Kapitel Fünf
»Zweifellos sind die schicksalhaften Ziele der Helden hochgesteckt, und sie erreichen diese in tadelloser Haltung. Ihr Schmerz ist schrecklich …«
Sir Thomas Noon Talfourd
Dad und Evelyn saßen am Esstisch. Beide Köpfe fuhren hoch, als sie mich hereinkommen sahen. Dad lächelte von Ohr zu Ohr und warf mir einen stolzen Vaterblick zu. »Violet, wie du aussiehst … Wow.«
Ich lächelte. »Danke Dad.«
»Wirklich wunderschön«, sagte Evelyn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
Ich verdrehte die Augen. »Ich ziehe mich jetzt um.« Und bevor sie noch etwas sagen konnte, ging ich in mein Zimmer, wo ich eine alte Jeans und ein T-Shirt anzog und mich sofort wieder mehr wie ich selbst fühlte.
Beim Hinausgehen fiel mein Blick auf meine Künstlermappe und all die neuen Utensilien, die nur darauf warteten, im Fenton-Kurs eingesetzt zu werden. Ich biss mir auf die Unterlippe, machte das Licht aus und ging zurück ins Wohnzimmer.
Griffin stand am Kopfende des Esstisches. Lincoln lehnte an der gegenüberliegenden Wand. Alle anderen hatten sich hingesetzt. Ich setzte mich auf den freien Platz neben Dad. Es war seltsam, dass alle zusammen bei mir zu Hause waren. Meine beiden Welten waren aufeinandergeprallt, und ich hoffte verzweifelt, dass das gut war.
»Da bist du ja, Liebes«, sagte Dad und schob eine Kaffeetasse auf mich zu.
Ich nahm sie in beide Hände, trank einen Schluck und seufzte erleichtert – Kaffee hatte diese Wirkung auf mich.
»Ich nehme an, alle wundern sich, weshalb wir hier sind …«, begann Griffin.
»Nicht besonders«, erwiderte Evelyn und schnippte sich ihren schlecht geschnittenen Pony aus dem Gesicht. »Höchstwahrscheinlich bin ich der Grund dafür.«
Griffin nickte. »Ich fürchte ja, Evelyn. Die Akademie kennt deinen Aufenthaltsort sehr wohl. Sie fordern dich auf, zu einer vollständigen Beurteilung nach New York zu kommen. ›Nicht verhandelbar‹, das waren ihre Worte. Und«, er sah mich an und ich wusste, dass mein Abend gerade von hoffnungsvoll zu hoffnungslos gekippt war, »sie wollen unbedingt, dass Violet ebenfalls kommt, um an einer formellen Grigori-Prüfung teilzunehmen. Wenn sie nicht kommt, werden sie es als feindliche Handlung gegenüber der Akademie betrachten und entsprechend reagieren.«
»Was bedeutet, dass sie Truppen hierher schicken«, sagte Evelyn.
Griffins Schweigen und sein müder, gesenkter Blick waren Antwort genug.
Evelyn seufzte. »Josephine?«
Als stillschweigende Bestätigung neigte Griffin den Kopf zur Seite und lächelte halb. Er wandte sich an Dad. »Josephine ist stellvertretende Vorsitzende des Rates, der die Akademie leitet.«
»Das ist mir gleichgültig. Keine von euch wird irgendwohin gehen«, sagte Dad. Sein Blick schweifte zwischen Evelyn und mir hin und her und wanderte dann zu Griffin. »Truppen hin oder her.«
Evelyn nahm Dads Hand in ihre. »Schon gut, James. Josephine und ich kennen uns schon lange. Ich weiß, wie sie arbeitet und ich weiß auch, wann man sich ihr besser nicht widersetzt.« Sie warf Griffin einen Blick zu. »Ich würde niemals Truppen der Akademie in deine Stadt bringen. Du hast bereits ein unverdientes Risiko auf dich genommen, indem du mich die letzten drei Wochen hier beherbergt hast. Dafür bin ich dir sehr dankbar.«
Evelyns Worte schienen aufrichtig zu sein, aber ich blieb misstrauisch. Ich konnte sie einfach nicht durchschauen.
»Gewiss. Aber mit allem gebührenden Respekt – es war nicht unverdient.« Griffin sah mich an und nickte.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.
»Allerdings«, sagte Evelyn.
