31

Ich war überrascht, als ich erfuhr, dass in der Nacht nur drei Leute umgekommen waren. Da es sich um eine offizielle Versammlung unter allgemeinem Waffenstillstand gehandelt hatte, waren die meisten Gäste unbewaffnet gewesen. Bei den Getöteten handelte es sich um Menschen, die bei einer Prügelei unter Untoten nicht die gleichen Überlebenschancen hatten wie Ghule oder Vampire. Konsequenzen würde es auch keine geben, weil niemand wusste – oder verraten wollte – , wer angefangen hatte. Mencheres und Bones schafften es, so weit für Ruhe zu sorgen, dass alle nach Hause gingen, ohne Kriegserklärungen auszusprechen. Gregor verschwand mit meiner Mutter und Cannelle im Schlepptau. Wie Apollyon und seine Ghule mein unerwartet schlagendes Herz verkraftet hatten … das würde sich noch herausstellen.

Im Augenblick machte ich mir eher Gedanken darüber, wie ich meine Mutter retten konnte. Während der ganzen Auto-und Zugfahrt nach Bukarest brütete ich Ideen aus. Don und mein altes Team konnten mir nicht helfen. Don hatte zwar internationale Verbindungen, aber nicht zu Untoten. Er wäre in diesem Fall genauso aufgeschmissen wie ich. Ich scheute auch davor zurück, ihn anzurufen, weil ich mir noch etwas Zeit lassen wollte, bevor ich ihm sagte, dass ich eine Vampirin geworden war. Auf meiner Prioritätenliste stand die Bekämpfung der tiefverwurzelten Vorurteile meines Onkels im Augenblick ziemlich weit unten.

Es war bereits nach drei Uhr früh, als wir unser Ziel erreichten: ein altes Herrenhaus, das aussah, als wäre es einem Schauerroman entsprungen. In wenigen Stunden würde es dämmern, und mich würde wieder dieser komatöse Zustand überkommen. Ich hatte mich zwar darauf gefasst gemacht, nach meiner Verwandlung erst einmal spät aufstehen zu müssen, dass die Begleitumstände allerdings so düster sein würden, hatte ich nicht erwartet. Jetzt kam mir jede Minute, in der ich bewusstlos war, wie Hohn vor. Was stellte Gregor mit meiner Mutter an? Gott, was machte Cannelle mit ihr? Ich hatte gedacht, sie umzubringen, wäre das Schlimmste, was Gregor meiner Mutter antun könnte. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass er so gnädig nicht sein würde.

Rodney kam aus dem Haus, um uns zu begrüßen. In den Augen des Ghuls stand derselbe wutentbrannte Ausdruck wie vermutlich in meinen. Spontan umarmte ich ihn und spürte einen Kloß im Hals, als er mich seinerseits fest an sich drückte. Bones wäre durch die Hölle gegangen, um meine Mutter zu retten, wenn es nötig gewesen wäre, aber er hätte es aus Liebe zu mir getan. Nicht aus Zuneigung zu ihr. Meine Mutter hatte nicht viele Fans, und das war ihre eigene Schuld; aber zu wissen, dass jemand all ihren Fehlern zum Trotz Gefühle für sie hatte, bedeutete mir im Augenblick mehr, als ich in Worte fassen konnte.

»Sie ist zäh«, erklärte Rodney. Sein Bart kratzte an meiner Wange, als er ein Stück zurücktrat. »Sie schafft das schon, wenn wir sie erst zurückhaben. Egal, was sie jetzt ist oder was er ihr angetan hat.«

»Sie wollte, dass ich sie umbringe«, flüsterte ich. »Gott, Rodney, sie hat immer gesagt, sie wäre lieber tot als ein Vampir. «

»Sie schafft das«, wiederholte er. Seine Stimme war schärfer geworden. »Deine Jugend war schwer für dich, aber für sie auch. Im Augenblick ist Justina schockiert und verängstigt, aber so leicht lässt sie sich nicht unterkriegen. Ich würde mein Leben darauf verwetten.«

»Rodney, die Gesetze«, mischte sich Bones ein.

