18

Annette ließ das Rollo wieder herunter. »Es regnet. Ich habe dir ja gesagt, dass ich es riechen kann.« Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Packung Eiskrem vor mir. Sie war fast leer. Als Nächstes würde ich mir die Schweizer Schokolade vornehmen.

»Was das Wetter angeht, kann man dir nichts vormachen.«

»Wir sehen uns einfach den Film an, statt spazieren zu gehen«, fuhr Annette fort. »Der soll gut sein.«

Gut? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was das war. Ich war völlig am Ende. Nicht mal schlafen konnte ich länger als ein paar Minuten am Stück, so erschöpft ich auch war, aus Angst, Bones könnte doch noch einmal zurückkommen und ich könnte einen Augenblick mit ihm verpassen. In meinem Elend tröstete mich nur die Tatsache, dass meine Mutter nicht da war. Sie war bei Rodney, wo, wusste ich aus offensichtlichen Gründen nicht.

»Crispin braucht Zeit«, hatte Spade nach unserer schlimmen Auseinandersetzung gesagt. »Renn ihm nicht nach. Selbst ich weiß nicht, wo er ist.«

Also hatte ich gewartet und über jede einzelne Gemeinheit nachgedacht, die er mir an den Kopf geworfen hatte. Das Schlimmste war, dass das meiste davon stimmte. Es war nicht meine Absicht gewesen, einen Keil zwischen Bones und mich zu treiben. Ich wusste selbst nicht, warum ich bestimmte Seiten meiner Persönlichkeit vor ihm verbarg. Am meisten wünschte ich mir allerdings, ich wäre an diesem Morgen nicht mit Gregor gegangen.

Und Gregor war fleißig gewesen. Ihm reichte die Zerstörung noch nicht, die er angerichtet hatte, und so hatte er den Gerüchten, ich würde mich ohne sein Eingreifen womöglich in eine Kreuzung aus Vampir und Ghul verwandeln, neue Nahrung gegeben. Auf diese Weise hatte er auch die über zweihundert Ghule auf seine Seite gezogen, mit denen er uns in Bayern angegriffen hatte. Gregor hatte den Ghulen versprochen, er würde mich in einen Vampir verwandeln, wenn er mich erst in seiner Gewalt hätte. Er hatte sogar die Stirn zu behaupten, wenn Mencheres mich damals nicht entführt und ihn eingebuchtet hätte, wäre ich schon längst eine Vampirin und heute nicht so gefürchtet.

Allerdings hatte Gregor mich mit schlagendem Puls ziehen lassen. Nun hieß es, er stünde ebenfalls unter meinem Einfluss. Niemanden interessierte es freilich, dass Gregor gar keine andere Wahl gehabt hatte, als mich gehen zu lassen. Der Silberdolch in seinem Rücken hatte ihm die Entscheidung abgenommen.

Die allgemeinen Befürchtungen, ich könnte mich in ein Mischwesen verwandeln, wurden noch dadurch verstärkt, dass ich in Paris so hoch gesprungen war. Wer hätte gedacht, dass das so viel zusätzliche Paranoia auslösen würde? Da allerdings nur Meistervampire fliegen konnten, und ich dieses Kunststück beinahe auch vollbracht hatte (zwar nur einmal, aber immerhin), fragten sich die Leute, welche Fähigkeiten ich vielleicht sonst noch verbarg. Es bestärkte sie in ihrer Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn meinem Repertoire auch noch ghulische Kräfte hinzugefügt würden. Wäre ich unbesiegbar? Unvernichtbar? In der Lage, mit einem Satz auf Hochhäuser zu springen und die Erddrehung umzukehren, sodass die Zeit rückwärtslief? Die Theorien wurden immer wilder und abgedrehter.

Was kaum jemand wusste, war, dass ich im Augenblick lediglich eine Gefahr für Süßigkeiten jeder Art darstellte. Im Alkohol hatte ich bereits vergeblich Trost gesucht. Nun war der Zucker dran, aber mein Schmerz war groß, und es gab noch nicht einmal annähernd genug Süßes.

