Spade. Ein paar Monate zuvor hatte sie seine Nummer gespeichert, weil er sie zu ihrem letzten Treffen mit Cat mitgenommen hatte.

Denise zögerte. Spades feingeschnittene Züge, seine bleiche Haut und der durchdringende Blick tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Wäre Spade in einer Calvin-Klein-Anzeige abgebildet gewesen, hätte eine Menge Frauen wohl den Drang verspürt, die Seite abzulecken; für Denise allerdings war die Erinnerung an Spade unauslöschlich mit Blut verknüpft. Insbesondere, da er bei ihrer letzten Begegnung damit beschmiert gewesen war.

Sie verdrängte den Gedanken. Jemand hatte Paul umgebracht, und Spade war vielleicht ihre einzige Verbindung zu Cat. Denise drückte die Anruftaste und betete, dass sie nicht wieder nur die monotone Computerstimme zu hören bekäme. Drei Freizeichen, vier …

»Hallo?«

Denise war ganz benommen vor Erleichterung, als sie Spades unverkennbaren britischen Akzent hörte. »Spade, ich bin’s, Denise. Cats Freundin«, fügte sie noch hinzu, als ihr der Gedanke kam, dass ein jahrhundertealter Vampir bestimmt mehr als eine Denise kannte. »Ich habe Cats Nummer nicht mehr und … bin mir ziemlich sicher, dass irgendein Wesen meinen Cousin ermordet hat. Meine Cousine und meine Tante möglicherweise auch.«

Ihr hektisches Gestammel kam sogar ihr ziemlich abstrus vor. Sie wartete und hörte nur das Atmen am anderen Ende der Leitung, während ihr Gesprächspartner schwieg.

»Ich spreche doch mit Spade, richtig?«, fragte sie schließlich vorsichtshalber noch einmal nach. Was, wenn sie die falsche Nummer gewählt hatte?

Sofort erklang wieder seine Stimme. »Ja, entschuldige bitte. Warum erzählst du mir nicht erst mal, was du glaubst, gesehen zu haben?«

Denise bemerkte seine Wortwahl sehr wohl, war aber zu entnervt, um ihm Vorhaltungen zu machen. »Ich habe gesehen, wie mein Cousin von einem Mann ermordet wurde, dem weder Pfefferspray noch Silbernitrat etwas anhaben konnte. Und dann war der Mann plötzlich verschwunden, und da stand dieser verdammte Riesenköter, aber der ist weggelaufen, und die Polizei ist der Meinung, mein fünfundzwanzig Jahre alter Cousin wäre nicht erdrosselt worden, sondern an einem Herzinfarkt gestorben.«

Wieder herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Denise sah Spade geradezu vor sich, wie er beim Zuhören die Stirn runzelte. Er machte ihr Angst, aber im Augenblick fürchtete sie sich eher vor dem, was Paul getötet hatte.

»Bist du noch in Fort Worth?«, fragte er schließlich.

»Ja, ich wohne noch im selben Haus wie … wie vorher.« Dem Haus, vor dem er sie abgesetzt hatte, nachdem er kaltblütig einen Mann ermordet hatte.

»Okay. Tut mir leid, aber Cat ist in Neuseeland. Ich kann sie anrufen oder dir ihre Nummer geben, aber es würde mindestens einen Tag dauern, bis sie bei dir ist, wenn nicht sogar länger.«

Ihre Freundin und Expertin in Sachen Untote war am anderen Ende der Welt. Klasse.

»… aber ich bin zur Zeit in den Staaten«, fuhr Spade fort. »Genauer gesagt in St. Louis. Ich könnte später vorbeikommen und mir deinen toten Cousin einmal ansehen.«

Denise holte tief Luft, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, so schnell wie möglich herauszufinden, was Paul so plötzlich umgebracht hatte, und dem Unbehagen darüber, dass ausgerechnet Spade die Nachforschungen anstellen sollte. Schließlich rief sie sich zur Ordnung. Paul, Amber und ihre Tante waren tot, und das war doch wohl wichtiger als ihre Vorbehalte gegenüber dem Mann, der ihr helfen wollte.

»Das wäre sehr nett von dir. Meine Adresse ist …«

»Ich weiß noch, wo du wohnst«, fiel Spade ihr ins Wort. »So gegen Mittag bin ich bei dir.«

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Knappe sechs Stunden noch. Sie selbst hätte es in so kurzer Zeit von St. Louis nach Fort Worth nicht einmal geschafft, wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, aber wenn Spade sagte, er würde gegen Mittag bei ihr sein, dann glaubte sie ihm.

