20

Der Prozess der Trauerbewältigung läuft in fünf Phasen ab, heißt es. Erst will man es nicht wahrhaben. Die Phase hatte ich inzwischen mehr als überwunden. Dann kommt die Wut, und Mann, ich war stinkwütend. Konntest dir nicht mal ein paar Tage Zeit lassen und alles überdenken, abwarten, bis sich der Staub gelegt hat, was? O nein, du nicht, Bones! Sitzt schon wieder fest im Sattel, hm, Cowboy?

Dann macht man sich doch wieder Hoffnung, vermutlich die erbärmlichste der fünf Phasen, in der ich mich befand, als ich auf dem Weg zu meinem unbekannten Ziel im Flieger saß. Er soll zurückkommen. Ich liebe ihn so, und er hat mich auch geliebt. Vielleicht lässt sich alles wieder geradebiegen …

Scheiß drauf!, dachte ich und fiel in die wütende Phase zurück. Ich habe immer gewusst, dass Bones sich nicht ändern wird. Die Katze lässt das Mausen nicht, so heißt es doch, oder? Hat keine Frau, hm? Du kannst mir gestohlen bleiben.

Falls der Vampir auf dem Nebensitz meine schizophrenen Gedanken mit anhörte, ließ er es sich nicht anmerken. Vlad piff vor sich hin, während meine Emotionen Achterbahn fuhren. Als er verkündete, dass wir am Zielort angekommen wären, hatte ich mich schon in eine ausgewachsene Depression hineingesteigert.

Oder anders ausgedrückt, in Phase Nummer vier.

Der Wagen hielt an, und ich hörte Leute näher kommen. Alle hatten keinen Herzschlag.

Die Autotür auf meiner Seite öffnete sich. Jemand zupfte an meiner Hand. »Lass die Augen noch ein bisschen zu. Ich führe dich nach drinnen.«

Ein paar vorsichtige Schritte später blieben wir stehen.

»Du kannst die Augen aufmachen, Cat.«

Ich tat es. Wir standen in einer Art langem Korridor, der uralt wirkte. Die Decken waren sehr hoch. Ich kam mir vor wie in einem kitschigen Schauerroman.

Vlad lächelte. »Treten Sie frei und freiwillig ein, sollte ich wohl sagen.«

Ich ließ die Blicke durch den Korridor schweifen. »Ich bleibe nur ein paar Tage, um einen klaren Kopf zu bekommen.« Und mein gebrochenes Herz zu flicken.

»Bleib, so lange du willst. Schließlich hast du noch Schulden bei mir. Dann habe ich mehr als ein paar Tage Zeit, um sie einzutreiben.«

Ich warf ihm einen müden Blick zu. »Würde ich nicht drauf wetten.«

Eins musste man dem ungekrönten Fürsten der Finsternis lassen. Sein Personal war weder faul noch unaufmerksam. Nachdem ich von einem Vampir namens Shrapnel auf mein Zimmer gebracht worden war, fragte ich ihn, welche plasmafreien Drinks sie im Angebot hätten. Shrapnel zählte sie mir nicht einfach auf, er brachte mir alles, was der Kühlschrank an Flüssigem hergab. Als ich ihm sagte, ich hätte auch selbst hinuntergehen und nachsehen können, starrte er mich an, als hielte er mich für verrückt.

Womit er vermutlich nicht mal ganz falschlag.

Vlad leistete mir jeden Abend beim Essen Gesellschaft, obwohl er nichts zu sich nahm. Tagsüber sah ich ihn kaum, er hatte wohl zu tun. Sicher wusste ich das natürlich nicht. Die meiste Zeit verbrachte ich grübelnd in meinem Zimmer und gab mich meinen wilden Stimmungsschwankungen hin, von Wut auf Bones bis hin zu Selbstvorwürfen. War unsere Beziehung schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, weil Bones von seinem ausschweifenden Liebesleben nicht lassen konnte? Oder wäre alles noch in bester Ordnung, wenn ich nicht mit Gregor abgehauen wäre? Ich wusste es nicht, und die Ungewissheit nagte an mir.

