22

In den zwölf Jahren seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, schien Cannelle keinen Tag gealtert zu sein. Nur ihr rötlich braunes Haar trug sie jetzt kürzer. Daher hatte sie vermutlich auch ihren Spitznamen. Cannelle. Das französische Wort für Zimt.

Sie saß auf einer Stahlbank, die eine ganze Wand des quadratischen, kastenartigen Raumes einnahm. Cannelle war nicht gefesselt, da Ian und Geri bei ihr waren. Für den Fall, dass sie es durch irgendein Wunder schaffen sollte, an ihnen vorbeizukommen, standen vor der Tür noch weitere Wachen. Sie hatte ein blaues Auge und von Mund und Schläfe tropfte Blut, aber sie wirkte nicht eingeschüchtert.

Als ich hereinkam, machte sie ein verdutztes Gesicht und lachte dann.

»Bonjour, Catherine! Ist lange her. Siehst endlich aus wie eine Frau. Ich bin sehr überrascht.«

Ich spürte, wie ein gemeines Lächeln sich auf meinen Lippen breitmachte. »Selber bonjour, Cannelle. Ja, ich habe jetzt einen Arsch und Titten, und noch einiges mehr. Was in zwölf Jahren doch so alles passieren kann, hm?«

Sie ging mir gleich an die Gurgel. »Glückwunsch zu deinem Geliebten, Bones. Qu’un animal, non? Ich muss sagen, sein Ruf wird ihm … nicht einmal im Ansatz gerecht.«

Miststück. Am liebsten hätte ich ihr das Grinsen aus dem Gesicht gewischt.

»Zu schade, dass deine Liebeskünste ihn nicht ganz so vom Hocker gerissen haben. Dass du ihn nicht mal mit der Aussicht auf eine ménage à cinq aus der Stadt hast locken können, ist schließlich kein Kompliment, oder?«

Ian kicherte schadenfroh. »Oh, die Damen haben noch eine Rechnung offen, was? Du fängst jetzt besser an zu singen, Schätzchen. Ich war noch sacht mit dir, aber Cat ist ziemlich aufbrausend. Die macht dich womöglich alle, bevor ich sie zur Vernunft bringen kann.«

»Die?« Cannelle wies mit einem geringschätzigen Fingerschnippen auf mich. »Das ist ein Kind.«

Mann, die hatte sich echt die Falsche ausgesucht.

»Gib mir das Messer da, Ian.«

Er reichte es mir, seine türkisblauen Augen blitzten. Geri wirkte ein wenig nervös. Cannelle zuckte nicht mit der Wimper.

»Du wirst mich nicht umbringen, Catherine. Du tust, als wärst du knallhart, aber ich sehe ein kleines Mädchen vor mir.«

Ian warf Cannelle einen erstaunten Blick zu. »Sie ist verrückt geworden.«

»Nein, sie sieht in mir nur die Person, die ich einmal gewesen bin. Gregor hat anfangs auch diesen Fehler gemacht.«

Ich lächelte Cannelle an und wirbelte das Messer von einer Hand in die andere. Ihre Augen verfolgten die Bewegung, sie wirkte unsicher.

»Weißt du noch, wie Gregor nicht wollte, dass ich mich in dieses große böse Miststück verwandele? Na ja, es ist doch passiert. Ich bin ziemlich in Eile, also sage ich dir jetzt, was ich mit dir machen werde. Ich werde dir mit diesem Messer die Hand durchbohren, und davon kannst du mich nur abhalten, wenn du auspackst, also bitte. Bitte. Sag nichts.«

Sie glaubte mir nicht. Als Ian sie am Handgelenk packte und ihre Hand flach auf die Bank drückte, sah sie mich immer noch mit diesem herausfordernden Blick an. Als ich das Messer über ihre Hand hielt und ihr noch eine letzte Chance gab auszupacken, dachte sie immer noch, ich würde bluffen. Erst als ich ihr die Klinge zwischen Gelenk und Finger in die Handfläche trieb und mit einem Ruck drehte, kapierte sie, dass es mir ernst war.

Und wollte gar nicht aufhören zu schreien.

»Tut weh, ich weiß«, sagte ich. »Mein Vater hat das letztes Jahr auch mit mir gemacht, und es war verdammt schmerzhaft. Spuren hat es auch hinterlassen. Als ich mir das Messer rausgezerrt hatte, waren meine Sehnen durchtrennt. Ich brauchte Vampirblut, um den Schaden zu beheben. Wird dir nicht anders gehen, Cannelle, sonst kannst du deine Hand vergessen. Du kannst dir also aussuchen, ob du auspackst und mit einem bisschen Vampirblut so gut wie neu bist. Oder den Mund hältst und dir die rechte Hand auch noch verstümmeln lässt.«

»Hilf mir! Hilf mir!«

»Sagst du uns dann, was wir wissen wollen?«

»Oui!«

Ich seufzte und zog ihr das Messer aus der Hand. »Ian?«

Cannelle war immer noch am Schreien, als Ian sich in die Hand schnitt und sie ihr auf den Mund legte.