»Klappe.« Der Ghul löste sich von mir und starrte Bones an. »Wenn du es nicht bald schaffst, Gregor umzubringen, mache ich mich selbst auf die Suche nach ihm, Gesetze hin oder her – und Rückendeckung hin oder her.«

»Sei kein Narr, das wäre Selbstmord«, fuhr Bones ihn an.

Rodney schenkte ihm ein kühles Lächeln. »Du sagst doch immer, dass keiner ewig leben kann.«

Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Drang, Rodney noch einmal zu umarmen, und dem Wissen, dass Bones recht hatte. »Sie wird dich brauchen, wenn wir sie wiederhaben«, sagte ich; meine Entscheidung war ausnahmsweise einmal zugunsten der Logik ausgefallen. »Du weißt ja, dass meine Mutter und ich immer aneinandergeraten. Anscheinend bist du der Einzige, auf den sie hört, aber wenn du tot bist, kannst du ihr nicht mehr helfen, mit ihrem Dasein als Vampirin klarzukommen.«

Rodney sah mich an, dann ging er ohne ein weiteres Wort ins Haus zurück. Ich wusste nicht, ob er damit ausdrücken wollte, dass er abwarten würde, oder ob es seine Art war, sich zu weigern.

»Es dauert nicht lange, Kätzchen«, durchbrach Bones das lastende Schweigen. »Gregor weiß nicht mehr weiter. Er wird bald zu mir kommen müssen, denn an jedem Tag, den er verstreichen lässt, fragen sich die Leute, warum er sich weigert, dem Mann gegenüberzutreten, der ihm die Frau ausgespannt hat und der ihn zum Duell herausfordern will.«

Da hörte ich auf, über meine Mutter nachzugrübeln. »Wann hast du ihn zum Duell herausgefordert?«

Bones’ Blick war düster und fest. »Gleich nachdem ich von Mencheres erfahren hatte, dass Gregor in deine Träume eindringt, habe ich offiziell Satisfaktion gefordert.«

Ich hatte zwar gewusst, dass Bones in New Orleans mit Gregor hatte kämpfen wollen, dass es sich dabei aber um ein offizielles Duell handelte, war mir nicht klar gewesen. Die Erkenntnis, dass Gregor die Herausforderung jederzeit annehmen und Bones in einen Kampf auf Leben und Tod verwickeln konnte, erfüllte mich mit kalter Angst.

»Er ist stärker als du.« Meine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.

Bones schnaubte. »Ich weiß, Süße, aber er wäre nicht der Erste, den ich trotzdem kaltmache. Gregor muss nur einen Fehler machen, dann gehört er mir.«

Die größte Angst, die ich hatte, sprach ich nicht laut aus.

Was, wenn Gregor keinen Fehler macht?

 

Zwei Tage vergingen, ohne dass wir etwas von Gregor hörten. Rodney und ich wetzten mit unserem hektischen Herumgerenne abwechselnd den Teppich durch. Bones ermahnte uns immer wieder zur Geduld. Wenn Rodney mir nur halbwegs ähnlich war, musste er das Wort Geduld inzwischen hassen.

Einen Vorteil hatte der Stress allerdings; er hielt mich nach Sonnenaufgang wach und in Bewegung. Ich konnte jetzt schon den ganzen Morgen über herumlaufen, obwohl ich objektiv betrachtet wohl durch die Gegend torkelte wie eine Betrunkene. Vom Stress einmal abgesehen, konnte ich die lähmenden Auswirkungen des Sonnenaufganges auch zurückdrängen, indem ich morgens von Bones trank. Vielleicht war eine gute Nahrungsgrundlage ja tatsächlich der Schlüssel zur Gesundheit, für Menschen wie für Vampire.

Heute hatte ich einen persönlichen Rekord aufgestellt, indem ich die drei Stockwerke verbindende Wendeltreppe zur Küche und zurück überwunden hatte. Ich brauchte zwei Stunden für etwas, das ich am Nachmittag innerhalb weniger Sekunden geschafft hätte, aber ich war mit meinem Fortschritt zufrieden, obwohl ich hinterher erschöpft im nächsten Sessel zusammenbrach.