Um neun Uhr ging ich ins Speisezimmer. Das Abendessen wurde aus offensichtlichen Gründen spät gereicht. Vlad saß schon am Tisch. Er trug sein langes braunes Haar offen und frisch gebürstet und drehte den Stiel seines Weinglases zwischen den Fingern, als ich mich wie üblich zu ihm setzte.

Ich nahm mir von den aufgetragenen Gerichten. Lammkarree an Rosmarin, marinierter Spargel mit Mangosalsa und rote Kartöffelchen. Vlad sah nur zu und trank seinen Wein. Durch das Zusammenleben mit einem Vampir war ich daran gewöhnt, vor Publikum zu mampfen, und hatte keinerlei Hemmungen.

Nachdem ich eine Weile stumm vor mich hin gekaut hatte, legte ich eine Pause ein. »Das Lamm ist echt gut. Magst du wirklich nicht mal probieren?«

»Ich esse bald.«

Etwas an seiner Stimme ließ mich mit der Gabel in der Luft erstarren, bevor ich den nächsten Bissen aufspießen konnte. Vlad machte nicht den Eindruck, als würde er sich auf das Festmahl auf dem Tisch beziehen.

»Sagst du das jetzt nur so, oder willst du mich schon mal vorbereiten?«

»Ich will sehen, wie du reagierst.« Er legte den Kopf schief. »Deine Augen sind heute schon weniger geschwollen. Und du wirkst auch nicht mehr so niedergeschlagen. Bedeutet das, du hast dich endlich damit abgefunden, dass Bones dich verlassen hat?«

Es war in den vier Tagen das erste Mal, dass er seinen Namen erwähnte. Ich für meinen Teil hätte noch länger darauf verzichten können.

»Keine Angst, du musst mich nicht noch einmal davor bewahren, mich von einem Felsvorsprung zu stürzen.«

»Wie schön.«

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und fing wieder an, mit seinem Weinglas zu spielen.

»Seit deiner Ankunft hast du weder mit Spade noch mit sonst jemandem Kontakt aufgenommen. Willst du nicht wissen, ob irgendwer mit Bones gesprochen hat?«

Ich legte meine Gabel weg. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber Vlad tat nichts einfach nur so.

»Was ist los, Kumpel? Versuchst du, mein Blut in Wallung zu bringen? Willst du mich weich kochen, bevor du reinhaust? Nein, ich habe noch mit niemandem gesprochen, und ich will es auch nicht. Ich muss keine weiteren ekelhaften Details wissen.«

»Wie zum Beispiel, ob er gerade jetzt eine andere Frau berührt? Sie an sich drückt, sie küsst … sie nackt in den Armen hält?«

Ich schleuderte meinen Teller quer durch den Raum, er zerschellte an der Steinwand. Dabei verfluchte ich mich, Vlad und vor allem Bones.

»Wolltest bloß sehen, wie schnell ich die Fassung verliere, nicht wahr? Du willst wissen, wie ich reagiere? Na ja, wie du siehst, bin ich ein wenig gereizt, du musst also schon entschuldigen. «

Ich schnappte mir meine Leinenserviette und wollte mich schon auf den Weg zu dem zerdepperten Teller machen, um die Sauerei zu beseitigen, die ich angerichtet hatte, aber Vlad war schneller. Noch im Sitzen riss er mich an sich.

»Was soll das?«, zischte ich.

Sein Griff wurde fester, bis er mir fast wehtat. »Ich fordere meinen Lohn ein.«

Ich hatte gerade noch Zeit zusammenzufahren, bevor Vlads Lippen sich an meine Kehle hefteten und er die Fänge hineinschlug.

Ich schrie auf, aber nicht vor Schmerz. Vlad saugte stärker, nahm sich mehr von meinem Blut. Pulsierende Wärme breitete sich mit jedem Saugen in mir aus. Vampirgift. Nicht schädlich, aber in der Lage, ein trügerisches, äußerst angenehmes Hitzegefühl in einem auszulösen.