Griffin setzte sich auf einen Stuhl. »Aber du hast recht. In meiner Position kann ich mich nicht persönlich gegen die Akademie auflehnen. Ich bin dem Rat verpflichtet und es geht unmittelbar um die Sicherheit dieser Stadt. Normalerweise würde ich dich oder Violet niemals einem Risiko aussetzen, aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich glaube, dass ihr beide gehen müsst.«
Evelyn holte tief Luft und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah ich etwas Neues – ihre innere Kriegerin. Sie starrte mich an und ich musste mich anstrengen, nicht zurückzuschrecken.
»Lilith ist nach Hause gekommen.«
Griffin nickte erschöpft.
»Ich glaube, die Party ist wirklich vorbei«, sagte Spence und ließ sich auf seinem Stuhl zurückfallen.
Dem konnte ich nur zustimmen.
»Was meinst du mit ›nach Hause‹?«, fragte Lincoln und stieß sich von der Wand ab.
»Auch wenn sie eigentlich überall zu Hause war« – Griffin rieb sich die Augen, seine Worte wurden schwerer –, »vermuteten wir schon die ganze Zeit, dass sie nach New York gehen würde. Bestätigt wurde das aber erst jetzt. Lilith hat lange genug gelebt, um in alle Ecken der Welt zu reisen, doch bevor Evelyn sie zurückschickte, hatte sie am Staat New York Gefallen gefunden. Manhattan ist dicht von Verbannten bevölkert. Sie wird dort zahlreiche starke Verbündete haben.«
Evelyn schob ihren Stuhl zurück, zögerte und stand dann auf.
»Ich wusste, du würdest sie behalten«, sagte sie zu Dad, während sie an einer großen weißen Keramikvase herumfingerte, die an ihrem gewohnten Platz auf dem Tisch stand.
Er räusperte sich. »Natürlich.«
Ich kannte die Geschichte. Evelyn war auch Künstlerin, sie hatte Keramikwaren hergestellt. Das hier war das letzte Stück, das sie gemacht hatte. Dad hatte sie nie weggeworfen.
Sie nahm die schwere Vase, als wäre sie federleicht.
»Darüber bin ich sehr froh«, sagte sie, bevor sie sie auf den Boden warf.
Dad sprang auf und fuchtelte mit den Händen. »Nein!«
»Ich mache dir eine neue. Das verspreche ich.« Sie beugte sich vor und schob die Scherben beiseite, bis ihre Hände fanden, was sie gesucht hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie ihren Grigori-Dolch in der Hand.
»Cool«, murmelte Zoe.
Griffin schnappte nach Luft. »Das verstehe ich nicht. Man weiß doch, dass Grigori-Klingen verschwinden, wenn sie ohne Besitzer sind.«
Evelyn drehte den Griff ihres Dolches in der Hand, um sich wieder mit ihm vertraut zu machen. »An mir ist nichts normal.«
Meine Hand strich über die Scheide meines eigenen Grigori-Dolches, des Dolches, den Phoenix in Santorin in den Vulkan geworfen hatte und der drei Tage später irgendwie wieder bei mir aufgetaucht war. Ich war morgens aufgewacht und hatte ihn auf dem Nachttisch gefunden. An mir war auch nicht viel normal.
Evelyn reichte Griffin den Dolch. »Würdest du ihn bitte kurz halten?« Sie nahm ihre Armbänder ab und reichte sie ebenfalls Griffin.
»Du vertraust mir ziemlich viel an, wenn man bedenkt, dass ich kurz davor bin, dich dem Rat auszuliefern.«
Sie legte Griffin die Hand auf die Schulter und sah mich an. »Du hast gut auf sie aufgepasst. Sie geführt, als ich es nicht konnte. Es ist keine große Sache, dir meine Waffen anzuvertrauen.«
Griffin nickte, während ich die Augen verdrehte.
Gott, kommen ihm jetzt die Tränen? Kauft er ihr diesen Mist etwa ab?
»Na so was, Griff – brauchst du ein Taschentuch?«, fragte Spence und zerstörte damit diesen Moment.
»Wann brechen wir auf?«, fragte ich, zurück zum Geschäftlichen.
Griffin riss sich zusammen. »Morgen. Die Akademie hat ein Flugzeug organisiert.«
»Okay«, sagte ich. Dann nahm ich die leere Kaffeetasse und ging in Richtung Küche, weil ich Bewegung brauchte.
Ich schaffte es bis zu der Ecke, ab der man mich nicht mehr sehen konnte, und atmete dann aus. Meine Hände umklammerten die Küchenbank, und ich ließ den Kopf hängen.
Ich werde den Fenton-Kurs verpassen.