»Morgen gehe ich nach draußen«, verkündete ich. Direktes Sonnenlicht würde mir noch härter zusetzen, aber ich musste mich ranhalten. Im Augenblick hätte mir von Sonnenaufgang bis zum Nachmittag jeder Sterbliche den Arsch versohlen können.

»Weißt du eigentlich, wie bemerkenswert es ist, dass du überhaupt wach bist?«, meinte Bones mit einer Handbewegung in Richtung Mencheres. »Sag’s ihr. Ich habe in den ersten beiden Monaten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geschlafen. Bei mir hat man es schon als unglaublichen Fortschritt angesehen, als ich im dritten Monat untertags überhaupt wach war. Deine Verwandlung liegt erst zwei Wochen zurück, Kätzchen.«

»Es ist beispiellos«, stimmte Mencheres ihm zu.

Sein Tonfall ließ mich aufschauen. In seinen Zügen sah ich etwas aufflackern, das sofort wieder zu Gleichgültigkeit wurde. Bones war Mencheres’ Tonfall wohl auch aufgefallen, denn er zog die Augenbrauen hoch.

»Möchtest du noch etwas hinzufügen, Ahnherr?«

Ein unbekannter Vampir betrat die Küche und ersparte Mencheres die Antwort, wie immer sie auch ausgefallen wäre. Musste wohl einer von Mencheres’ Dienern sein, auch wenn er sich vor Bones statt vor dem ägyptischen Vampir verneigte.

»Was gibt’s?«, erkundigte sich Bones.

»Verzeihung, aber da ist jemand am Telefon, der sagt, Sie hätten einen Anruf.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. Bones ebenfalls. »Jemand ruft mich an, um mir zu sagen, dass mich jemand anruft?«, hakte er mehr als skeptisch nach.

Der Vampir hielt ihm verlegen das Handy hin. »Es ist mein Freund Lachlan. Er hat angerufen und mir gesagt, Chill, ein Vampir aus seinem Bekanntenkreis, hätte sich an ihn gewandt, weil er von Nathan, einem Mitglied von Kyokos Sippe angerufen worden wäre, der sagt, ein Vampir namens Rollo hätte sich an ihn gewandt, weil er einen Geist getroffen hätte, der angeblich einer von deinen Leuten ist …«

»Fabian!«, rief ich, als mir bewusst wurde, dass ich ihn seit dem Party-Fiasko nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Bones nahm das Handy von dem Vampir entgegen, und alles nahm seinen Lauf.

 

Wir warteten etwa drei Kilometer vor dem baufälligen Haus in Moldawien, in dem Gregor meine Mutter gefangen gehalten hatte. Rodney kauerte zu meiner Rechten, beladen mit unzähligen martialisch anmutenden silbernen Krummmessern. Links von mir hockte Bones, so reglos, als wäre er aus Stein gemeißelt. Ich versuchte, ebenso still zu sitzen, schaffte es aber nicht. Ungeduldig schweiften meine Blicke umher. Wo war Fabian? Er hätte längst zurück sein müssen.

Spade kam durchs Unterholz gekrochen. Er hatte sich vergewissert, dass der Feind sich nicht von hinten an uns heranpirschte, während wir auf Nachricht von Fabian warteten. Spades Nicken besagte, dass wir die Einzigen waren, die in der eisigen Landschaft lauerten. Der Wind blies Spade das dunkle Haar aus dem Gesicht, als er den Blick in die Richtung wandte, in die auch Bones starrte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte eine undeutliche Gestalt zwischen den Bäumen auf, und wir sahen Fabian dicht über den reifbedeckten Boden flitzen.

