10

Laut Beschilderung gab es im Candleridge Park einige schöne Spazierwege und Naturpfade, aber wegen derer waren wir nicht hier. Nein, wir wollten eine Leiche verscharren. Hoffentlich nur eine.

Fabian, der sich still und leise an Spades Wagen gehängt hatte, schwebte über den Bäumen. Um lange Strecken zu überwinden, musste er Kontakt mit einem festen Körper haben. Es sei denn, es gab eine Ley-Linie, aber ich hatte noch immer nicht ganz verstanden, was das war. Hatte irgendetwas mit unsichtbaren Energieströmen zu tun, die als eine Art Geisterautobahn fungierten. Ich würde mich später genauer erkundigen. Im Augenblick zankte ich mich mit Bones. Mal wieder.

»Dass Spade im Affekt gehandelt hat, ist eine Sache, aber wenn du die Typen jetzt umbringst, ist das kaltblütiger Mord, Bones. Die beiden sollten hinter Gitter gebracht werden und eine Gehirnwäsche bekommen, die sie dazu bringt, sich für Frauen- und Bürgerrechte starkzumachen, wenn sie wieder draußen sind. Sie haben immerhin Familien, die es nicht verdient haben, um zwei solche Loser weinen zu müssen.«

»Jeder hat irgendwelche Angehörigen«, gab Bones eiskalt zurück. »Selbst Monster. Gerecht ist das nicht, aber es ändert nichts.«

»Die Pistole war nicht geladen«, murmelte ich, eine andere Taktik einschlagend. »Ich habe nachgesehen. Vielleicht wäre gar nichts passiert. Ich hatte alles unter Kontrolle …«

»Darum geht es doch verdammt noch mal überhaupt nicht!«

Wütend stellte Bones den Motor ab und wandte sich mir zu.

»Du kannst ihre Gedanken nicht lesen. Ich schon. Sie haben so etwas nicht zum ersten Mal getan, und selbst wenn du sie aufgehalten und so fertiggemacht hättest, dass sie dir hysterisch Entschuldigungen vorgeheult hätten, wären ihre Absichten die gleichen geblieben. Würdest du mich auch davon abhalten wollen, sie zu töten, wenn sie keine Menschen wären?«

Ertappt. Bones’ Blick sagte mir, dass ihm das klar war.

»Vampire und Ghule leben nach ihren eigenen Gesetzen«, versuchte ich es noch einmal. »Sie hätten über die Konsequenzen ihres Tuns Bescheid gewusst. Unsere beiden Kraftmeier wurden über die Spielregeln nicht informiert. Ja, sie gehören hinter Gitter, aber den Tod haben sie nicht verdient.«

Bones schnaubte. »Warum sind sie nicht von selbst darauf gekommen, dass sie im Begriff waren, etwas so Abscheuliches zu tun, dass man sie dafür auf der Stelle hätte kaltmachen sollen? Ist schließlich nicht meine Schuld, dass Vampire ein faireres Strafrecht haben als Sterbliche.«

Ich hielt mir den Schädel. Er tat weh. Zugegebenermaßen wohl sehr viel weniger als der von Wuschelkopf, als er auf den betonierten Parkplatz aufgeschlagen war. Logisch gesehen hatte Bones recht. Aber es kam mir dennoch falsch vor.

»Du hast deine Entscheidung getroffen, also mach, was du willst. Du bist zu stark. Ich kann dich sowieso nicht daran hindern.«

Bones warf mir einen unergründlichen Blick zu, bevor er aus dem Wagen stieg und den Kofferraum öffnete. Ich hörte, wie er die beiden Männer aufforderte, ihren toten Freund in den Wald zu tragen. Dann befahl er ihnen, mit den Händen eine Grube auszuheben. Es dauerte bestimmt vierzig Minuten, bis sie es geschafft hatten. Am Ende hörte ich eine Art resignierten Seufzer.

»Was ich jetzt tue, widerspricht all meinen Überzeugungen, Kätzchen … Aufgepasst, ihr beiden. Ihr geht jetzt zur nächsten Polizeiwache und gesteht jedes beschissene Verbrechen, das ihr je begangen habt, die heutige Bestattung ausgenommen. Wenn ihr eingebuchtet seid, werdet ihr keinen Verteidiger in Anspruch nehmen und vor dem Richter für schuldig plädieren. Ihr werdet die vorgeschriebene Zeit in dem Wissen hinter Gittern verbringen, dass ihr jede Sekunde davon verdient habt. Und jetzt schert euch weg, ihr wertloses Pack!«

Als Bones zum Wagen zurückkam, war ich noch dabei, mir die Tränen abzuwischen. Er schloss die Fahrertür mit einem zerknirschten Schnauben.

