29

»Bist du bereit?«

Ich nickte. »Los.«

Bones schlitzte sich den Unterarm der Länge nach von unten nach oben auf, öffnete die Vene. Sofort füllte die Wunde sich mit dem herrlichen roten Saft. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Dann schmierte er sich das Blut auf die Finger und führte sie im Abstand von wenigen Zentimetern an meinen Lippen vorbei. Ich schluckte schwer, kämpfte gegen den Drang an, seine Hand zu packen und an seinen Fingern zu saugen … und dann an seinem Unterarm.

Schließlich steckte er mir seine blutigen Finger in den Mund, quälte mich mit ihrer unglaublichen Süße. Ich bebte, schaffte es aber, weder daran zu lecken, noch in sie hineinzubeißen. Du schaffst das, Cat. Nicht nachlassen.

Bones reichte mir eine Serviette. »Spuck es aus, Kätzchen.«

Ich gehorchte, trennte mich von den Tropfen, die meinen Gaumen vor Verlangen schmerzen ließen. Hätte ich noch schwitzen können, wäre ich zu diesem Zeitpunkt sicher klitschnass gewesen.

»Noch mal.«

Bones wiederholte die nervenaufreibende Prozedur noch fünfmal. Immer wieder musste ich ausspucken, wonach es meinen Körper so verzweifelt verlangte, bis Bones mich schließlich anlächelte. »Du hast es gepackt, Süße.«

»Gut gemacht, Cat«, verkündete Spade.

»Mehr als gut.« Bones küsste mir die Stirn. »Die Blutgier innerhalb von drei Tagen unter Kontrolle zu bringen, ist eine außerordentliche Leistung.«

»Wie spät ist es?«

»Ungefähr halb eins«, antwortete Spade.

Weniger als sechs Stunden bis zur Dämmerung. Das war die andere mit meiner Verwandlung verbundene »Nebenwirkung«. Sobald die Sonne aufging, kippte ich um. Ich wurde nicht einfach müde, wie ich es mein Leben lang gewohnt war, ich trat einfach mitten im Satz weg. In gewisser Weise fand ich das beunruhigender als die Blutgier. Sollte mich der Sonnenaufgang einmal im Kampf überraschen, wäre ich geliefert.

Gerade arbeitete ich daran, wenigstens bei Bewusstsein zu bleiben, wenn die Sonne sich zeigte. Inzwischen war ich zumindest so weit, dass ich ein paar Minuten die Augen offen halten konnte, während mein Körper sich anfühlte wie ein nasser Sack. Mit der Zeit würde sich das bessern, ich fragte mich nur, wie lange das dauern sollte. Im Augenblick konnte ich mich bis zum Mittag nicht einmal bewegen.

»Ich will nach draußen«, verkündete ich. »Einfach irgendwohin fahren, mir jedes Straßenschild angucken, an dem ich vorbeikomme, Landkarten lesen bis zum Umfallen und jeden im Umkreis von zwanzig Metern nach dem Weg fragen. Oh, aber erst nehme ich ein Bad. In der kleinen Dusche hier unten gibt es nur kaltes Wasser.«

Mencheres kam ins Zimmer. Ein Blick auf sein Gesicht sagte mir, dass etwas Entsetzliches passiert war.

»Es ist Gregor, nicht wahr?«, fragte ich, bevor er selbst etwas sagen konnte. »Was hat er angestellt?«

Mencheres legte mir die Hände auf die Schultern. »Cat, deine Mutter ist verschwunden.«

»Nein!«, rief ich und brach in Tränen aus. Bones legte den Arm fester um meine Taille.

»Wie ist es passiert? Wurde der Schrottplatz angegriffen? «, fragte er.

Mencheres schüttelte den Kopf. »Rodney meinte, sie wäre direkt aus ihrem Zimmer verschwunden. Ihre Nachtwäsche lag noch auf dem Bett.«

Er hatte sie im Schlaf entführt. O Gott, Gregor hatte meine Mutter aus ihren Träumen zu sich geholt.