»Gregor ist nicht da, aber Cannelle benimmt sich, als würde er bald zurückkommen«, verkündete das Gespenst, als es bei uns angekommen war. »Im Augenblick sind etwa ein Dutzend Wachen dort. Gregor wird aber noch welche mitbringen, wenn er wiederkommt.«

Bones blickte weiter in die Ferne. »Dann ist der Augenblick jetzt günstig. Fabian, halte du auf der Straße Ausschau. Beim ersten Anzeichen, dass Gregor und seine Leute auftauchen, warnst du uns.«

Der Geist nickte, seine durchsichtigen Züge nahmen einen entschlossenen Ausdruck an. »Ich werde euch nicht enttäuschen. «

Zum dutzendsten Mal an diesem Tag wünschte ich mir, ich hätte Fabian umarmen können. Nie hätte ich gedacht, dass ich einem Geist einmal so viel verdanken würde, aber ich schuldete Fabian mehr, als ich ihm je würde zurückgeben können. Nach der desaströsen Party hatte Fabian die Geistesgegenwart besessen, Gregor zu folgen, indem er sich im Kofferraum von Gregors jeweiligem Wagen versteckt oder an irgendjemand anderen gehängt hatte, der gerade in Gregors Nähe gewesen war. Gregor hatte offenbar nicht mitbekommen, dass jemand ihm nachspionierte, oder den Geist schlichtweg ignoriert.

Fabians größtes Problem war es gewesen, Kontakt zu uns aufzunehmen, nachdem er herausgefunden hatte, wo Gregor sich versteckt hielt. Schließlich kann ein Gespenst nicht einfach ein Telefon oder einen Computer bedienen, geschweige denn einen Brief aufgeben. Wenn man dann noch die Gleichgültigkeit mit einkalkulierte, die allgemein Geistern gegenüber an den Tag gelegt wurde und die seine Spionagetätigkeit überhaupt erst möglich gemacht hatte, dürfte es Fabian alles andere als leichtgefallen sein, einen verbündeten Vampir zu finden, der ihm lange genug zugehört hatte, um die Anrufkette in Gang zu setzen, die letztendlich Bones erreicht hatte.

Bis zu unserer Ankunft waren wir uns auch nicht sicher gewesen, ob Gregor das Haus überhaupt noch als Versteck benutzte. Von Fabians Aufbruch bis zu dem Zeitpunkt, als Mencheres’ verwirrtes Sippenmitglied Bones angerufen hatte, waren ganze anderthalb Tage vergangen. Weitere Stunden waren verstrichen, in denen wir nach Moldawien gereist waren, und noch weitere, in denen wir uns vergewissert hatten, dass wir nicht in eine Falle tappten. Nicht, dass ich Fabians Loyalität anzweifelte, aber man musste immerhin damit rechnen, dass Gregor den Geist doch bemerkt und zwei und zwei zusammengezählt hatte. Bisher hatte es allerdings nicht den Anschein, als ahnten die Hausbewohner, dass sie angegriffen würden.

Ich schickte einen besorgten Blick zum Himmel. So weit die guten Nachrichten. Die schlechte war, dass die Sonne in einer halben Stunde aufgehen würde.

Bones sah mich an, als hätte er gehört, was in mir vorging. »Du solltest zurückbleiben, Kätzchen.«

Ich wollte mich schon wüst schimpfend mit ihm anlegen. In dem Haus wurde meine Mutter gefangen gehalten, da würde ich verdammt noch mal nicht Däumchen drehen und hoffen, dass alles gut ausging.

Dann sah ich in die Gesichter, die mich anstarrten. Jeder hier riskierte sein Leben für meine Mutter und verstieß auch noch gegen untotes Recht, und ich war die Einzige, der die Morgendämmerung etwas ausmachte. Inzwischen schaffte ich es zwar bei Sonnenaufgang, wach zu bleiben, und konnte sogar ein bisschen herumlaufen, aber kämpfen: Nein. Das konnte ich nicht, noch nicht einmal, wenn das Leben meiner Mutter – oder mein eigenes – davon abhing.

»Ich bleibe hier«, sagte ich und sah, wie Bones die Augenbrauen hochzog, als wäre das das Letzte gewesen, was er von mir erwartet hätte. »Gib mir den Detonator. Vielleicht brauchen wir das Ablenkungsmanöver, falls Gregor zurückkommt, bevor wir meine Mom in Sicherheit gebracht haben.«

Spade nickte und übergab mir den Apparat, den er am Gürtel trug. Um das Haus herum hatten wir, so nahe wir uns eben herangetraut hatten, mehrere Ladungen TNT an den Bäumen befestigt. Die Explosionen würden zwar keinem Vampir oder Ghul ernsthaften Schaden zufügen – falls er sich nicht in unmittelbarer Nähe des betreffenden Baumes aufhielt –, aber eine Menge Radau war garantiert. Und manchmal konnte ein Ablenkungsmanöver über Leben und Tod entscheiden … oder, wie in unserem Fall, über Freiheit oder Gefangenschaft.