»Wann kommt Spade zurück?«, erkundigte ich mich bei Annette. Er hatte sich mit der knappen Bemerkung verdrückt, er hätte noch zu tun. Niemand sagte mir etwas, das gegen mich verwendet werden konnte. Alle wussten, dass Gregor nach wie vor in meinen Gedanken herumschnüffelte, obwohl ich kaum geschlafen hatte und es für ihn wenig Interessantes zu entdecken gab. Ich wusste nicht, wo wir uns befanden. Wie viele Leute bei uns waren. Welchen Tag wir hatten. Aber das war mir eigentlich auch scheißegal. Ich wusste nur eins: Bones hatte mich vor fünf Tagen verlassen. So maß ich die Zeit. In den Minuten und Sekunden, die vergangen waren, seit ich zuletzt in seiner Nähe gewesen war.

»Wenn es dunkel ist«, antwortete sie.

Fabian kam nach unten und setzte sich – wenn man es denn so nennen konnte – neben Annette. Der Geist lächelte sie auf eine Art und Weise an, die man nur als vernarrt bezeichnen konnte.

Ich verdrehte die Augen. Selbst die Gespenster standen anscheinend auf Annette. Wahrscheinlich hatte sie eine Möglichkeit gefunden, mit ihm Sex zu haben. Er war zwar so durchsichtig und körperlos wie eine Teilchenwolke, aber wenn irgendwer so etwas fertigbrachte, dann Annette.

»So ein reizender Kerl«, bemerkte sie. »Ach, Cat, du hast vielleicht einen Trend ausgelöst. Ich fürchte, ich werde ihn dir entführen müssen, wenn ich abreise.«

Es kostete mich eine Menge Willenskraft, nicht zu fragen: »Und wie bald wird das sein?« Schließlich wollte ich mich bemühen, nicht alles, was mir durch den Kopf ging, gleich laut auszusprechen.

»Annette, ich denke, ich werde lieber etwas lesen. Du kannst dir den Film ja allein ansehen.«

Auf halber Treppe lief ich Vlad über den Weg. Er hatte gesagt, er würde wieder gehen, wenn alles im Lot wäre. Bestimmt hatte er nicht gedacht, dass sein Aufenthalt so lange dauern würde.

Als ich fast am Schlafzimmer angekommen war, hörte ich mein Handy klingeln. Ich hechtete durch die Tür und stürzte mich förmlich darauf.

»Bones?«

»Nein, chérie. Hoffst du immer noch auf die Rückkehr deines Geliebten? Wie amüsant.«

Gregor. Der hatte mir gerade noch gefehlt.

»Was gibt’s, Schatz?« Mein Tonfall war sarkastisch. »Wie ich sehe, schnüffelst du immer noch in meinen Träumen herum. Hast du dich bei deinen Ghulen schon genug dafür entschuldigt, dass ich immer noch Luft statt Blut sauge? Kaum denkst du, du hast das kleine Frauchen in die Enge getrieben, ups, da entfällt dir, dass sie ein Messer hat.«

»Du hättest bei mir bleiben und dir die Demütigung, dich in die Reihen der Verflossenen dieses Dorfstrichers einzugliedern, ersparen sollen«, gurrte er. »Während du Bones nachweinst, treibt er es mit anderen Frauen.«

»Lügner. Bones ist vielleicht sauer auf mich, aber das hat er nicht nötig. Das verstehst du natürlich nicht.«

Gregor lachte nur. »O Catherine, bald wirst du sehen, wie sehr du dich täuschst. Hast du wirklich geglaubt, er hätte sich geändert? Er hat einen Ausweg gesehen und seine Chance genutzt.«

Ich legte auf, kurz davor, auf dem Handy herumzutrampeln. Nur die Angst, Bones könnte anrufen, während das Ding kaputt war, hielt mich davon ab. Mein Atem ging so schwer, als wäre ich gerannt. Als Vlad an den Türrahmen klopfte, wirbelte ich herum und packte ihn an den Schultern.