»Hör auf rumzujammern und schluck.«

Gierig tat sie es. Augenblicke später waren die Blutung gestillt und die Wunde an ihrer Hand verschwunden.

Geri konnte den Blick nicht von Cannelles heilender Verletzung abwenden. Sie schauderte und rieb sich reflexartig selbst die Hände. Ich achtete mehr auf Cannelles Gesicht, weil ich herauskriegen wollte, ob sie Wort halten würde.

»Nachdem ich nun ausreichend klargemacht habe, wie schlecht gelaunt ich bin, können wir jetzt wohl zum Frage-und-Antwort-Spiel übergehen. Oh, und wenn du mich noch einmal dazu bringst, das Messer zu benutzen, gibt es für dich keine Behandlung mehr. Was hattest du im French Quarter mit Bones vor?«

Cannelle bewegte immer wieder ihre Finger und sah mich dabei entsetzt an. »Ihn ficken, naturellement. Ich wollte sicherstellen, dass du von seinem Treuebruch erfährst, dann hätte ich ihn zu Gregor gebracht. Marie weigert sich, Gregors Leute ins Viertel zu lassen, Gregor allerdings hat sie mitgeteilt, er könne kommen.«

Das waren mal Neuigkeiten. Ich hatte geglaubt, niemandem wäre der Zutritt erlaubt.

Auch Ian wirkte interessiert. »Wenn sie ihm Zutritt gewährt hat, warum hat Gregor sich dann nicht innerhalb des Viertels mit Bones getroffen und mit ihm gekämpft? Er will ihn doch unbedingt ausschalten.«

Cannelle zog die Mundwinkel herunter. »Gregor meint, Bones wäre eines fairen Kampfes nicht würdig.«

»Oder er hatte einfach Schiss und wollte sich bessere Chancen verschaffen«, murmelte ich.

»Gregor ist stärker als Bones«, zischte Cannelle, »aber warum sollte er seinem Feind in Anbetracht der Verbrechen, die er begangen hat, einen ehrenvollen Tod gewähren?«

Ich wollte mich mit Cannelle nicht über Gregors Charakter streiten. »Gregor hat also Marie, die Königin von New Orleans, auf seine Seite gezogen. Interessant.«

Cannelle zuckte mit den Schultern. »Marie hat gesagt, Gregor dürfte Bones nur außerhalb ihres Viertels überfallen. Deshalb hat sie ihm auch nicht erlaubt, die Altstadt in Begleitung seiner Truppen zu betreten. Marie wollte ihm auch nicht dabei helfen, Bones aus dem Viertel zu locken, aber am Ende hatte sie keine andere Wahl.«

»Hat er sie gezwungen?«

»Non, du verstehst das falsch. Er hat sie erschaffen. Sein Blut war es, das sie zur Ghula gemacht hat, und Gregor hat Maries anderen Erschaffer in der Nacht getötet, in der er sie verwandelt hat, also schuldet sie ihm allein die Treue. Gregor hat sich bereit erklärt, Marie für die Gefälligkeit, die sie ihm erwiesen hat, die Freiheit zu schenken, und sie will schon seit über hundert Jahren von Gregor unabhängig sein.«

»Und Bones vertraut Marie, weil sie einem bei Audienzen immer Schutz gewährt.« Dieser clevere Mistkerl.

Auf Cannelles Gesicht machte sich ein ausgewachsenes Grinsen breit. »Oui

Mein Zorn verwandelte sich in Eis. »War das alles, Cannelle? «

»Oui.«

Ich wandte mich an Ian. »Glaubst du, sie weiß noch was?«

Er erwiderte meinen Blick ebenso eisig. »Nein, Herzchen. Ich glaube, das war’s.«

Ich hatte immer noch das blutige Messer in der Hand.

»Cannelle«, sagte ich in scharfem Ton. »Ich werde dich umbringen. Ich sage dir das, damit du einen Augenblick Zeit hast, um zu beten, wenn du das willst, oder um nachzudenken, mir egal. Du hast meinen Mann in der festen Absicht verführt, ihn seinem Henker zu übergeben, und dafür gibt es in meinen Augen keine Entschuldigung.«

»Cat, nein«, mischte sich Geri ein.