Bones küsste mich kurz und innig. »Ohne sie komme ich nicht zurück.«

»Sag so was nicht«, bat ich ihn sofort. »Wenn irgendwas passiert, wenn es zu gefährlich ist, sie gleich rauszuholen, kommst du zu mir zurück. Wir finden eine andere Lösung.«

Rodney begann, durchs Unterholz zu robben. Spade warf mir einen düsteren Blick zu und folgte ihm. Bones streichelte noch einmal mein Gesicht, bevor er sich ebenfalls auf den Weg machte. Genau wie Fabian. Ich blieb, wo ich war. Ich brauchte kein Fernglas, um beobachten zu können, wie sie sich dem Haus näherten. Laut Fabian standen vor dem Haus vier Wachen, und drinnen waren noch einmal vier plus Cannelle. Wir hatten nur das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Zahlenmäßig war uns der Feind weit überlegen, und ich bezweifelte, dass Gregor schwache Vampire oder Ghule als Wachen zurückgelassen hatte.

Die Strecke betrug zwar weniger als drei Kilometer, aber da die drei Männer so vorsichtig vorwärtskrochen, dass kaum ein Grashalm sich regte, brauchten sie über zehn Minuten, um sie zurückzulegen. Als sie das Haus erreicht hatten, war ich bereits ein Nervenbündel. In mir tobte eine wirre Mischung aus Angst, Hoffnung, Frust und Aufregung, bis ich das Gefühl hatte, jeden Moment aus der Haut fahren zu müssen. Hatten die Wachen Anweisung, meine Mutter im Fall eines Angriffs sofort hinzurichten? Würden Bones, Spade oder Rodney sie rechtzeitig erreichen, ohne selbst dabei draufzugehen? O Gott, bitte mach, dass es klappt.

Ich konnte mich nicht länger beherrschen; ich kroch näher und schwor mir, in einer Entfernung von anderthalb Kilometern anzuhalten. Ich wollte mich nur so weit nach vorn wagen, dass ich sehen konnte, was vor sich ging. Die Bäume verstellten mir die Sicht.

Dreißig Meter vor dem Haus gab es kein hohes Gras mehr, sodass Bones, Rodney und Spade keine Deckung hatten. Ich verkrampfte mich, als ich sah, wie die drei Männer exakt gleichzeitig aufstanden und aufs Haus zustürmten.

Die Wachen schlugen Alarm, aber ich stellte mit Genugtuung fest, dass sie sehr schnell ausgeschaltet wurden. Zwei Wachen erledigte Bones persönlich, einen aus der Ferne, indem er ein Silbermesser warf, den anderen, indem er ihm aus nächster Nähe ein Silbermesser ins Herz stieß und es herumdrehte. Spade und Rodney machten kurzen Prozess mit den anderen beiden Wachleuten, dann drangen die Männer aus verschiedenen Richtungen ins Haus ein.

Von drinnen hörte man weitere Schreie. Ich kroch schneller voran, tief am Boden, aber so, dass ich das Haus noch sehen konnte. Geschützfeuer brach los, dem furchterregenden Staccato nach kam es von Maschinengewehren. Eine Frauenstimme mit Akzent fing an, wie wild zu kreischen. Cannelle. Als ich daran dachte, wie sie meine Mutter an der Leine herumgeführt und getreten hatte, wünschte ich ihr den Tod fast so sehr wie Gregor.

Ich hatte mich gerade bis auf anderthalb Kilometer herangepirscht, als Fabian mit geisterhaften Armen winkend auf mich zugesaust kam.

»Gregor ist zurück!«, rief er.