»Er hat gesagt, er würde mich leiden lassen«, flüsterte ich. Im Geist hörte ich Gregors knurrende Stimme aus dem letzten Traum, in den er eingedrungen war. »Ich hätte nicht gedacht, dass er sich meine Mutter schnappen würde. Wie hat er das gemacht? Er hat doch noch nie von ihr getrunken.«

Meine Stimme verlor sich. Doch, das war durchaus möglich. Ich hatte immer geglaubt, er hätte meine Mutter durch seinen Hypnoseblick allein dazu gebracht, mir weiszumachen, er wäre ein alter Freund. Offenbar hatte er aber auch ihr Blut getrunken.

»Ich muss mit Gregor sprechen«, sagte ich sofort. »Irgendwer muss doch wissen, wie man ihn erreichen kann.«

Mencheres ließ die Hände sinken, die er auf meine Schultern gelegt hatte. »Dir ist doch klar, dass er genau das erreichen will. Er will sie gegen dich austauschen.«

»Dann soll er mich haben«, antwortete ich.

Bones’ Griff um meine Taille wurde hart wie Stahl. »Niemals. «

»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Mit den Schultern zucken und hoffen, dass Gregor sie nicht umbringt? Ich weiß, dass du sie nicht ausstehen kannst, Bones, aber sie ist meine Mutter. Ich kann sie nicht im Stich lassen!«

»Er wird sie bestimmt nicht umbringen, Kätzchen«, antwortete Bones mit fester Stimme. »Sie ist der einzige Trumpf, den er gegen dich in der Hand hat, denn aus deinen Träumen entführen kann er dich nicht mehr, jetzt, wo du eine Vampirin bist.«

Angst, Wut und Frustration stiegen in mir hoch und verursachten einen scharfen Geruch nach verbranntem Plastik.

»Mencheres!«, rief ich und packte ihn am Kragen. »Du könntest mich begleiten. Du hast Gregor schon einmal dingfest gemacht und könntest es wieder schaffen! Oder noch besser: Wir bringen ihn um.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn damals heimlich eingekerkert, um einen Krieg zwischen seinen Verbündeten und meinen zu vermeiden. Wenn Gregor jetzt verschwindet, weiß jeder, dass Bones oder ich die Hand im Spiel haben. Gregors Verbündete würden uns zur Rechenschaft ziehen.«

Ich überlegte hin und her, ob es nicht noch eine Alternative gäbe. »Du kannst Gregor und seine Leute durch pure Gedankenkraft handlungsunfähig machen – das habe ich selbst gesehen. Dann hole ich Mom da raus, und wir hauen ab.«

Einige Strähnen seines langen schwarzen Haares waren ihm über die Schulter gefallen, als ich ihn gepackt hatte, aber sein Blick war kühl … und traurig.

»Das kann ich nicht tun, Cat.«

»Warum?«, fuhr ich ihn an.

»Weil Gregor unseren Gesetzen zufolge Anspruch auf deine Mutter hat«, antwortete Mencheres in ruhigem Tonfall. »Wenn wir ihn angreifen, weil er einen seiner eigenen Leute zu sich geholt hat, haben wir mehr als nur Gregors Verbündete gegen uns.«

»Gregor hat überhaupt keinen Anspruch auf meine Mutter«, rief ich. Dann lief mir ein kalter Schauder über den Rücken, was nichts mit meiner neuen Körpertemperatur zu tun hatte.

Doch, er hatte Anspruch auf sie. Dem vampirischen Gesetz nach war ich mit Gregor verheiratet, und das hieß, dass meine Leute auch seine waren. Außerdem hatte Gregor meine Mutter gebissen, sodass sie aus vampirischer Sicht sein Eigentum war, wenn er sie als solches beanspruchen wollte.

O Gott. Kein Vampir würde gegen das Gesetz verstoßen, um mir bei der Rettung meiner Mutter beizustehen, nicht einmal Vlad.