»Vlad, das reicht…«

»Nein.« Seine Stimme klang gedämpft. »Mehr.«

Er zog mich enger an sich. Jetzt lehnte ich halb zusammengesunken an ihm, ich spürte sein kräftiges Saugen bis ins Rückenmark.

Vlad fuhr mir mit den Händen über die Arme. Ich keuchte. Sie waren heiß, ganz anders als bei Vampiren üblich. Kam wohl von seinen pyrokinetischen Fähigkeiten. Mein Blut konnte sie nicht so schnell erhitzt haben.

So schnell, wie er mich gepackt hatte, ließ Vlad mich auch schon wieder los. Ich stützte mich am Tisch ab, plötzlich hatte ich ganz weiche Knie.

»Das wird dich ein wenig ablenken«, verkündete er.

»Wird es nicht«, antwortete ich in resigniertem Tonfall. Mit einem Mal fing ich an zu weinen. »Ich liebe ihn noch immer, Vlad! Ich hasse ihn auch, vielleicht, aber … Ich liebe ihn immer noch.«

Er sah mich unverwandt an. »Du wirst darüber hinwegkommen. «

Werde ich das?

Das sagte ich nicht laut, obwohl es im Grunde egal gewesen wäre. Vlad konnte schließlich meine Gedanken hören.

»Ich habe keinen Appetit mehr«, erklärte ich und verließ das Speisezimmer.

In der Nacht, ich war gerade eingeschlafen, spürte ich eine Bewegung im Bett. Erschrocken öffnete ich die Augen, dann legte sich ein Finger auf meine Lippen.

»Ich bin’s nur. Ich will mit dir reden.«

Jetzt war ich wach. Für gewöhnlich hatten die Leute nicht vor, mit einem zu reden, wenn sie zu einem ins Bett stiegen, was Vlad gerade getan hatte.

»Ach was?« Meine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du brauchst dich nicht ins Laken zu verkrallen, Cat. Ich habe nicht vor, dich zu vergewaltigen.«

»Da, wo ich herkomme, reden die Leute in der Senkrechten miteinander.« Um meinen Standpunkt deutlich zu machen, setzte ich mich im Bett auf. Ja, ich hielt die Decke bombenfest. »Das hier sieht mir zumindest nach Nötigung aus, mein Bester.«

Vlad schüttelte sich das Kopfkissen auf und lachte.

»Du bist ja richtig aufgebracht, Gevatterin, dabei wissen wir doch beide, dass ich die Bettdecke jederzeit zu Asche verbrennen könnte. Komm schon, wenn du nicht so verklemmt erzogen wärst, würde es dich doch auch nicht stören, so mit mir zusammen zu sein, oder?«

Der Griff, mit dem ich die Decke festhielt, entspannte sich allmählich. Er hatte in mehreren Punkten nicht unrecht. Vlad war viel stärker als ich. Hätte er es gewollt, hätte er mich also zum Sex zwingen können, sogar ohne die Decke dazu ansengen zu müssen. Außerdem kam es mir wirklich ein wenig heuchlerisch vor, mich so anzustellen, nachdem er mir über einen halben Liter Blut ausgesaugt hatte.

»Okay. Worüber willst du mit mir reden?«

»Deine Zukunft.«

Ich verspannte mich. »Du willst, dass ich gehe. Okay. Ich…«

»Glaubst du wirklich, ich wäre hergekommen, um dir zu sagen, dass ich dich rausschmeiße?«, unterbrach er mich. »Eigentlich müsstest du mich besser kennen.«

»Entschuldige. Ich habe eine, äh, harte Woche hinter mir.«

»Ja.« In seinem Tonfall lag kein falsches Mitgefühl. »Dein Selbstbewusstsein hat einen herben Schlag erlitten, und du bist sehr labil. Ich könnte dich leicht verführen, wenn ich es wollte.«

»Ganz schön aufgeblasen, was?«, schnaubte ich. »Aber wenn du glaubst, ich bräuchte einen Mitleidsfick, bist du schief gewickelt.«

Seine Lippen verzogen sich. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich keine romantischen Gefühle für dich hege. Ich bin hier, weil ich dich als Freundin sehe, und Freunde findet jemand wie ich sehr viel schwerer als Bettpartner.«

Auch ich fühlte mich nicht auf diese Weise zu ihm hingezogen, obwohl Vlad durchaus attraktiv war. Nein, was ich empfand, war eher eine Art Seelenverwandtschaft.