Es war dumm – es war bedeutungslos. Es war nur ein Kunstkurs, aber es war mein Kunstkurs. Ich hatte meinen Platz darin verdient und mich schon seit Langem darauf gefreut. Er war das Einzige, was ich außerhalb von all dem hatte, und jetzt würde ich ihn aufgeben müssen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich wieder zusammengerissen hatte, dann ging ich zurück ins Wohnzimmer. Ich vermied es vor den anderen Schwäche zu zeigen. Ich spürte, dass Lincolns Blick auf mir ruhte, sah ihn jedoch nicht an.
Evelyn redete gerade. »Es gibt etwas, das ihr wissen müsst, bevor wir aufbrechen.«
»Was denn?«, fragte Griffin.
»Wenn ich gefangen gehalten werde und nicht wegkann, Lilith muss aufgehalten werden, wenn sie gefunden wird. Der Grund meiner Rückkehr besteht nicht nur darin zu helfen, gegen sie zu kämpfen, sondern auch darin, endlich zu erzählen, wie ich sie zurückgeschickt habe.«
»Du hast das nie zuvor jemandem erzählt?«, fragte Lincoln.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht erklären, warum nicht. Ich wusste nur, dass es ein Geheimnis war, das ich wahren musste.«
Ihre Worte jagten mir einen unerklärlichen Schauder über den Rücken. Evelyn blickte sich um und sah uns alle abschätzend an. Ich war mir nicht sicher, ob ihr gefiel, was sie sah.
»Warum sind hier keine älteren Grigori?«, fragte sie und sah Griffin dabei vorwurfsvoll an. Doch durch seine Autorität, die ihm ein Seraph verliehen hatte, geriet er keine Sekunde lang ins Wanken.
»Weil ich nicht alle meine Grigori mit an die Akademie nehmen kann. Spence, Salvatore und Zoe sind Schüler, sie können mit uns kommen, wenn sie wollen. Ich werde als Begleitung mitkommen und Lincoln als Violets Partner. Jemand Älteren als uns zwei wirst du hier nicht finden.«
Evelyn starrte Griffin herausfordernd an, bevor sie es mit einem kurzen Nicken darauf beruhen ließ. Nachdem die Machtkämpfe dann endlich vorbei waren, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und begann mit ihrer Erzählung.
»Lilith wurde als Erste erschaffen, deshalb ist sie so mächtig. Ein Grigori-Dolch, der von geringeren Engeln gemacht wurde, hat keine Wirkung auf sie, und selbst mit Waffen, die von hochrangigeren Engeln stammen« – dabei sah sie mich an – »kann man sie nicht töten. Jonathan …« Ihre Stimme stockte. »Mein Partner und ich haben ein halbes Jahrhundert lang alte Mythen und vergessene Sagen über eine Substanz erforscht, die Verbannten in menschlicher Gestalt schaden kann. Der Zaubertrank geht auf das alte Ägypten zurück und schien nicht mehr zu existieren. Wir entdeckten Nachahmungen, fanden aber heraus, dass der echte Trank auf die Zeit zurückgeht, in der Engel noch auf der Erde sein durften – vor der Sintflut –, und wir versuchen mussten, eine unerschlossene Quelle zu finden.«
»Das muss nahezu unmöglich gewesen sein«, sagte Lincoln.
»Das war es. Aber es war auch unsere einzige Chance. Wir brauchten die Zusammensetzung dieses Tranks – eine Art Gift – und die Grigori-Klinge, wenn wir auch nur eine Chance haben wollten, Lilith außer Gefecht zu setzen. Der Trank selbst hatte dreizehn Zutaten. Zwölf von der Erde. Die dreizehnte jedoch«, sie schloss kurz die Augen, »aus dem Engelreich.«
»Wie habt ihr sie gefunden?«, fragte Griffin gespannt.
»Indem wir an Orten nachschauten, wo Engel, die einst auf Erden waren, sie vielleicht zurückgelassen hatten. Wir durchsuchten ägyptische Gräber, die aus der Zeit vor der Flut stammten, bis wir 1922 schließlich eine kleine Phiole in einem neu entdeckten Grab fanden.«
Steph schnappte nach Luft. »Tutanchamun.«
Evelyn nickte.
»Warum Ägypten?«, wollte Lincoln wissen.
»Manche Pharaonen glaubten, dass dieser Trank sie nach ihrem Tod zu Engeln machen und böse Geister fernhalten würde. Sie nannten ihn den Ersten Atemzug des Jenseits.«
Mir lief ein Schauder über den Rücken.