»Weißt du, wo Bones ist? Sag die Wahrheit!«

Vlads Blick wanderte zu seinem zerknitterten Hemd, als wollte er sagen: Ich darf doch sehr bitten.

»Nein, Cat. Willst du mich jetzt schütteln?«

Ich ließ die Hände sinken und ballte frustriert die Fäuste. »Dieser Bastard spielt mit mir. Er kennt meine größte Angst und benutzt sie, um mich zu verletzen!«

»Gregor?«, fragte Vlad ruhig. »Oder Bones?«

Ich hörte auf, hin und her zu tigern und warf ihm einen forschenden Blick zu.

»Ich meinte Gregor, aber … vielleicht hast du nicht unrecht.«

Vlad lächelte. »Und was willst du jetzt machen?«

»Spade schütteln, wenn er zurückkommt«, antwortete ich grimmig.

 

Spade schaffte es gerade mal durch die Haustür, da hatte ich ihn auch schon am Kragen gepackt.

»Du wirst dich jetzt mit Bones in Verbindung setzen und ihm sagen, dass er erreicht hat, was er wollte. Ich war vielleicht im Unrecht, aber sein Verhalten ist grausam, und mir reicht’s.«

Spade wischte meine Finger weg, als wären sie Fussel. »Konntest du mir das nicht sagen, ohne mein Hemd zu zerknautschen? «

»Erhöht den Aufmerksamkeitsfaktor«, gab ich zurück. »Nur für den Fall, dass du es nötig hattest.«

Vlad stand zusammen mit Fabian und Annette in einer Zimmerecke. Alle drei warteten gespannt auf Spades Reaktion. Ich hatte ein paar Möbelstücke aus dem Weg geräumt, für den Fall, dass er nicht mitspielen würde. Kein Grund, gleich die ganze Bude in Schutt und Asche zu legen.

»Cat«, fing Spade an, »lass mir noch ein paar Tage Zeit.«

»Falsche Antwort«, lächelte ich und verpasste ihm eine.

Vielleicht hatte ihn das Lächeln getäuscht. Der Schlag ließ seinen Kopf zur Seite schnellen, dann ging ihm auf, dass ich es ernst meinte. Seine Körperhaltung war nun alles andere als locker, und er machte vorsichtshalber einen Schritt rückwärts, während er kampfbereit die Finger dehnte.

»So einfach geht das nicht, aber ich kann dir nicht erklären, warum.«

»Dann lass dir was einfallen.«

»Ich brauche noch ein bisschen Zeit.«

Da dämmerte es mir. Ich blieb stehen und lachte jäh auf.

»Oh, ich verstehe. Du kannst ihn nicht erreichen, oder? Deshalb die Verzögerungstaktik. Du weißt nicht, wo er ist!«

Spade fluchte. »Gut gemacht, Gevatterin! Sobald du schläfst, wird Gregor das erfahren. Willst du Crispin zum Abschuss freigeben?«

»Wie lange schon?«, bohrte ich weiter; leichte Angst kam in mir auf. »Weißt du überhaupt, wo er hinwollte?«

»Ich werde keine weitere Information preisgeben, die vielleicht eine Gefahr …«

»Und ob du das wirst«, fiel ich ihm ins Wort. Angst und Wut ließen meinen Tonfall schärfer werden. »Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wenn ich wach bleiben muss, bis diese Angelegenheit aus der Welt geschafft ist, dann mache ich das. Ich breche den Weltrekord im Wachbleiben, wenn es sein muss, aber du wirst mit der Wahrheit rausrücken, und zwar jetzt

Spades Lippen wurden schmal. Smaragdenes Grün flammte in seinen gelbbraunen Augen auf, und der Blick, den er mir zuwarf, war kalt wie Stahl.