Ich schenkte ihr keine Beachtung. Cannelle warf mir einen hämisch trotzigen Blick zu. »Bones ist aber nicht dein Mann, sondern Gregor.«

»Wortklauberei. Du verschwendest deine Zeit. Mach deinen Frieden mit Gott. Aber schnell.«

»Ich bin ein Mensch«, zischte sie. »Ein lebendes, atmendes Wesen. Du hattest vielleicht Mumm genug, mir wehzutun, aber mich zu töten, bringst du nicht übers Herz.«

Auch darauf reagierte ich nicht. »Marie hat sich durch ihr Tun ihre Freiheit erkauft. Was hat Gregor dir versprochen? Dass er dich in eine Vampirin verwandelt?«

Ein erneuter feindseliger Blick. »Oui. Das ist mein Lohn für all die Jahre, die ich ihm gedient habe.«

»Du hast aufs falsche Pferd gesetzt«, stellte ich fest. »Du wirst keine Vampirin, Cannelle, aber ich lasse dich sterben wie eine.«

Sie erhob sich. »Das wagst du nicht. Gregor würde dich umbringen.«

Dann senkte sie den Blick. Das Silbermesser steckte ihr in der Brust. Es vibrierte sogar noch ein paar Augenblicke während ihrer letzten Herzschläge. Cannelle betrachtete erstaunt den zitternden Griff, bevor ihre Augen glasig wurden und ihre Knie nachgaben.

Ich stand über ihr und spürte noch immer diese entsetzliche Kälte in mir.

»Mag sein, dass Gregor mich jetzt umbringt, Cannelle. Das Risiko gehe ich ein.«

 

Ich machte mich auf zu Don. Er war mit seinen eigenen Abreisevorbereitungen beschäftigt. Ich wusste nicht, wo meine ehemalige Einheit jetzt stationiert war, und das war mir auch ganz recht so. Ich hätte es Gregor durchaus zugetraut, diese Information zu seinem Vorteil auszunutzen. Don ging es nicht anders. Deshalb rückte nach meiner Abreise auch unsere gesamte Division ab.

Vlad war in Dons Büro. Als ich eintrat, verstummten die beiden. Ich schmunzelte.

»Geht’s noch auffälliger? Kommt schon, Jungs, was habt ihr besprochen? ›Wird Cat einen Zusammenbruch erleiden?‹ oder ›Selbstmordverhinderung leicht gemacht‹? Macht euch keinen Kopf. Ich bin okay.«

Mein Onkel hüstelte. »Stell dich nicht so an. Wir haben uns gerade darüber unterhalten, wie man mit dir in Kontakt treten kann. Eine Postkarte kann man dir ja schlecht schicken, und Vlad meinte, du würdest bei ihm wohnen.«

Ich warf Vlad einen Blick zu, der herausfordernd gewesen wäre … hätte ich nicht gerade erst Stunden mit leerem Magen in einem Flugzeug über dem Atlantik zugebracht, kaum geschlafen und einen Blutdruck von hundertachtzig gehabt.

»Fürs Erste.«

Vlad lächelte, er wirkte gleichzeitig arrogant und belustigt. »Die Entscheidung liegt bei dir, Cat. Ich zwinge dich zu nichts.«

Don sah zwischen uns beiden hin und her, seine grauen Augen wurden schmal. Sie hatten die gleiche rauchige Farbe wie meine, und gerade blitzten sie misstrauisch.

»Geht zwischen euch beiden irgendetwas vor, das ich wissen müsste?«

»Geht mit dir irgendetwas vor, das sie wissen müsste?«, gab Vlad zurück.

Jetzt war ich es, die von einem zum anderen sah. »Was?«

Don hüstelte und warf Vlad einen bösen Blick zu. »Nichts.«

Vlad schnaubte verächtlich. »Dann habe ich dir auch nichts zu sagen, Williams.«

Ich wollte schon fragen, was das Ganze eigentlich zu bedeuten hatte, da rückte Don mit der Sprache heraus.

»Cat, du hattest mich doch gebeten herauszufinden, ob diese Traumunterdrückungspillen Nebenwirkungen haben. Ich habe bei der Pathologie nachgefragt, und die meinen, du könntest vielleicht unter Depressivität, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Paranoia und chronischer Müdigkeit leiden. Konntest du irgendetwas davon an dir feststellen?«

Ich dachte an die letzten paar Gelegenheiten, bei denen ich mit Bones zusammen gewesen war, und brach unwillkürlich in irres Gelächter aus.