O Scheiße. »Sag es Bones«, wies ich ihn an und zog den Detonator vom Gürtel. Mit wachsender Verzweiflung beobachtete ich den Himmel. Der Sonnenaufgang stand dicht bevor, sodass ich es nicht riskieren konnte, mich ins Geschehen einzumischen, aber Knöpfe drücken konnte ich wenigstens. Zumindest so konnte ich helfen.

Fabian verschwand im Haus, ohne sich die Mühe zu machen, dazu eines der eingeschlagenen Fenster zu benutzen. Ich wartete, zählte voller Hektik und Anspannung die Sekunden, bis er in der Nähe des Dachs schwebend wieder auftauchte. Es sah aus, als deutete er auf etwas zu meiner Linken – die Richtung, aus der ich quietschende Reifen gehört hatte. Dieser verdammte Gregor war wirklich ein cleverer Blutsauger. Er war nicht bis zum Haus gefahren, wo er ein leichtes Ziel abgegeben hätte. Nein, er wollte sich durchs Unterholz heranpirschen und seinen eigenen Hinterhalt starten.

Ich winkte Fabian zu, immer darauf bedacht, geduckt zu bleiben, woraufhin der Geist vom Dach huschte und im Erdboden zu verschwinden schien. Augenblicke später tauchte er direkt vor mir wieder auf, sodass ich ganz überrascht war, ihn plötzlich Zentimeter vor meinem Gesicht zu sehen.

»Finde raus, wo sie sind«, flüsterte ich.

Fabian verschwand wieder im Erdboden. Ich wartete; die Sekunden, die dann folgten, waren eine nervliche Zerreißprobe für mich. Schließlich tauchte Fabians Kopf aus dem Boden auf, wie ein nebelhaftes Erdhörnchen.

»Sie gehen ums Haus herum.« Seine Stimme war so leise, dass ich sie kaum hören konnte. »Sie gehen in deine Richtung, aber näher am Haus entlang.«

Ich lächelte grimmig. Also genau da, wo die Bäume mit dem TNT waren. Komm schon, Gregor. Zeig mir, wo du bist.

Mein Wunsch erfüllte sich, als ich im Unterholz keine fünfzig Meter von mir entfernt eine leise Bewegung hörte. Noch zwanzig Meter, zehn. Fast sind sie da. Fast …

Ich löste die Sprengung genau in dem Augenblick aus, in dem Gregor und seine Wachen dicht an den mit den meisten TNT-Ladungen bestückten Bäumen vorbeikamen. Einer nach dem anderen gingen die Sprengsätze hoch. Gregor und seine Leute stoben verwirrt auseinander, fragten sich, was als Nächstes explodieren würde. Außerdem war das mein mehr als lautes Rückzugssignal für Bones. Sie mussten weg, ob sie meine Mutter gefunden hatten oder nicht. Die zwölf Wachen, die Gregor bei sich hatte, würden es uns auch so schon schwer genug machen, lebend zu entkommen. Noch länger zu warten konnten wir uns nicht leisten.

Hasserfüllt starrte ich den immer heller werdenden Himmel an. Wäre es nur eine Stunde früher gewesen, hätte ich kämpfen können! Ich hätte helfen können, meine Mutter zu retten, oder ein paar Wachen ablenken. Ich hätte überhaupt irgendetwas anderes tun können, als mich zu verstecken.

Von innen heraus barst ein Fenster, durch das zwei Gestalten krachten und zu Boden fielen. Als ich sie erkannte, verspürte ich einen Augenblick eisiger Genugtuung; es waren Bones und Cannelle. Er hatte sie in den Schwitzkasten genommen und riss ihr mit einem Ruck den Kopf ab. Adieu, Miststück, dachte ich, als ich sah, wie er ihren leblosen Körper beiseitestieß. Meine Siegesfreude war allerdings nur von kurzer Dauer. Gregor brüllte einen französischen Befehl, und all seine zwölf Wachen stürzten sich auf Bones.

Ich war bereits aufgesprungen, hatte völlig vergessen, dass ich eigentlich versteckt bleiben wollte, als Spade aus dem Haus gestürmt kam. Er beschoss die untote Horde, die seinen besten Freund angegriffen hatte, mit Silbermessern, lenkte ihre Aufmerksamkeit von Bones auf sich. Feigling, dachte ich hämisch, als ich sah, dass Gregor an der entfernten Hausecke stehen geblieben war. Was machst du nun, Traumräuber? Abhauen, solange du noch kannst, oder dein Leben riskieren, indem du hierbleibst und kämpfst?