»Ich bin froh, dass du da bist«, sagte ich. Es stimmte. In Gesellschaft von Mencheres oder Spade oder sonst jemandem, der mich aus Mitleid bei sich aufgenommen hätte, wäre ich mit meiner Situation nicht klargekommen.

Vlad drückte meine Hand. »Du wirst das durchstehen, aber dazu musst du dich ihm stellen.«

Ihm. Bones. Ich sah weg.

»Danke, dass du dir so viele Gedanken machst, aber in diesem Fall ist das unnötig. Ich werde nicht zu ihm gehen. Ich will nicht sehen, was er tut, und auch nicht, mit wem.«

»Catherine, du machst dich lächerlich.«

Ich erstarrte, wegen der Beleidigung und weil er mich bei meinem echten Namen genannt hatte. »Wie das, Dracula?«, fragte ich schnippisch, und sprach ihn absichtlich auch mit seinem ungeliebten Namen an.

»Du bist noch nicht einmal im Ansatz über ihn hinweg, weil du dich immer noch fragst, ob er dich wirklich verlassen hat. Deshalb kannst du auch nicht loslassen. Das wird dich eines Tages noch das Leben kosten. Du bist ja jetzt schon so abgelenkt, dass du den Vampir in deinem Schlafzimmer erst bemerkst, wenn er zu dir ins Bett steigt. Kläre diese Sache mit Bones, und zwar endgültig. Dann kannst du dein Leben weiterleben, mit oder ohne ihn.«

»Ich weiß, dass es vorbei ist«, antwortete ich mit stockender Stimme. »Er hat es mir klar und deutlich gesagt.«

»Und du fragst dich, ob er es auch so gemeint hat. Du fragst dich, ob er das vielleicht nur getan hat, um dich zu verletzen, so wie du ihn verletzt hast, als du während dieser Schlacht mit seinem Feind durchgebrannt bist. Du zermarterst dir das Hirn, weil du nicht weißt, ob du ihm nachlaufen sollst, so wie er dir schon so oft nachgelaufen ist.«

»Hör auf, in meinem Kopf herumzuschnüffeln!« Meine heimlichen Überlegungen laut ausgesprochen zu hören, war wie eine Operation ohne Narkose.

»Die Vorstellung ist gar nicht so abwegig«, fuhr er in sachlichem Ton fort. »Er lässt deine schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit werden, so wie du es bei ihm gemacht hast. Meiner Meinung nach wäre das eine gerechte Strafe. Ich bezweifle lediglich, dass Bones genügend Mumm in den Knochen hat, um so etwas durchzuziehen.«

»Und warum sagst du mir dann, ich soll mich vergewissern, wenn du doch nur glaubst, dass ich wieder einen Korb kriege?«

»Weil er sowieso bald vor meiner Tür stehen wird, wenn du recht hast. Wenn nicht, bist du zwar am Boden zerstört, aber du hast deine Entschlossenheit zurück; du bist nämlich stärker, als du denkst.«

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Sollte ich es riskieren, mir noch einmal auf der Seele herumtrampeln zu lassen, um herauszufinden, ob das nur wieder so ein blödes Machtspielchen unter Vampiren war? Und wenn ja, könnte ich es ihm verzeihen? Würde ich das wollen?

So oder so würde ich Gewissheit erhalten, was immer noch besser war, als mich verrückt zu machen, indem ich mich an diesen kleinen Rest von Zweifel klammerte.