»Das Versprechen solltest du halten, weil ich dich sonst nämlich persönlich zur Verantwortung ziehe.«

Was mir Spade dann sagte, ließ meine Gefühle Achterbahn fahren. Ja, prinzipiell wusste er, wie man mit Bones Kontakt aufnehmen konnte. Noch bevor ich mit Vlad zurückgekommen war, hatte Bones ihm mit knappen Worten eine Nummer gegeben, über die er im Notfall zu erreichen war; wo er hinwollte, hatte er nicht gesagt. Vor zwei Tagen hatte Spade ihm eine Nachricht hinterlassen, in der er sich erkundigte, wann er zurückkommen würde. Er hatte keinen Rückruf erhalten. Spade hatte dann versucht, über Piepser, E-Mail und einige vertrauenswürdige Freunde mit ihm in Verbindung zu treten. Niemand hatte von Bones gehört.

»Ich habe diskrete Erkundigungen eingezogen, heute auch, als ich fort war, und ich denke, er ersucht um eine Audienz bei Marie«, schloss Spade. »Rodney sagt, er hätte vor drei Tagen mit Crispin gesprochen, und der hat etwas über die Hitze in New Orleans gesagt. Warum sollte er sonst dort sein? Ich habe Rodney als Kundschafter hingeschickt. Das ist alles, was ich weiß.«

»Warum hast du nicht einfach Liza angerufen und sie gefragt, statt abzuwarten, bis Rodney dort ist?«

»Ich habe Liza angerufen.« Spades Kiefer mahlten. »Sie hat mir gesagt, Marie hätte ihr vor einer Woche befohlen, das French Quarter zu verlassen, und sie hätte nicht einmal die Erlaubnis erhalten, mit jemandem dort Kontakt aufzunehmen. Marie hat Liza keine Gründe genannt; sie hätte nur gemeint, dass sie sie wissen lassen würde, wann sie wiederkommen könnte.«

»Wann hast du das herausgefunden? Wie konntest du mir das bloß verschweigen?«

»Crispin hat mich ausdrücklich angewiesen, dich aus der Sache herauszuhalten«, verteidigte sich Spade. »Als du dich das letzte Mal heimlich vom Acker gemacht hast, ist es nicht gut ausgegangen, oder? Ich würde sagen, diesmal übst du dich in Geduld. Ist das Beste für dich.«

Ich wollte ihm schon die Hölle heißmachen, da hielt mich mein schlechtes Gewissen zurück. Er hat recht. Letztes Mal bist du davongelaufen, und das sind jetzt die Konsequenzen. Vielleicht hat Bones im Augenblick einfach keine Möglichkeit, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Sollen sie es auf ihre Weise machen. Wir warten ab, bis Rodney anruft.

»Okay.« Ich setzte mich. »Wir warten ab, bis wir was von Rodney hören.«

Spade warf mir einen wachsamen Blick zu, als erwartete er, ich würde meine Meinung ändern. »Er wird bestimmt bald anrufen.«

»Bald« war am Ende fünf Stunden später. Rodneys Stimme war schon für jedermann zu hören, bevor Spade den Apparat auf laut stellte. Er brüllte.

»Dort ist die Hölle los, die haben das French Quarter komplett abgeriegelt! Majestic lässt nur Sterbliche passieren, keinen, der zu einer Vampir- oder Ghulsippe gehört. Ich weiß nicht, ob Bones dort ist.«

»Wie macht sie das?« Spade wirkte verdutzt. Ich war auch perplex. Wie konnte Marie einen ganzen Stadtteil abriegeln?

»Überall im French Quarter sind Ghule und Polizisten unterwegs, die angeblich nach einem entführten Kind suchen. Da heißt es kehrtmachen, oder man wünscht sich, man hätte es getan. Ich hab’s am Fluss versucht, aber der ist auch bewacht. Marie spielt nicht. Wir müssen was anderes versuchen. «

Annette wurde bleich.

»Sie haben die Polizei eingeschaltet«, hauchte ich. Tausend Ideen schossen mir durch den Kopf. Ich könnte jemanden aus meinem alten Team bitten, hinzugehen und die Lage zu checken. Das sind Sterbliche, und Befugnis von ganz oben haben sie auch … aber dann weiß jeder, dass wir dahinterstecken. Wir brauchen jemand anderen.