Die Haustür wurde aufgetreten. Ich keuchte, als ich sah, wie Rodney mit meiner Mutter im Arm daraus hervorkam. Sie hatte ihm die Arme um den Hals gelegt und bewegte sich. Sie lebt. Oh, Gott sei Dank!

Gregor fauchte etwas und zog sein Schwert. Rodney blieb stehen, drehte sich mit meiner Mutter in den Armen um. Gregors Schwert schien im vormorgendlichen Licht zu gleißen, als er sich den beiden näherte.

Bones und Spade hatten es mit jeweils sechs Vampiren zu tun. Sie konnten Rodney nicht zu Hilfe kommen. Auch ich konnte Gregor nicht erreichen, er war zu weit weg. Gott, warum konnte ich nicht schneller rennen?

Rodney setzte meine Mutter ab, strich ihr ganz kurz über die blutverschmierte Wange und trat dann Gregor gegenüber. In seinem Gürtel waren nur noch zwei Messer übrig, und Gregor war viel stärker als er.

»Gregor«, schrie ich.

Sein aschblondes Haupt schnellte in die Höhe, als er mich auf sich zustürmen sah. »Catherine.« Dass Gregor das sagte, konnte ich eher ahnen als hören.

In dem Augenblick, in dem Gregor abgelenkt war, warf Rodney eins seiner Messer. Es traf Gregor in die Brust, aber er riss es sich so schnell wieder heraus, dass es das Herz nicht getroffen haben konnte. Jetzt wandte Gregor sich wieder Rodney zu, sein Schwert durchschnitt die Luft zwischen den beiden.

Statt zurückzuzucken, stürzte Rodney sich auf ihn. Mit all seiner untoten Kraft rammte er ihn mit seinem Körper. Gregor geriet ins Wanken, kam aber nicht zu Fall. Das Messer, das Rodney erhoben hatte, um es in Gregors Brust zu stoßen, erreichte sein Ziel nicht. Mit der freien Hand packte Gregor Rodney beim Handgelenk und schleuderte ihn brutal zu Boden, wobei er sich den Schwung von Rodneys eigenem Angriff zunutze machte. Sein langes Schwert senkte sich mit einem zielgerichteten, unbarmherzigen Hieb.

Meine Mutter stürzte nach vorn. »Rodney, nein!«, kreischte sie.

Gregor sah nicht auf. Nicht, bevor die Klinge nicht ganz durch Rodneys Hals gedrungen und auf der anderen Seite wieder blutig zum Vorschein gekommen war. Dann sah er mich direkt an. Und lächelte.

Ich wandte den Blick nicht von Gregors smaragdfarbenen Augen ab. Nicht, als er Rodneys abgetrenntem Kopf einen Tritt verpasste, sodass er auf meine Mutter zuflog, und auch nicht, als er mit gleichmäßigen und gemächlichen Schritten auf mich zuzugehen begann.

Wie im Traum hörte ich auf zu rennen. Ließ meine Messer sinken und sah zu, wie Gregor näher kam. Ich hörte Bones schreien, aber seine Stimme schien von weither zu kommen. Ich hörte, wie es in meiner Brust dumpf zu pochen begann, und merkte, dass es mein Herz war, das wieder angefangen hatte zu schlagen, aber sogar das kümmerte mich nicht. Ich konnte mich nur noch auf den gewaltigen Hass konzentrieren, der mir durch die Adern strömte, sich in immer stärkeren Wellen ausbreitete, bis ich das Gefühl hatte, auf der Stelle explodieren zu müssen.

Weshalb es mir auch nicht seltsam vorkam, als das Gras um mich herum in Flammen aufging. Durch den roten Schleier hindurch, der sich über mein Gesichtsfeld gesenkt hatte, erschien es mir sogar völlig natürlich. Es sollte kein Gras geben, das Rodneys Blut aufsaugen konnte. Auch das Haus, in dem meine Mutter gefoltert und getötet worden war, sollte es nicht geben. Alles hier sollte brennen. Wirklich. Alles. Hier.