»Ja. Alles, was du gerade aufgezählt hast, und zwar gleichzeitig. Diese Informationen wären mir vielleicht vor ein paar Wochen nützlich gewesen, jetzt allerdings nicht mehr.«

Ich würde die Pillen nie wieder nehmen. Lieber wollte ich meinen eigenen Aufenthaltsort nicht kennen, als mir noch einmal die Nebenwirkungen anzutun, die dazu beigetragen hatten, Bones und mich auseinanderzubringen. Don ahnte wohl, was ich dachte, denn er warf mir einen traurigen Blick zu.

Der Augenblick war vorbei, als Cooper ins Büro gestürmt kam. »B4358 im Landeanflug.«

»Was?«, raunzte mein Onkel. »Die haben keine Landeerlaubnis! «

Ich machte große Augen. Das war die Kennung von Daves Maschine. Die, in der Bones und Spade saßen.

»Ich weiß, Sir. Der Tower hat sie angewiesen, nicht zu landen, aber angeblich hat sich ein Brite eingeschaltet und dem Lotsen gesagt, er solle die Klappe halten, sonst würde er ihn windelweich prügeln.«

Bones. »Wir müssen weg«, wandte ich mich an Vlad. »Sofort. «

»Lauf, Forrest, lauf!«, witzelte Vlad.

»Klappe, Dracula«, fuhr ich ihn an. »Ob du mitkommst oder nicht; ich bin in der Luft, bevor er aus dem Flieger steigt.«

»Ich komme mit. Williams«, Vlad nickte meinem Onkel zu, »leb wohl. Die wenigsten Leute haben genug Durchhaltevermögen, einen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen.«

Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, meinen Onkel zu umarmen. Ich war schon im Flur, als ich ihm ein »Danke, tschüss!« über die Schulter zurief.

»Pass auf dich auf, Cat«, gab Don mir noch mit auf den Weg.

Ich würde mein Bestes tun.

 

Ich war einem Zusammentreffen mit Bones nur ganz knapp entgangen und wusste, dass ich davon Alpträume haben würde, was nichts mit dem Gespenst an Bord zu tun hatte. Cooper hatte unser Flugzeug betankt, während ich mit Cannelle beschäftigt gewesen war, also hatten wir in dieser Hinsicht keinen Zeitverlust. Vlad beeilte sich und stieg kurz nach mir ein, Fabian krallte sich an seiner Schulter fest. Mir wäre es so weit ganz gut gegangen, wenn ich nicht gezwungen gewesen wäre, aus dem kleinen Fenster der zweimotorigen Maschine zu sehen, als wir abhoben. Unser Flieger stieg genau in dem Augenblick in die Luft, als die Tür der anderen Cessna aufging und eine schmerzlich vertraute Gestalt heraustrat.

Einen verrückten, herzzerreißenden Augenblick lang hatte ich das Gefühl, Bones würde mich direkt ansehen.

»Warum höre ich im Geist den Soundtrack von Casablanca ?«, fragte Vlad in ironischem Tonfall.

Ich sah von der Landebahn weg. »Bist ein richtiges Kinolexikon, was?«

»Und du bist der Junge, der Zeter und Mordio schrie. Wenn du schon verkündest, dass es vorbei ist, dann halte dich auch daran und hör auf, ständig falsche Losungen rauszubrüllen, die du dir selbst nicht glaubst.«

Gottverfluchter herzloser rumänischer Usurpator! Warum saß ich überhaupt mit ihm im Flugzeug? Warum machte ich mich nicht allein vom Acker, ab in den Regenwald, wo ich mich einsam und allein verkriechen konnte, bis Gregor, die Ghule und alle anderen mich genauso gründlich vergessen hatten wie Bones?

Ich warf noch einen letzten Blick aus dem Fenster. Wir waren jetzt so hoch, dass ich wirklich nicht mehr feststellen konnte, ob er uns noch nachstarrte … oder den Kopf weggedreht hatte wie ich.

»Du hast recht«, sagte ich zu Vlad.

Er streckte die Hand aus. Die Narben darauf legten stummes Zeugnis ab von den Schlachten, die er jahrzehntelang geschlagen hatte, und das nur zu Zeiten, als er noch ein Mensch gewesen war.

Ich ergriff sie, froh dafür, mich an irgendetwas festhalten zu können, und gleichzeitig wütend über mich selbst, weil ich so fühlte. Wie schwach ich doch war.

Vlad drückte meine Hand. »Ich will gerade auch nicht allein sein«, meinte er, und so wie er das sagte, klang es ganz vernünftig und gar nicht wie etwas, für das man sich schämen musste.

Ich seufzte. Hast wieder recht, Kumpel. Schon zum zweiten Mal heute.