»Wenn dieser Trank sie nur außer Gefecht setzt, würden dann nicht auch Violets Kräfte reichen?«, fragte Griffin.
Ich verdrehte die Augen. Griffin und Evelyn hatten offenbar über mich geredet. Ich hatte ihr nie erklärt, wie weit meine Kräfte gingen, und ich hatte Dad darum gebeten, nicht mit ihr darüber zu sprechen. Aber ihrer Miene nach zu urteilen, überraschte es sie nicht, dass ich Verbannte bewegungsunfähig machen konnte, und zwar ohne den Körperkontakt, den andere Grigori dafür benötigten.
»Das könnte gehen …«, sagte Evelyn zu Griffin. »Aber ich zweifle sehr daran, dass sie schon stark genug ist.«
Wie nett.
Verteidigend knirschte ich mit den Zähnen. »Und ich zweifle sehr daran, dass du irgendeine Ahnung hast, wie stark ich bin!«
Evelyn ignorierte mich und sprach weiter. »Und wenn wir uns auf Violet verlassen, gehen wir ein großes Risiko ein. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich mich, ob das genug sein wird. Ich würde es vorziehen, wenn nicht alles in ihrer Hand läge.«
»Ja, Gott bewahre«, höhnte ich. »Wir wissen beide, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich umgebracht werde, bevor ich von echtem Nutzen sein kann, größer als alles andere ist.«
Evelyn starrte mich direkt und ohne zu blinzeln an. »Genau.«
»Was?«, zischte Dad und sah Evelyn an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Unwillkürlich war ich froh, dass er endlich anfing, ihr wahres Ich zu erkennen.
Evelyn wandte sich zu ihm um. »Wir könnten bei dem Versuch, sie aufzuhalten, alle umkommen, James. Ich habe unzählige Menschen und viel zu viele Grigori durch ihre Hand sterben sehen. Wir müssen Verantwortung übernehmen und Pläne für jedes mögliche Resultat machen.«
»Erzähl uns mehr von diesem Gift«, hakte Griffin nach. »Wie finden wir es?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es ja. Wir haben ein halbes Jahrhundert gebraucht, um die Phiole zu finden, und wir haben sie aufgebraucht. Ihr werdet niemals mehr davon finden.«
»Wie heißt es?«, fragte Steph. Eifrig hatte sie jedes Detail, das Evelyn ihnen geliefert hatte, mitgeschrieben.
»Es hat mehrere Namen. Qorot ist einer davon, aber am verbreitetsten ist Qeres.«
»Das Parfüm?«, fragte Steph. »Darüber habe ich gelesen – es wurde im Mumifizierungsprozess verwendet.«
Evelyn wirkte beeindruckt. »Ja, aber das, was man als Qeres bezeichnet, ist einfach nur das, was es ist – ein Parfüm. Das ursprüngliche Gebräu war etwas ganz anderes: zum einen eine Waffe der Engel, zum anderen ein Mittel, um die heiligen Tabernakel anzuheben, damit sie machtvoller wurden als alles andere auf der menschlichen Welt.«
Ich dachte an die Bundeslade, die wir in Moses’ Grab in Jordanien geöffnet hatten. Die hatte bestimmt nicht gewirkt, als wäre sie von dieser Welt.
»Kennst du irgendwelche Bücher, die uns helfen könnten?«, fragte Steph.
»Nein«, erwiderte Evelyn. »Es gibt Gerüchte über uralte Texte, die seine Geschichte dokumentieren sollen, aber sie wurden vor langer Zeit zerstört. Die meisten Zutaten kenne ich – Weihrauch, Myrrhe und Lotus zunächst einmal – einfache, erdgebundene Bestandteile. Aber wir kannten immer nur zehn der Zutaten mit Sicherheit, die beiden Übrigen können wir nur erraten. Dieses Problem und der nicht identifizierte dreizehnte Bestandteil sind die Gründe, weshalb wir den Trank in fertigem Zustand finden müssen.«
Steph stand auf und starrte ins Leere.
»Was denkst du?«, fragte Griffin. Er hatte Stephs streberhafte Tendenzen respektieren und schätzen gelernt.
»Wir sollten mit Dapper reden. Ich glaube, wenn jemand weiß, wo man Hinweise zu diesem Zeug finden kann, dann er«, sagte Steph.
»Dapper?«, fragte Dad.
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich Dad und Evelyn ansah. Lincoln schien ebenfalls belustigt. Meine Eltern würden nicht nur Dapper kennenlernen, sondern auch Onyx.