Vlad hatte wohl meine Gedanken gelesen, denn er nickte. »Morgen früh rufe ich Spade an und vereinbare für dich ein Treffen mit Bones. Er wird sich nicht weigern, dich zu empfangen, egal, was er vorhat. Dann weißt du, ob es zwischen euch endgültig aus ist.«

Blut- und Schlafmangel trugen dazu bei, dass ich mich ziemlich überfordert fühlte. Mit einem Seufzer legte ich mich wieder hin; meine Verlegenheit darüber, dass ich das Bett mit Vlad teilte, war vergessen.

Vlad machte es sich neben mir bequem.

»Ähem.« Ich räusperte mich. »Hatten wir uns nicht gerade darauf geeinigt, dass wir nur Freunde sind?«

»Ich will keinen Sex mit dir. Es ist nur schon so lange her, dass ich neben einer Frau geschlafen habe, die mir etwas bedeutet. «

»Oh. Na ja.« Eine Schlummerparty mit Dracula? In Anbetracht der Umstände, warum nicht? »Okay, aber ich schnarche. «

Er grinste. »Ich lebe seit einer Woche mit dir unter einem Dach, das ist mir also durchaus schon aufgefallen.«

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, aber dann reckte ich mich, wie ich es für gewöhnlich vor dem Einschlafen tat.

Vlad nahm mich in die Arme, den Kopf auf mein Kissen gelegt. Ich hätte es peinlich finden müssen, mit ihm im Bett zu liegen, insbesondere da sein Oberkörper nackt war und ich nur ein langes Shirt über meinem Höschen trug, aber es war mir nicht peinlich. Es war ein schönes Gefühl, wieder neben jemandem einschlafen zu können, auch wenn er nicht derjenige war, den ich vermisste.

»Gute Nacht, Cat«, sagte er, obwohl es schon fast dämmerte.

Ich gähnte und schloss die Augen.

»Gute Nacht, Vlad.«

 

Das Klopfen an der Tür weckte mich nicht. War wohl zu leise und zaghaft gewesen. Erst als Vlad in nicht gerade freundlichem Ton »Herein« sagte, wurde ich wach. Gott, er hatte recht. Meine Reflexe waren grottenschlecht.

Shrapnel steckte den Kopf zur Tür herein. Per Gedankenübertragung machte ich Vlad Vorwürfe, weil er mir nicht die Chance gegeben hatte, ins Badezimmer zu verschwinden. Das wirkte ja jetzt sehr verfänglich.

»Verzeihung, Herr, aber der Anrufer sagt, es ist dringend. Darf ich Ihnen das Telefon geben?«

Er hielt es dicht bei sich, offensichtlich nervös. Vielleicht war Vlad nach dem Aufwachen immer schlecht gelaunt.

Vlad machte eine Handbewegung. »In Ordnung, gib her.«

Shrapnel reichte ihm blitzschnell den Apparat, und machte, dass er wegkam, wobei er die Tür hinter sich schloss.

»Mit wem spreche ich?«, bellte Vlad in den Hörer.

Spades Stimme schallte ihm so laut entgegen, dass ich mich kerzengerade aufrichtete.

»Wenn du Cat diesmal nicht drangehen lässt, schmore ich dich bei lebendigem Leib in deinem eigenen Saft…«

Ich riss ihm das Telefon aus der Hand. »Was gibt’s? Ich bin hier, was ist passiert?«

Einen Augenblick lang herrschte bleierne Stille. Zu spät wurde mir klar, was ich getan hatte. Vlad zog eine Schulter hoch, als wollte er sagen: Jetzt steckst du ganz schön in der Klemme.

»Man hat mir gesagt, Vlad dürfe nicht gestört werden, weil er im Bett liege.« Jedes Wort war eine erbitterte Anklage. »Er wäre gerade äußerst indisponiert. Luzifers Klöten noch mal, hast du deshalb nicht auf meine Anrufe reagiert?«

»I …i …ich habe nicht …« Grundgütiger, jetzt stotterte ich auch noch.

