raumes. Allem Anschein nach hatte auch sie bisher weder geduscht noch die Kleidung gewechselt. Ihr langes braunes Haar war blut-und schmutzverkrustet, wie auch der Rest von ihr. Sie hob nicht einmal den Kopf, um zu sehen, wer eingetreten war.

»Mom«, sagte ich leise. »Ich bin’s, Catherine.«

Da sah sie auf. Ein Keuchen entfuhr mir, als sie mich aus grün leuchtenden Augen anblickte und Fänge unter ihrer Oberlippe sichtbar wurden, als sie zu sprechen begann.

»Wenn du mich je geliebt hast, sag mir, dass du gekommen bist, um mich zu töten, denn so kann ich nicht weiterleben.«

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, während sengender Schmerz sich bis in mein Herz ausbreitete. »Das tut mir alles so leid«, begann ich und war mir noch nie so hilflos vorgekommen, »aber du kannst…«

»Was kann ich?«, fauchte sie mich an. »Als Mörderin weiterleben? Ich habe Menschen getötet, Catherine! Ich habe mich in ihre Kehlen verbissen und sie ermordet, während sie versucht haben, mir zu entfliehen. Ich kann so nicht weiterleben! «

Nur meine Wut hielt mich davon ab, in Tränen auszubrechen. Gregor, dieser Bastard, hatte Menschen mit meiner Mutter zusammengesperrt, nachdem er sie verwandelt hatte, und dabei genau gewusst, was passieren würde. Kein gerade erschaffener Vampir konnte verhindern, dass er in seinem ersten Blutrausch seine Opfer bis zum Tod aussaugte. Wäre Bones nicht schon tot gewesen, hätte ich ihn schon mehrmals umgebracht, wenn die Blutgier mich überwältigte.

»Es war nicht deine Schuld«, bemühte ich mich verzweifelt.

Empört wandte sie den Blick ab. »Das verstehst du nicht.«

»Doch.«

Bones’ besonnener Tonfall brachte meine Mutter dazu, den Kopf zu heben. »Ich verstehe dich sehr gut«, fuhr er fort. »Ian hat mich gegen meinen Willen verwandelt, mich ausgesaugt, während ich versucht habe, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Zu mir gekommen bin ich auf einer Begräbnisstätte, mit einem jungen Mann in den Armen. Ich hatte dem Ärmsten die Kehle aufgerissen und einen ganz herrlichen Geschmack im Mund. Noch sechsmal geschah das, bis ich meine Gier so weit unter Kontrolle hatte, dass ich niemanden mehr umbringen musste, und glaub mir, Justina, ich habe mich mit jedem Mal mehr gehasst. Aber ich habe weitergelebt, und das wirst du auch.«

»Ich will nicht weiterleben«, schoss sie zurück, sie war aufgestanden. »Ich habe die Wahl, und ich weigere mich, so zu leben!«

»Rodney hat an dich geglaubt.« Meine Stimme klang erstickt, als ich an meinen toten Freund dachte. »Er hat gesagt, du würdest darüber hinwegkommen, wenn wir dich zurückholen könnten. Egal, was mit dir passiert wäre.«

»Rodney ist tot«, erwiderte sie, rosarote Tränen blitzten in ihren Augen.

Ehe ich mich’s versah, hatte Bones meine Mutter an ihrem Oberteil gepackt und sie hochgehoben, sodass ihre Füße mehrere Zentimeter über dem Boden baumelten.

»Rodney war sechs Jahre alt, als ich ihn gefunden habe. Er hatte keine Eltern mehr und drohte auf den polnischen Straßen zu verhungern. Ich habe ihn großgezogen, ihn geliebt und dabei geholfen, ihn in einen Ghul zu verwandeln – ein ganzes Jahrhundert bevor du geboren wurdest. Er ist für dich gestorben, und du wirst das Opfer, das er gebracht hat, nicht mit Füßen treten, indem du dir das Leben nimmst. Mir ist es egal, ob du dich jeden verdammten Tag deines Lebens für das hasst, was du bist; du wirst leben, Rodney hat es verdient. Verstanden?«

Bones schüttelte sie, dann ließ er sie los. Taumelnd ging sie zu Boden, aber ich brachte es nicht über mich, Bones Vorhaltungen zu machen. Der Schmerz in seiner Stimme war zu stark, zu tief gewesen.

Die Tür ging auf, und Spade trat ein. Er wirkte so abgespannt, wie ich mich fühlte, seine sonst so verschmitzt dreinblickenden tigerfarbenen Augen waren düster und hart.

»Gregor lebt, und er hat beschlossen, deine Herausforderung anzunehmen. Morgen Abend ist er hier.«

Ich schloss kurz die Augen. Warum jetzt? Warum so kurz nach diesem letzten verheerenden Schlag?

Vermutlich war genau das Gregors Motivation. Er hoffte, er könnte sich Bones’ Trauer über den Tod seines Freundes zunutze machen. Vielleicht konnte Gregors Ego es aber auch einfach nicht verkraften, bald vor aller Welt als ein Mann dazustehen, der sich von Bones eine Geisel und die eigene Frau hatte stehlen lassen. Gregors größte Schwäche ist sein Stolz, hatte Vlad gesagt. Vielleicht kam Gregor mit den wiederholten Nackenschlägen nicht klar, die er abbekommen hatte.

»Morgen also«, sagte Bones.

»Was für eine Herausforderung soll das sein?«, erkundigte sich meine Mutter.

»Ein Kampf auf Leben und Tod«, antwortete Bones knapp.

Meine Mutter lag zwar noch auf dem Boden, aber ein anderer Ausdruck erschien in ihren leuchtenden, rosa glitzernden Augen. Zorn ersetzte ihren Selbsthass.

»Töte Gregor. Wenn du das tust, werde ich weiterleben, egal, wie sehr ich meine Existenz verabscheue«, knurrte sie.

»Ich bringe ihn um«, antwortete Bones in demselben unerschütterlichen Tonfall.

Angst schüttelte mich. Morgen Abend würde Bones seinen Schwur entweder halten – oder sterben.