»Steht es um unsere Beziehung schon so schlimm, dass wir es als gemeinsames Highlight ansehen, bösen Buben ihre gerechte Strafe zu ersparen?«

Die Worte waren sarkastisch; sein Gesichtsausdruck war es nicht. Der Schmerz, der darin geschrieben stand, fiel mir auf, noch bevor er ihn verbergen konnte.

»Du hast mir damit gezeigt, dass ich dir noch etwas bedeute, obwohl es zwischen uns im Augenblick mies läuft.«

Da war es wieder, dieses Leuchten in seinem Gesicht. »Hast du wirklich geglaubt, du würdest mir nichts mehr bedeuten? Kätzchen, du bedeutest mir so viel, dass es mich kaputtmacht. «

Stürmisch warf ich mich auf ihn, umschlang ihn mit den Armen und spürte mit unendlicher Erleichterung, wie er mich ebenfalls an sich drückte.

»Jetzt ist es mir selbst unbegreiflich, aber vorhin war ich so sauer darüber, keinen Job und kein Geld zu haben«, keuchte ich, als mir klar wurde, wie absurd diese Probleme im Vergleich zu den wirklich wichtigen Dingen des Lebens waren.

»Was?«

»Nichts.« Ich küsste ihn, es war ein inniger, leidenschaftlicher Kuss, der die Entfremdung der letzten Tage einfach wegwischte. »Wie schnell kannst du zurück zum Motel fahren?«

In seine Augen trat ein herrlich lustvolles Funkeln.

»Sehr schnell.«

»Gut.« Es war fast ein Stöhnen. »Ich rufe Cooper an und sage ihm, dass wir uns morgen früh mit ihm treffen.«

Bones ließ das Wagenfenster herunter. »Fabian«, rief er, »schaff deinen Geisterarsch wieder in den Wagen, wir fahren. «

 

Bones beeilte sich wirklich, um zum Red Roof Inn zu kommen. Die ungemütliche Matratze und die dünnen Laken, die uns dort erwarteten, kamen mir plötzlich sehr verlockend vor. Als wir allerdings anderthalb Kilometer von unserem Ziel entfernt an einer roten Ampel warten mussten, fuhr mir ein stechender Schmerz in den Schädel.

musst einsehen, dass dieser Mann vor nichts haltmacht und du nie in Sicherheit sein wirst …

»Gregor«, hauchte ich, so leise, dass es kaum hörbar war.

»Wo?« Bones warf den Kopf herum.

… kann dich beschützen, aber du musst mir vertrauen, chérie …

»O Gott«, flüsterte ich. »Bones … Ich glaube, er ist im Hotel!«

Bones machte auf der Stelle kehrt und trat aufs Gas. Bremsen kreischten, als andere Fahrer abrupt anhielten und uns anhupten. Bones hatte nicht abgewartet, bis die Ampel Grün zeigte.

»Fabian«, wies Bones den Geist an, »geh zum Hotel und sieh nach. Wir warten an der Einfahrt zu dem Park von vorhin. «

»Ich beeile mich«, versprach Fabian und verschwand. Wir mussten nicht einmal die Geschwindigkeit drosseln.

Bones gab weiter Gas und schaute immer wieder in den Rückspiegel. Nach ein paar Kilometern hielt er an einer Tankstelle an.

»Los, Süße, wir nehmen einen anderen Wagen.«

Wir stiegen aus. Der Mann, der neben uns gerade seinen Honda auftankte, konnte nur noch »Was zum …?« sagen, da traf ihn auch schon Bones’ Blick.

»Das ist jetzt Ihr Wagen«, redete Bones auf ihn ein. »Und Ihrer gehört mir.«

»Mein Wagen«, wiederholte der Mann mit glasigem Blick.

»Genau. Fahren Sie heim und machen Sie ihn sauber, er ist furchtbar schmutzig.«

»Na warte, wenn der den Kofferraum aufmacht«, murmelte ich, als ich ins Auto stieg.

Bones fuhr jetzt weniger aggressiv, aber immer noch viel schneller als erlaubt. Statt den direkten Weg zum Park zu nehmen, benutzte er Seitenstraßen. Als wir angekommen waren, hielt er unter einem Baum an und schaltete Motor und Scheinwerfer aus.