Orangefarbene und rote Flammen breiteten sich rasend schnell über das kurze Gras aus und leckten an den Hauswänden, reckten sich, bis sie das Dach in einen zuckenden Feuerteppich eingehüllt hatten. Dann wurde das Gras um Gregor herum zu einer flammenden Arena, das Feuer schoss an seinen Beinen hinauf. Gregors Beine brennen zu sehen, befriedigte mich, aber das reichte mir noch nicht. Ich wollte Gregors Haut aufreißen und platzen sehen. Zusehen, wie alles um ihn herum sich in schwelende Asche verwandelte. Und zwar auf der Stelle.

Die Bäume um mich herum explodierten, aber ich wandte den Blick nicht von Gregor ab. Brenne. Brenne. Nur diesen einen Gedanken hatte ich im Kopf. Nichts schien mehr real zu sein. Nicht meine Mutter, die laut schluchzend über Rodneys Leiche gebeugt war, und auch Gregor nicht, der schreiend von den Flammen verschluckt wurde.

»Catherine, hör auf!«, brüllte Gregor.

Ein Teil von mir war amüsiert. Warum glaubte Gregor, ich wäre für dieses wundervolle Feuer verantwortlich? Spade musste auf dem Weg nach drinnen irgendwelche neuen Sprengmittel installiert haben. Oder Bones. Ich sollte meine Mutter von hier wegschaffen, solange Gregor lichterloh brannte und abgelenkt war. Aber ich konnte mich einfach nicht bewegen. Die heißen, wunderbaren Zorneswogen, die in mir pulsierten, nagelten mich am Boden fest. Brenne. Brenne.

»Kätzchen!«

Bones’ Stimme durchbrach meinen Trancezustand. Ich sah ihn an, überrascht darüber, dass er ganz rot und blau zu sein schien. Wie alles um mich herum. Bones stach auf den Vampir ein, den er vor sich hatte, und schleuderte ihn beiseite. Jetzt, da mir nichts mehr die Sicht auf ihn verstellte, sah ich, dass Bones mich schockiert ansah.

Sein Blick war auf meine Taille gerichtet. Ich sah nach unten – und keuchte. Meine Arme waren vom Ellbogen abwärts blau, bedeckt von lodernden Flammen, die ich seltsamerweise überhaupt nicht spürte. Orange und scharlachrot schossen sie aus meinen Händen hervor, versengten alles, was mir im Weg stand, auf ganzer Strecke von meinen Füßen bis hin zum Hausdach.

Bones kam angerannt und riss mich an sich, die Flammen ignorierend, die mein Körper hervorbrachte.

»Charles, du nimmst Justina!«, rief er, dann hatte ich plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen. Durch den rotblauen Nebel, der mir die Sicht verschleierte, sah ich zu, wie Spade sich meine Mutter schnappte und mit ihr ebenfalls in die Luft schoss. Unter uns standen Gregor und das Haus weiter in Flammen, aber sogar jetzt noch konnte ich sehen, wie Gregor sich dort, wo es noch nicht brannte, auf dem Boden wälzte und die alten Flammen gerade so schnell erstickte, dass die neuen ihn nicht verzehren konnten.

Mörder, dachte ich. Wieder breitete sich diese Wildheit in mir aus. Vor meinen Augen wurde alles rot, und Gregor schrie auf, wälzte sich hektischer auf dem Boden, als neue Flammen aus seinem Körper hervorschossen.

Die Wolken verzogen sich, sodass ein gleißender Sonnenstrahl mein Gesicht traf. Ich spürte ihn wie einen Tritt gegen den Schädel, der rote Schleier vor meinen Augen lichtete sich etwas. Und im gleichen Augenblick schlug Bones die Reißzähne in meinen Hals und begann heftig zu saugen.

Das Letzte, was ich sah, waren die glühenden Farben des Sonnenaufgangs. Sie erinnerten mich an die Flammen am Boden, die unter uns noch immer loderten.