»Doch!«

»Untersteh dich!« Mein Zorn kam mir zu Hilfe. »Wenn etwas Schlimmes passiert ist, sag’s mir, aber wenn du bloß Pussypolizei spielen willst, kannst du bei deinem besten Freund anfangen. Der steckt nämlich bestimmt gerade bis zur Nasenspitze in einer.«

»Der steckt bis zum Hals in der Scheiße, falls es dich noch interessiert«, war Spades eisige Antwort.

Meine Feindseligkeit war mit einem Mal wie weggeblasen. Spade neigte nicht zu hysterischen Übertreibungen. Ich umklammerte das Telefon, als wäre es glitschig.

»Was ist passiert?«

Vielleicht klang ich so ängstlich, wie ich mich fühlte, denn Spades Stimme verlor etwas von ihrem aufgebrachten Tonfall.

»Fabian, dein hilfreicher Geist, hat in New Orleans versucht, mit Crispin zu sprechen. Alles deutet darauf hin, dass Crispin bald gezwungen sein wird, das Viertel zu verlassen. Und Gregor liegt außerhalb der Stadt auf der Lauer.«

»Was meinst du mit ›gezwungen‹?« Meine Stimme hätte nicht schriller klingen können. Vlad fuhr zusammen.

»Crispin ist nach New Orleans gegangen, um sich mit Marie zu treffen. Danach hat Marie, soweit ich weiß, das gesamte Viertel für untote Besucher gesperrt, und Gregor hat Streitkräfte zusammengetrommelt, die sich am Stadtrand versammelt haben.«

Ich sprang auf und suchte mir ein paar Klamotten zusammen. Vlad rutschte ungerührt auf den Platz, den ich freigemacht hatte.

»Seid ihr dort? Habt ihr euch schon auf den Weg gemacht? «

»Wir können nicht, genau das ist ja das verdammte Problem! Unser Gesetz ist eindeutig auf Gregors Seite. Wegen dir hat er das Recht, Crispin auszuschalten. Kein Vampir kann ihm jetzt noch helfen.«

Ich setzte mich auf den Boden, weil meine Knie auf einmal ganz weich geworden waren. Einen Augenblick lang konnte ich nicht einmal mehr atmen. Dann schmiedete ich einen Plan.

»Er muss per Luftbrücke von dort weggeschafft werden. Am besten wäre ein Hubschrauber. Den können wir mit Schusswaffen und Silbermunition ausstatten. Noch in der Luft kann er dann in ein Flugzeug umsteigen. Sagtest du, du hättest schon versucht, mich zu erreichen?« Ich warf Vlad einen höchst bedrohlichen Blick zu.

»Ja, habe ich. Ich wollte, dass du mich zurückrufst, aber das mit Gregors Hinterhalt haben wir auch erst heute Abend erfahren.«

Vlad zuckte mit den Schultern, er schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. »Du hast gesagt, du wolltest mit niemandem sprechen. Was ich jetzt höre, ist mir auch neu. Ich hätte es dir gesagt, wenn ich es gewusst hätte.«

Ich machte ihm keine Vorwürfe. Schließlich war es meine und nicht Vlads Entscheidung gewesen, mich hier zu verkriechen.

»Dein Plan hat einen Denkfehler, Cat«, antwortete Spade knapp. »Wir hätten sonst längst etwas Ähnliches versucht. Keine Sippe darf in die Stadt, und das schließt den Luftraum mit ein. Laut Maries Verfügung würde jeder, der es versucht, sein eigenes Todesurteil unterschreiben, und man kann sich nicht einfach darüber hinwegsetzen; dafür ist sie zu mächtig. Ich würde ja selbst das Risiko auf mich nehmen, aber wenn ein Vampir oder Ghul die Grenze zur Altstadt übertritt, werden Gregor und seine Leute folgen. Es müssten Menschen ohne Verbindungen zu Untoten sein, verstehst du?«

Und ob ich das tat. Jetzt wusste ich, warum er so verzweifelt versucht hatte, mich zu erreichen.

»Gib mir deine Nummer. Ich rufe dich gleich zurück.«