»Wenn die Gesetze so streng sind, warum hat man mich dann noch nicht gezwungen, zu Gregor zurückzukehren?«, fragte ich verbittert nach. »Warum kann ich frei herumlaufen und sie nicht?«

»Erstens hast du dich noch nicht öffentlich zu eurer Verbindung bekannt. Einige Vampire, die Gregor Glauben schenken, haben sich allerdings schon dafür ausgesprochen, dich gegen deinen Willen zu ihm zurückzuschicken. Die meisten sind jedoch der Ansicht, dass es sie nichts angeht, wenn du einen anderen Mann Gregor vorziehst. Greifen wir Gregor jetzt an, um deine Mutter zu befreien, geht sie das allerdings sehr wohl etwas an. In gewisser Weise ist sie durchaus sein Eigentum, und wenn wir Gregor jetzt etwas nehmen, das ihm gehört, glauben die Leute am Ende, Bones und ich könnten sie ebenfalls grundlos bestehlen.«

»Grundlos?« Meine Stimme war eisig.

Bones warf mir einen Blick zu. »Grundlos in ihren Augen, nicht in unseren.«

»Ich kann sie nicht einfach Gregor überlassen, Gesetze hin oder her«, stellte ich fest.

Bones drehte mich so, dass wir einander gegenüberstanden. »Kätzchen, ich auch nicht, aber wir müssen abwarten. Sobald Gregor tot ist, ist deine Mutter wieder frei. Gregor glaubt doch, dass du jetzt sofort zu ihm gerannt kommst. Er wird niemals erwarten, dass du Vorsicht walten lässt. Vertraust du mir und wartest ab, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist?«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das Blut, das daraufhin meinen Mund füllte, rief mir in Erinnerung, dass meine Fangzähne ausgefahren waren. Trotz allem spürte ich, wie ich Hunger bekam. Wie sollte ich es nur fertig bringen, einfach abzuwarten und zu hoffen, dass Gregor nicht ungeduldig werden und mir zur Motivationssteigerung Teile meiner Mutter zuschicken würde? Aber ohne Plan und Rückendeckung konnte ich schließlich auch nicht gegen Gregor vorgehen. Meine übliche Flucht-nach-vorn-Strategie hatte mich in letzter Zeit nicht viel weitergebracht.

Bones berührte meine Wange. »Ich werde ihn finden, Süße. Und dann bringe ich ihn um. Vertrau mir.«

Ich schluckte, spürte, wie mir eine Träne übers Gesicht lief, und wusste, dass sie rosa sein musste.

»Okay.«

Bones küsste mich, kurz, aber zärtlich. Dann wandte er sich an Mencheres.

»Wir werden öffentlich bekannt geben, dass sie die Verwandlung vollzogen hat. Am besten während einer offiziellen Versammlung, damit sie unter Waffenstillstand in die Vampirgesellschaft eingeführt werden kann und wir keinen Angriff befürchten müssen.«

»Einverstanden«, antwortete Mencheres. »Ich werde umgehend alles Nötige veranlassen.«

»Ihr wollt eine Party schmeißen?«, fragte ich nach, weil ich glaubte, falsch gehört zu haben. »So sieht euer toller Plan aus?«

»Es gibt immer noch Ghule, die dich als Gefahr für ihre Spezies ansehen«, antwortete Bones. »Vor allem einer namens Apollyon hat sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Wenn wir ihm und den anderen zeigen, dass du zum Vampir geworden bist, sind wir das Problem los. Gleichzeitig sichern wir uns damit das Wohlwollen der anderen Vampire in der Gemeinschaft, und das werden wir brauchen können, wenn Gregor ein tödliches Unglück geschieht.«

Kühler Pragmatismus. Das war Bones’ Stärke. Wollte ich meine Mutter lebend zurückbekommen, musste sie wohl auch zu meiner werden.