»Danke. Kannst du Cat ausrichten, dass, äh, dass …«

»Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir Cat und Crispin vorerst nicht einweihen«, antwortete Spade, Bones wie üblich bei seinem Menschennamen nennend. »Die beiden haben eine schwere Zeit hinter sich. Kein Grund, sie zu beunruhigen, wenn ich das Problem allein lösen kann.«

Denise verkniff sich eine bissige Bemerkung. Sie wusste, was er damit sagen wollte. Oder du dir alles nur eingebildet hast.

»Bis heute Mittag, dann«, sagte sie und legte auf.

Das Haus kam ihr auf unheimliche Weise still vor. Schaudernd blickte Denise aus den Fenstern und sagte sich, dass ihre bangen Gefühle eine normale Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse des Abends waren. Zur Sicherheit ging sie aber trotzdem noch einmal durch alle Zimmer und vergewisserte sich, dass die Fenster und Türen geschlossen waren. Dann zwang sie sich, eine Dusche zu nehmen, und versuchte, die Erinnerung an Pauls blau angelaufenes Gesicht aus dem Kopf zu bekommen. Was ihr nicht gelang. Denise zog sich einen Bademantel über und streifte von Neuem rastlos durchs Haus.

Hätte sie sich bloß nicht dazu überreden lassen, mit Paul auszugehen, vielleicht wäre er dann noch am Leben. Und was wäre geschehen, wenn sie sofort in das Lokal gelaufen und Hilfe geholt hätte, statt auf dem Parkplatz zu bleiben? Hätte sie Paul retten können, wenn sie sofort ein paar Leute herbeigerufen und den Angreifer in die Flucht geschlagen hätte? Er war verschwunden, sobald jemand auf ihre Hilferufe reagiert hatte; vielleicht hätte sie Paul wirklich retten können, wenn sie nicht so nutzlos in der Gegend herumgestanden und den Angreifer mit Reizgas besprüht hätte.

Denise war so in ihre Gedanken verstrickt, dass sie das leise Klopfen überhörte, bis es zum dritten Mal ertönte. Sie erstarrte. Es kam von der Eingangstür.

Denise schlich aus der Küche und lief leise die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo sie ihre Glock aus dem Nachtschränkchen holte. Geladen war die Pistole mit Silbermunition, die einen Vampir vielleicht nur langsamer machen, einen Menschen aber töten würde. Angestrengt auf jedes Geräusch lauschend, tappte Denise die Treppe hinunter. Ja, es war noch da. Ein seltsamer Laut, wie ein Wimmern und Kratzen.

Versuchte jemand, das Türschloss zu knacken? Sollte sie die Polizei rufen oder erst selbst nachsehen? Aber wenn es nur ein streunender Waschbär war und sie die Bullen rief, würden die ihr endgültig kein Wort mehr glauben.

Den Lauf ihrer Pistole auf die Geräusche gerichtet, pirschte sich Denise an die Fenster zur Straße heran, von wo aus sie die Eingangstür sehen konnte …

Auf ihrer Veranda stand ein kleines Mädchen, an seiner Kleidung war etwas Rotes. So zaghaft, wie die Kleine an die Tür klopfte, schien sie verletzt oder erschöpft zu sein, vielleicht auch beides. Nun konnte Denise auch das Wort »Hilfe …« verstehen.

Denise legte die Pistole weg und riss die Tür auf. Das Gesicht der Kleinen war tränenüberströmt, sie zitterte am ganzen Körper.

»Kann ich reinkommen? Daddy ist verletzt«, stammelte sie.

Denise hob sie hoch und sah sich nach einem Auto oder irgendetwas anderem um, das ihr einen Hinweis darauf hätte geben können, wo das Kind herkam.

»Komm rein, Schätzchen. Was ist denn passiert? Wo ist dein Daddy?«, säuselte Denise, während sie das Mädchen ins Haus trug.

Die Kleine lächelte. »Daddy ist tot«, verkündete sie, und ihre Stimme klang plötzlich tief und unheilvoll.

Denises Arme sackten nach unten, als sie das plötzliche Gewicht darin spürte. Mit Entsetzen sah sie, wie das kleine Mädchen sich in den Mann verwandelte, der Paul ermordet hatte. Als sie wegrennen wollte, packte er sie und schloss die Tür hinter sich.

»Danke, dass du mich hereingebeten hast«, sagte er.