Ich griff zu meinem Handy. Ich erwartete einen großen Gefallen, der sich als komplette Zeitverschwendung erweisen konnte, aber ich wollte trotzdem fragen. Sollte man sich in der Not nicht auf seine Familie verlassen können?

»Don«, sagte ich, als mein Onkel abhob. »Falls du schon ein Geburtstagsgeschenk für mich suchst, hätte ich das perfekte Präsent für dich. Ich gebe dir jetzt Spade und stopfe mir die Ohren zu, während er dir erzählt, wo wir sind. Dann bitte ich dich, sofort einen Flieger zu schicken, der einen Geist nach Louisiana bringen kann. Lass ihn einfach irgendwo in der Nähe von New Orleans raus, ab da schafft er es alleine.«

»Cat?« Don wartete ein paar Augenblicke ab, bevor er antwortete. »Hast du getrunken?«

Ein zittriges Lachen entfuhr mir. »Ich wünschte, es wäre so.«

 

Wieder wartete ich. In letzter Zeit schien das alles zu sein, wofür ich zu gebrauchen war. Spade rief noch ein paar Bekannte an, um sicherzustellen, dass wir auch wirklich überall versucht hatten, etwas über Bones’ Verbleib in Erfahrung zu bringen. Aber keiner hatte ihn gesehen. Wenn man nicht direkt nach Bones fragen wollte, war das eine mühsame und frustrierende Angelegenheit.

Als dann ein Wagen vorfuhr, rannte ich ans Fenster und betete, dass es Bones war. Er war es nicht, und meine Überraschung hätte größer nicht sein können, als ich sah, wer stattdessen hereinkam.

Tate, der Hauptmann meines früheren Teams und ein alter Freund von mir, trat ins Zimmer und kam direkt zu mir, als gäbe es die anderen gar nicht. »Wie konntest du mir von alledem nichts erzählen?«, wollte er wissen.

Sowohl Spade als auch Vlad warfen Tate böse Blicke zu. Für mich mochte Tate ein Freund sein, für sie nicht. Ich zog seine Hände weg, bevor jemand ihm noch einen Silberdolch ins Herz stieß.

»Ich wusste nicht, dass Bones verschwunden war, ich dachte, er wäre bloß sauer.«

Tate schnaubte verächtlich. »Nicht das mit dem Gruftie. Der interessiert mich einen Scheißdreck. Ich meine die Sache mit dir und dem Vampir, der laut Don seit Wochen hinter dir her ist.«

Oje. Tate war sauer, weil ich ihm nichts von Gregor gesagt hatte? Das hatte mir gerade noch gefehlt.

»Weil ich dich kaum gesehen habe, seit ich nicht mehr für Don arbeite. Willst du mir jetzt helfen? Im Gegensatz zu dir kümmert es mich nämlich sehr wohl, dass Bones verschwunden ist.«

»Er ist nicht verschwunden«, verkündete Tate kühl. »Er ist bloß ein Arschloch.«

Als er das gesagt hatte, hatte er noch aufrecht gestanden, einen Augenblick später lag er schon am Boden und starrte zu uns hoch. Spade stand drohend über ihm. Die Wut, die er ausstrahlte, ließ mich dazwischengehen.

»Du hast deinen Standpunkt klargemacht.«

»Crispin ist nicht hier und kann sich nicht gegen diese Beleidigungen wehren. Und ich werde nicht tatenlos mit anhören, wie er schlechtgemacht wird«, gab Spade zurück, die Hand am Silbermesser.

»Dein Macker ist nicht verschwunden«, sagte Tate noch einmal, während er sich aufrappelte. »Er ist im French Quarter, genau wie du gedacht hast, und falls er gegen seinen Willen dort festgehalten wird, macht er auf jeden Fall das Beste daraus.«

»Wovon redest du?«

Tate warf mir einen mitleidigen, aber strengen Blick zu, und zog einige Papiere aus seinem Mantel hervor.