In der Stille kamen mir meine gehetzten Atemzüge viel zu laut vor. »Glaubst … glaubst du …«

»Wie kommst du darauf, dass Gregor in dem Motel ist?«

Er stellte die Frage so beiläufig, als würde er sich nach dem Wetter erkundigen. Mich konnte das nicht täuschen. Die Knöchel seiner Finger auf dem Lenkrad waren fast weiß.

Wie sollte ich es ihm erklären? »Ich hatte diese heftigen Kopfschmerzen, und ich konnte ihn hören, nur hat er nicht in dem Augenblick mit mir gesprochen. Ich glaube, ich habe mich an etwas erinnert, das er früher mal zu mir gesagt hat, und das ist bis jetzt nur einmal vorgekommen, als er in der Nähe war, auf dieser Straße in New Orleans.«

Stille. Dann: »Was hat er gesagt?«

»Du hast es nicht gehört?« Ich war überrascht.

»Nein.« Seine Stimme verlor alle Sanftheit. »Sonst würde ich nicht fragen.«

»Äh, okay. Beim ersten Mal war es kurz, bruchstückhaft gewesen. Er hatte gesagt, in Frankreich hätte es keine Kirschen gegeben. Diesmal hat er mich vor jemandem gewarnt, der angeblich hinter mir her ist.«

Bones schnaubte. »Kommt mir aber sehr aktuell vor, dir nicht?«

»Ja, schon«, sagte ich nachdenklich. »Aber irgendwie glaube ich doch, dass es eine Erinnerung war.«

Fabian erschien vor der Windschutzscheibe. Sein plötzliches Auftauchen ließ mich im Sitz zusammenfahren. Der konnte sich wirklich gut anschleichen.

»Der blonde Vampir war da«, verkündete er. »Mit sechs anderen hat er hinter dem Motel gewartet. Ich glaube nicht, dass sie mich bemerkt haben.«

Bones sah mich durchdringend an. Sein Blick drückte etwas aus, das ich nicht benennen konnte.

»Verzeihung«, sagte er leise.

»Wofür?«

»Dafür.«

Er schlug zu.

 

Als ich die Augen öffnete, war alles dunkel um mich, nur am Rand meines Gesichtsfeldes drang manchmal schwaches Licht ein. Ich saß, aber nicht im Auto. Es klang, als wären wir in einem Flugzeug.

Sofort griff ich nach meiner Augenbinde, aber kühle Hände hielten mich davon ab.

»Nicht, Kätzchen.«

Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Nimm mir das ab.«

»Nein. Hör auf herumzuzappeln und lass mich reden.«

Ich erstarrte, als die Erinnerung zurückkehrte. »Du hast mich bewusstlos geschlagen.«

»Ja.« Seine Stimme klang müde. »Hältst du still?«

»Kommt drauf an. Warum hast du mich geschlagen?« Wehe, er hatte keinen verdammt guten Grund dafür.

»Weißt du noch, wie ich gesagt habe, die Einzigen, die Gregor informiert haben könnten, säßen bei uns im Wagen? Liza, Band-Aid und Hopscotch wussten nicht, wo wir in Fort Worth absteigen würden, und selbst wenn, hätten sie keine Chance gehabt, es weiterzugeben. Denise und Spade wussten auch nichts. Fabian war die ganze Zeit über bei uns, und wenn er ein Verräter wäre, hätte er uns weismachen können, Gregor würde uns gar nicht auflauern. Bleiben nur du und ich. Ich habe Gregor nichts gesagt, also … warst du es.«

Ich war völlig perplex. »Du glaubst also, ich würde hinter deinem Rücken mit Gregor gemeinsame Sache machen?«

»Nicht absichtlich, aber wenn Gregor dich nach Paris gelockt und durch Träume mit dir kommuniziert hat, ist doch nicht auszuschließen, dass er uns auch irgendwie belauschen kann, oder? Es ist bloß so eine Vermutung, Kätzchen, aber wenn ich falschliege, hast du nur ein paar Tage im wachen Zustand verloren.«

Und wenn er recht hatte …

»Was willst du jetzt machen? Mich ins Koma prügeln und abwarten, ob Gregor verschwindet?« Und ich hatte gedacht, es gäbe nichts Schlimmeres, als sich hilflos zu fühlen. Aber eine potenzielle Gefahr zu sein? Das war schlimmer.