»Da ist was dran.« Mein Lächeln war bitter. »Hätte ich öfter auf dich gehört, würde meine Mutter jetzt nicht so in der Patsche sitzen.«

Bones griff mir unters Kinn. »Fang bloß nicht an, dir Vorwürfe zu machen. Du hast in deinem äußerst kurzen Leben schon viele Leute beschützt. Und du machst dir selbst zu viel Druck. Du musst nicht für alles eine Lösung haben, Kätzchen. Du bist nicht mehr allein.«

Bis auf die zwei Jahre, die ich mit Bones verbracht hatte, war ich mir wirklich mein ganzes Leben lang allein vorgekommen. Kein Wunder, dass mir das Umdenken jetzt so schwerfiel.

»Okay, dann kommt also jetzt erst mal mein untoter Debütantinnenball. Ich nuckele sogar öffentlich an einem Menschen, wenn uns das hilft. Meine wahren Essgewohnheiten werden wir ja wohl weiterhin geheim halten, nehme ich an.«

Bones zuckte mit den Schultern. »Ich finde es unnötig, die Leute aufgrund einer solchen Bagatelle in Aufregung zu versetzten. Will meinen, ja, wir halten es geheim. Aber wir haben auch keine Veranlassung, ein so drastisches Schauspiel zu veranstalten. Du bist jetzt eindeutig eine vollwertige Vampirin. Mehr brauchen die Leute nicht zu sehen.«

»Wo soll mein Coming-out denn stattfinden?«

»Hier. Wir wohnen schon lange genug in diesem Haus. Wir halten die Versammlung ab und ziehen dann um. Dann wird sich auch schon bald eine Möglichkeit finden, deine Mutter zu retten.«

Ich freute mich schon darauf. Im Augenblick fand ich nichts verlockender als die Vorstellung, mich endlich durch die Reihen von Gregors Wachen kämpfen zu können.

Aber was, wenn ich gar nicht gegen seine Wachen ankam? Womöglich war ich im Augenblick so schwach wie jeder andere junge Vampir. In den letzten Tagen war keine Zeit gewesen, meine Körperkraft zu testen. Nur meine mentale Stärke bei der Überwindung meiner Blutgier.

»Bones. Wir müssen kämpfen.«

 

Zu meiner immensen Erleichterung stellte ich fest, dass meine Stärke nicht auf das für junge Vampire normale Maß zurückgegangen war. Während unseres ersten Kampfes war Bones sogar erstaunt gewesen, als ich seine Zurückhaltung ausgenutzt und ihn geschlagen hatte. Entsetzt hatte er das Messer in seiner Brust angestarrt – Stahl, kein Silber –, um dann den Kopf in den Nacken zu legen und laut loszulachen, bevor er mich in einen richtigen Kampf verwickelte, nach dem ich mir vorkam, als wäre ich gerade von einer Klippe gefallen … und hinterher von einem Zug überrollt worden.

Im Vergleich zu früher erholte ich mich jetzt blitzschnell, aber die neu erworbenen Fähigkeiten hatten auch ihren Preis. Alles kam mir intensiver vor. Was toll war, wenn es um Sex ging, aber nicht im Kampf. Knochenbrüche oder Stichverletzungen heilten zwar in Sekunden, verursachten mir aber wahnsinnige Schmerzen. Bones erklärte mir, das läge daran, dass mein Körper nicht mehr in einen Schock verfiel. Nein, nach dem rasenden Schmerz kam gleich die komplette Heilung, vorausgesetzt, ich war schnell genug, mir nicht neue Verletzungen einzuhandeln, bevor ich mich von den alten erholt hatte.

Was mir noch auffiel, war, wie anders sich eine Verletzung durch ein Silbermesser im Vergleich zu jedem anderen Metall anfühlte. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie groß die Abneigung war, die Vampire gegenüber Silber verspürten, beziehungsweise wie sehr ich als Halbblut davor gefeit gewesen war. Wurde ich durch eine Silberklinge verletzt, kam zu den Schmerzen noch ein unerträgliches Brennen hinzu, im Vergleich zu dem eine durch Stahl verursachte Verletzung das reinste Vergnügen war.