»Satellitenaufnahmen. Ich habe sie ausgedruckt, bevor ich hergekommen bin, sie sind also ein bisschen unscharf, aber es steht außer Frage, dass er es ist. Siehst du die Zeitangabe? 23:32 Uhr gestern Nacht, Ortszeit. Auf mich macht Bones einen ganz munteren Eindruck.«

Spade und ich breiteten die Aufnahmen auf dem Tisch aus. Die erste zeigte die Bourbon Street. Nicht sehr deutlich, aber ja, es war Bones. Er lief mitten auf der Straße, selbst aus den Menschenmassen stach er heraus.

Gott sei Dank, war mein erster Gedanke.

Ich sah mir das nächste Foto an. Es zeigte Bones vor seinem Haus, wenn ich mich recht an das Gebäude erinnerte. Und er hatte eine Frau im Arm.

Ein leises Knurren entfuhr mir. Ich nahm mir das nächste Blatt vor. Beim dritten Bild fluchte ich lauthals und schleuderte Spade die Aufnahme beinahe entgegen.

»Brauchte ein bisschen Zeit für sich allein, hm? Interessant, dass er dazu Gesellschaft nötig hat!«

Die letzte Aufnahme zeigte nur einen Teil von Bones’ Gesicht. Er stand in dem Torweg, der zu seiner Haustür führte. Die Schlampe hatte sich jetzt an ihn geschmiegt; dass es die gleiche Frau war, konnte ich an ihrem Outfit erkennen, und sein Gesicht war nur zum Teil zu sehen, weil er sie küsste.

»Der Mistkerl geht fremd«, verkündete Tate mit tonloser Stimme. »Seit die Aufnahme gemacht wurde, ist er den Satellitenbildern zufolge nicht mehr aus dem Haus gekommen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass wir den Satelliten bald wieder seiner eigentlichen Aufgabe entsprechend einsetzen müssen, Cat. Don lehnt sich für dich ziemlich weit aus dem Fenster.«

»Verdammte Scheiße«, grollte ich.

»Das beweist gar nichts«, mischte Spade sich ein, der sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Wir wissen nicht, was da abläuft oder wer die Frau ist. Sie könnte eine Kontaktperson sein, dann wäre die Sache ein Trick.«

»Oh, Kontakt haben die zwei, das kann man wohl sagen.« Am liebsten hätte ich die Fotos ganz genau unter die Lupe genommen und sie gleichzeitig zerfetzt.

»Volle Kanne«, murmelte Tate.

»Ruhe«, schnauzte Spade Tate an und wandte sich dann in gemäßigterem Tonfall an mich. »Crispin würde dich nicht auf diese Weise betrügen, egal wie sauer er ist. Es gibt eine Erklärung dafür. Lass Fabian hingehen und sie finden.«

Unter meiner Wut war ich zutiefst verletzt. Ich wollte glauben, dass alles ein Missverständnis war. Aber tief drinnen verspürte ich trotzdem diese leise, bohrende Angst. Was, wenn es nicht so war?

»Okay.« Ich presste meine Antwort hervor, während es in meinem Kopf zu hämmern begann. »Fabian, du machst dich auf den Weg nach New Orleans und suchst nach Bones. Er soll dir erklären, wer die Schnalle ist. Ich warte ab, was er sagt.«

»Hast du sie nicht alle?«, fuhr Tate mich an. »Hast du die Fotos nicht gesehen? Was willst du denn noch, Live-Material? «

»Das kann auch lügen«, brüllte ich zurück.

Meine Augen brannten, aber ich weinte nicht. »Das habe ich auf die harte Tour rausfinden müssen, und ich mache nicht zweimal den gleichen Fehler.«

Tate starrte mich nur ungläubig an. »Du bist eine Närrin«, sagte er und verließ empört das Zimmer.

»Ich gebe dir Bescheid«, versprach Fabian.

»Bitte.« Ich warf noch einen Blick auf die Fotos. »Egal, was los ist.«