»Natürlich nicht. Aber wenn wir das Quartier wechseln, will ich, dass du die Pillen nimmst, damit du unterwegs schläfst. Wenn du nicht weißt, wo wir sind und Gregor dich trotzdem aufspüren kann, wissen wir, dass er die Informationen nicht aus deinen Träumen erhält.«

Gott, es war zum Kotzen. Jetzt musste ich in Quarantäne wie ein Tier, von dem man nicht wusste, ob es Tollwut hat.

»Warum hast du mich dann überhaupt geweckt? Wir sitzen im Flugzeug. Ich kann die Triebwerke hören. Warum hast du nicht gewartet, bis wir am Ziel sind?«

»Du musst etwas essen und trinken, und ich dachte, du würdest dich gern frisch machen wollen.«

Noch einmal griff ich nach der Augenbinde, und wieder hielt er mich zurück.

»Lass sie auf.«

»Warum? Ich weiß doch schon, dass wir im Flugzeug sitzen, und an den Wolken kann ich mich ja wohl kaum orientieren! «

»Du weißt nicht, was für ein Flugzeug es ist«, beharrte Bones. »Bauart, Modell, Typ; alles Dinge, die dazu benutzt werden könnten, dich aufzuspüren. Es ist doch nicht für lang, Kätzchen.«

Nicht für lang, wenn er falschlag. Aber für wie lang, wenn er recht hatte?

»Na gut. Was kommt zuerst, essen oder waschen? Ich weiß nicht, ob ich den Mund aufmachen oder mich ausziehen soll.«

Einen Augenblick lang sagte er gar nichts. Dann: »Es tut mir leid.«

»Heißt dass, du haust mir eine rein? Bei deiner letzten Entschuldigung hast du mir eine Beule verpasst.«

Ich gab mich bissig, um nicht in Tränen auszubrechen, wenn ich daran dachte, dass vielleicht ich es war, die Gregor die Informationen gegeben hatte.

»Das kannst du entscheiden, und nein, ich werde dich nicht schlagen.«

Ich wünschte mir, ich hätte seine Augen sehen können. Sie hätten mir seine wahren Gedanken eher verraten. Aber ich musste mich mit seiner Stimme begnügen, und die hatte Bones fest unter Kontrolle.

»Dann bring mich zur Toilette. Selbst ich merke, dass ich stinke.«

Ich hatte zwar keine Ahnung, wie lange ich ohnmächtig gewesen war, aber bloß kurz weggetreten war ich nicht. Meine Blase war am Platzen, und mein Mund fühlte sich pelzig an.

Bones’ Finger legten sich um meine. »Ich bringe dich hin.«

Da ich nicht gut blind durch die Gegend stolpern konnte, ließ ich mich von ihm führen.

In dem winzigen Waschbecken in der Toilettenkabine wusch ich mir die Haare. Was mit geschlossenen Augen übrigens eine interessante Sache war. Ich hatte nämlich darauf bestanden, die Augenbinde abnehmen zu dürfen. Bones stand die ganze Zeit über in der Tür und reichte mir, was ich brauchte. Den Geräuschen nach zu urteilen waren außer uns noch andere Passagiere an Bord. Von denen guckte zwar bestimmt keiner, aber bei offener Tür kam ich mir dennoch ausgeliefert vor. Als ich fertig war, gab Bones mir frische Kleidung.

Dann fütterte er mich. Mit jedem nach Hühnchen schmeckenden Bissen wurde meine Verzweiflung größer. So viel zu einer gleichberechtigten Partnerschaft. Im Augenblick war ich toter Ballast. Als Bones mir die vier Tabletten gab, schluckte ich sie gierig. Besser ohnmächtig als das.

Unbestimmte Zeit später weckte Bones mich erneut, und wir wiederholten die Prozedur. Das Geschaukel und Geschüttel sagte mir, dass wir noch immer an Bord eines Flugzeuges waren, aber vielleicht war es ein anderes. Die Triebwerke klangen heiserer. Wieder griff ich bereitwillig nach den Pillen und spülte sie hinunter, diesmal wollte ich nicht gefüttert werden. Ich würde nicht verhungern, nur genug Flüssigkeit musste ich zu mir nehmen. Bones legte sich nicht mit mir an. Er streichelte mir nur den Kopf, während ich darauf wartete, dass die Pillen ihre Wirkung taten.

Das Letzte, was ich hörte, bevor die Dunkelheit mich umfing, war: »… bald landen, Crispin.« Hörte sich an wie Spade. Vielleicht träumte ich aber auch schon.