Ich würde lernen müssen, meine instinktive Reaktion auf diese neuen, schlimmeren Schmerzen zu kontrollieren. Im Augenblick ließen sie mich taumeln und kosteten mich Zeit. Zeit, die ich im Hinblick auf den drohenden Kampf um meine Mutter nicht verschenken konnte.

Vier Tage vergingen, ohne dass wir etwas von meiner Mutter hörten. Ich gönnte mir keine Verschnaufpause – zumindest nicht, bis der nahende Tag mich außer Gefecht setzte. Je mehr Blut ich von Bones trank, desto länger konnte ich wach bleiben, wenn die Sonne über den Horizont kroch. Ich schaffte bereits eine Stunde. Zugegebenermaßen war ich während dieser Stunde fast komplett bewegungsunfähig, aber es war immerhin ein Fortschritt, auch wenn ich keine Vergleichsmöglichkeiten hatte. Offenbar war ich nicht nur das weltweit einzig bekannte Halbblut, sondern auch das einzige, das je zum Vampir geworden war. Niemand wusste, wie lange mich die für junge Vampire so typische morgendliche Schwäche beeinträchtigen würde. Vielleicht konnte ich in einer Woche bei Sonnenaufgang schon Rad schlagen … vielleicht würde bis dahin aber auch ein Jahr vergehen.

In der fünften Nacht hatte ich meine Coming-out-Party. Ich war keineswegs dazu aufgelegt herumzustehen, zu lächeln und einen Haufen Leute zu begrüßen, die es vielleicht vor Kurzem noch auf meinen Kopf abgesehen hatten, aber genau das würde ich tun müssen. Wenn ich damit weitere Spannungen zwischen Vampiren und Ghulen verhindern und die Chancen verbessern konnte, meine Mutter zurückzubekommen, würde ich es notfalls auch nackt hinter mich bringen. Da es sich bei dem Ereignis um eine offizielle Untotenversammlung handelte, würde es Essen – aller Arten –, Getränke, Tanz und andere Vergnügungen geben, während die Mächtigen sich die Köpfe darüber zerbrachen, ob sie die Hälfte der Gästeschar abschlachten sollten.

Anders ausgedrückt: wie beim College-Ball.

Ich hatte gerade mein Haar trocken geföhnt, als ich hörte, wie die Eingangstür im Erdgeschoss zuschlug und jemand eilig die Treppe heraufkam. Bones war zurück. Er hatte mir ein Kleid besorgt, weil er aus irgendwelchen Gründen der Meinung war, im Haus wäre nichts gut genug für den Anlass. Schließlich trat er mit einer Kleiderhülle in der Hand durch die Tür.

»Du kommst wie gerufen«, verkündete ich. »Ich will mir gerade die Haare machen. Zeig mal das Kleid her.«

Bones öffnete den Reißverschluss und enthüllte ein langes schwarzes, leicht tailliertes Abendkleid mit Spaghettiträgern und Strasssteinchen am Oberteil. Sie würden meine Brüste hervorheben, und selbst das schwache Licht im Raum ließ sie in schillernden Farben glitzern.

»Wunderschön«, stellte ich fest und lächelte dann verschmitzt. »Darunter kann ich aber keinen BH tragen. War bestimmt ein Versehen von dir.«

Er grinste. »Natürlich.«

Ein wirklich wundervolles Kleid. Schlicht, düster und doch glamourös. Sehr passend für eine vampirische Coming-out-Party.

»Passt bestimmt super zu meinen Reißzähnen«, bemerkte ich. Meine Kaltschnäuzigkeit sollte darüber hinwegtäuschen, wie nervös ich war. Aber ich konnte meine Aufregung riechen. Sie verbreitete einen ekelhaft süßen Geruch, wie ein überreifer Pfirsich. Hätte ich doch meine Anspannung mit einem Eau de Courage überdecken können.

Bones küsste meine bloße Schulter; Kunststück, schließlich hatte ich nur ein Handtuch um. »Das wird schon, Kätzchen. «

Ich lächelte, ignorierte das Ziehen in meinem Magen, das eine ganz andere Sprache sprach. »Na klar.«

 

Das letzte Mal, dass ich so vielen Leuten die Hand geschüttelt hatte, war auf Randys Beerdigung gewesen. Hier ging es fast so ausgelassen zu. Was unter anderem daran lag, dass ich von Bones nicht mehr hörte als: »Das ist Soundso. Soundso, darf ich Ihnen Cat, das jüngste Mitglied meiner Sippe vorstellen? « Woraufhin ich jemandem die Hand gab, der mich vielleicht am liebsten über dem offenen Feuer geröstet hätte.

Rodney war auch da und schaute so düster drein, wie ich mich fühlte. Er machte sich Vorwürfe, weil er meine Mutter nicht geweckt hatte, als Gregor ihr im Traum erschienen war. Ich versuchte Rodney davon zu überzeugen, dass er unmöglich hätte wissen können, was da im Gange war, aber meine tröstenden Worte stießen auf taube Ohren.

Fabian schwebte umher wie ein durchsichtiger Oberkellner und verkündete, wann Drinks oder Häppchen knapp wurden. Spade und Ian machten uns ebenfalls hochoffiziell ihre Aufwartung. Etwa dreißig Shakehands später kam Annette an die Reihe. Sie trug ein trägerloses Kleid, das ihr wie angegossen am üppigen Leib saß. Lange schwarze Handschuhe gaben dem sexy Outfit eine klassische Note. Neben ihr kam ich mir vor wie ein Rotfuchs im Fummel.

Sie schlang die Arme um mich. Verblüfft erstarrte ich. Annette drückte mich kurz und flüsterte: »Du hast die richtige Entscheidung getroffen.« Dann löste sie sich mit einem Lächeln wieder von mir.

»Du siehst ganz hinreißend aus, Cat. Der Tod scheint dir wirklich gut zu bekommen.«

Eine dermaßen herzliche Begrüßung hatte ich von ihr nicht erwartet. »Danke«, stammelte ich. »Hab mir sagen lassen, das wäre diese Saison der letzte Schrei.«

Sie lachte, ein sexy Unterton lag darin. »Darf man hoffen, dass deine ausschließlich heterosexuellen Neigungen mit deinem Puls zu Grabe getragen wurden?«

Das war nun wieder die Annette, die ich kannte. Ein gieriger Hai im Körper einer schönen Frau.

»In diesem Punkt hat sich nichts geändert«, klärte ich sie nüchtern auf. »Aber danke der Nachfrage.«

Ihre Augen blitzten. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, heißt es doch so schön. Ach, ich muss weiter. Wollen dir schließlich noch jede Menge Leute beim Nicht-Atmen zugucken. «

Nahe des Haupteingangs entdeckte ich eine vertraute Gestalt. Glattes dunkles Haar mit ausgeprägten Geheimratsecken umrahmte ein hageres Gesicht, aus dem kupfergrüne Augen in meine blickten.

»Vlad!«

Die Anspannung der vergangenen Stunde hatte ihren Tribut von mir gefordert, und ich war so froh, jemanden zu sehen, dem ich vertraute, dass ich meinen Platz verließ, um ihn zu begrüßen. Er riecht nach Zimt und Rauch, dachte ich, als ich ihn umarmte. Was für eine interessante Kombination.

Dann wurde mir bewusst, dass es im Saal still geworden war. Als ich mich umsah, hatte jeder in seiner Beschäftigung innegehalten, um uns anzustarren; und der Blick, den Bones mir zuwarf, hätte Dampf gefriertrocknen können.

»Kätzchen«, wandte er sich an mich. »Würdest du bitte zurückkommen … sofort

Oh-oh. Offensichtlich war es ein Fauxpas gewesen, einen Freund außerhalb des vorgeschriebenen Protokolls zu begrüßen.

»Die Pflicht ruft«, murmelte ich Vlad zu. »Danke, dass du gekommen bist.«

»Kein Problem.« Das ehrliche Lächeln, das er mir geschenkt hatte, verwandelte sich wieder in sein übliches sardonisches Grinsen. »Geh deine Fans begrüßen.«

Meine Fans, ja, das waren sie. In meinem ganzen Leben war ich mir noch nicht so beurteilt und seziert vorgekommen wie an diesem Abend. Scheiß auf meinen nicht vorhandenen Herzschlag und die fehlende Atmung; hätte mir jemand den Mund aufgerissen und meine Fangzähne sehen wollen, wäre ich auch nicht weiter überrascht gewesen.

»Verzeihung«, entschuldigte ich mich bei Bones. Ich war überrascht, als ich sah, wie starr er geworden war; ein zorniger Geruch ging von ihm aus, als hätte ihn jemand mit Kerosin übergossen.

»Ja, ja«, antwortete er, sein Tonfall kälter als Eis. »Darf ich dir Malcolme Untare vorstellen? Du kennst ihn unter einem anderen Namen. Apollyon.«

Fast hätte ich die Hand zurückgezogen, als der Mann, den ich bisher kaum eines Blickes gewürdigt hatte, sie mit laschem Griff schüttelte. Das war der Ghul, der die vielen Gerüchte über mich in Umlauf gebracht hatte?

Malcolme Untare, oder Apollyon, wie er sich selbst nannte, war etwa so groß wie ich ohne Schuhe. Sein schwarzes Haar war gefärbt, wie man unschwer erkennen konnte, und er hatte sich sogar einige Strähnen über den Kopf gekämmt, wie manche Männer es aus der irrigen Hoffnung heraus tun, sie könnten so ihre Glatze verstecken. Ich widerstand dem plötzlichen Drang, die Strähne wegzuziehen und seinem kahlen Haupt darunter »Kuckuck!« zuzurufen. Da ich ihn aber gerade erst stehen gelassen und Vlad zuerst begrüßt hatte, fürchtete ich, dass ich damit dann doch zu weit gehen würde.

Eines konnte ich mir allerdings nicht verkneifen. »Angenehm«, sagte ich zu ihm und ließ ihm einen mehr als festen Händedruck angedeihen.

Apollyon ließ meine Hand los, als wäre ihm die Berührung zuwider. Er hatte wässrig blaue Augen und zarte Pausbäckchen, die nicht zu seinem Auftreten passen wollten. Irgendwie fand ich, sein Gesicht hätte voller Warzen sein müssen, weil er mich an eine widerliche, fette Kröte erinnerte.

»Sie entsprechen genau der Vorstellung, die ich mir von Ihnen gemacht habe«, verkündete er mit verächtlichem Lächeln.

Ich richtete mich zu voller Größe auf. In meinen Absatzschuhen war ich fünf Zentimeter größer als er. Ein Arschloch wie Apollyon konnte es bestimmt nicht leiden, wenn eine Frau ihn überragte. »Das Kompliment kann ich nur erwidern. «

»Kätzchen«, mischte Bones sich ein.

Ach ja, wir wollten ja niemanden provozieren. »Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Apollyon, und reservieren Sie doch bitte einen Tanz für mich. Sie sehen aus, als wollten Sie heute eine kesse Sohle aufs Parkett legen.«

Vlad machte keine Anstalten, sich sein Lachen zu verkneifen. Mencheres warf mir einen dieser Blicke zu, die besagten, dass er mein Verhalten gar nicht klug fand, und Bones sah aus, als wollte er mich am liebsten erwürgen. Pech für ihn. Apollyon hatte versucht, die Leute dazu aufzustacheln, mich und andere Vampire zu töten, und alles nur aufgrund von Lügen und Paranoia. Da würde ich ihm bestimmt nicht die Füße küssen und behaupten, sie schmeckten nach Kandiszucker.

Nach Wut stinkend rauschte Apollyon an mir vorbei – ich wurde allmählich echt gut im Erkennen von Gerüchen! –, woraufhin ich wieder mein falsches Lächeln aufsetzte, um den nächsten Gratulanten von zweifelhafter Gesinnung zu begrüßen.