Kapitel Einundvierzig
»Was kann der Mensch
geben,
um sein Leben auszulösen?«
Markus 8, 37
Als Spence und ich Lincolns Wohnung wieder betraten, waren alle da. Sogar Onyx.
Sie sahen mich an und wagten kaum zu atmen, als ich in Lincolns Zimmer ging. Als ich die Tür hinter mir nicht zumachte, nahmen sie das als Einladung und folgten mir. Das machte mir nichts aus. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, und vielleicht würde ich sie brauchen.
Griffin zog Spence in die Zimmerecke und fing an, Antworten zu fordern. Spence verteidigte sich stotternd, wobei er mit »Ich kann nichts dafür« anfing und mit »Ich weiß nicht« endete.
Onyx und Dapper hielten sich zusammen mit Zoe und Salvatore im Hintergrund. Steph trat hinter mich. »Wir sind für dich da, Vi. Was immer du brauchst. Wir sind hier«, sagte sie.
Sie dachten, ich sei gekommen, um die Dinge zu Ende zu bringen. Sie irrten sich, aber ich nehme an, dass sie auf andere Weise … recht hatten.
Ich wandte mich Steph zu und sie schnappte nach Luft.
»Was ist?«, fragte ich.
»Deine Augen, sie sind grün!«
Ich starrte sie nur an, nicht gewillt, darüber nachzudenken, was sie da gerade gesagt hatte.
»Es sind nicht meine«, sagte ich schließlich und wandte mich wieder dem Bett zu, auf dem Lincoln lag.
»Wem zum Teufel gehören sie dann?«, schrie Steph mit schriller Stimme.
Ich antwortete nicht. Stattdessen beugte ich mich vor, weil ich wusste, was ich zu tun hatte. »Immer ist es ein Kuss«, murmelte ich. Und dann drückte ich meine Lippen auf seine und ließ ihn gehen.
Als ich ihn küsste, befreite sich seine Seele. Es war so schmerzhaft, dass ich dachte, mein ganzes Innenleben würde weggerissen, als sie aus meinem Körper in ihren rechtmäßigen Besitzer sprang. Ich schrie in seinen Mund, blieb aber dort und zwang mich, weiterzumachen, seine Seele aus mir herauszuschieben, bis sie ganz weg war.
In dem Moment, in dem ich wusste, dass es vollbracht war, sank ich zu Boden und schnappte nach Luft.
Steph ließ sich neben mich fallen. Ihre Hände zitterten, als sie sich an mich klammerte. »Vi, was war das?«
»Die Augen sind die Fenster zur Seele«, sagte Dapper vom Eingang her. »Das Mädchen ist losgegangen und hat seine Seele gefunden. Sie ist so wahnsinnig wie diese verfluchten Verbannten. Sie müsste eigentlich tot sein.«
»Was meinst du damit?«, drängte Griffin. »Lincoln?«
Dapper grunzte, Steph hielt mich weiterhin fest und versuchte, mein Zittern einzudämmen.
»Frag sie doch selbst, aber ich wette, sie hat da etwas abgezogen, wozu nur jemand wie sie fähig ist.«
Griffin kauerte sich vor mich. »Violet, hat Dapper recht? Hast du …?« Doch er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Lincoln war sein bester Freund und ich wusste, dass er sich in gewisser Weise selbst die Schuld gab, weil er uns an jenem Tag geraten hatte zu fliehen. Und er fühlte sich dafür verantwortlich, weil er am Ende nicht da gewesen war.
Ich blickte zu Steph auf und sah, wie sie scharf Luft holte. Meine Augen waren wieder normal. Nicht dass ich ihre Reaktion gebraucht hätte, um das zu merken, ich konnte die Veränderung bereits fühlen. Die Leere in mir war zurückgekehrt und ich konnte eine Präsenz wahrnehmen, die ich seit Wochen nicht mehr gespürt hatte.
Griffin beobachtete mich besorgt.
»Er ist wieder da«, sagte ich.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Niemand wusste, was er sagen sollte. Vielleicht dachten sie, ich hätte jetzt endgültig den Verstand verloren und hätte Wahnvorstellungen. Vielleicht glaubten sie auch, es wäre zu schön, um wahr zu sein.
Griffin jedoch nicht. Er starrte mich an. Er war ein Wahrheitsfinder, deshalb wusste er, dass das, was ich sagte, stimmte. Vermutlich war er einfach sprachlos. Er zog mich aus Stephs Armen in seine.
»Du bist ein Wunder.«
Ich machte mich steif in seinen Armen. Wie bei allen anderen … ich konnte das nicht. Langsam wand ich mich aus seiner Umarmung.
»Phoenix sagt, dass es ein paar Tage dauern wird, bis er sich erholt hat.« Ich stand auf, meine Beine waren noch immer zittrig, aber ich versuchte, es zu verbergen. Ich blickte zu Boden, um den bestürzten Blicken auszuweichen.
»Phoenix?«, sagte Griffin. Wieder lief eine Schockwelle durch die ganze Gruppe.
Ich nickte. »Phoenix ist ein Engel.«
»Na, das hätte ich mir ja denken können«, schnaubte Onyx. »Erlösung. So ein durchtriebenes Miststück.«
Alle ignorierten ihn.
»Ich bleibe hier, bis er aufwacht. Phoenix meinte, so wäre es am sichersten, weil ich diejenige war, die ihn zurückgebracht hat.« Ich presste die Lippen zusammen.
Griffin nickte. »Wir bringen dir eine Matratze und machen es dir gemütlich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ein Kissen und der Sessel da reichen.«
Griffin nickte und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Alles wird gut«, sagte er. Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Ich schenkte ihm den kläglichen Versuch eines Lächelns.
Als sie merkten, dass ich nicht mehr von meiner Geschichte preisgeben würde, gingen die anderen nach und nach. Steph und Spence gingen als Letzte. Spence machte sich nicht die Mühe zu versuchen, mich zu umarmen – er wusste, dass ich dazu nicht in der Lage war. Stattdessen kam er direkt zum Punkt.
»Eden, jetzt wo du Lincolns Seele zurückgeholt hast – glaubst du … Denkst du, du könntest auch Nyla finden?«
Von dem Moment an, in dem ich gedacht hatte, dass das funktionieren könnte, hatte ich gewusst, dass diese Frage aufkommen würde. Ich wusste nur nicht, wer derjenige sein würde, der fragt. Es tat mir leid, dass es ausgerechnet Spence sein würde.
»Wenn ich denken würde, dass eine Chance besteht, würde ich es machen. Aber es hat nur funktioniert aufgrund unserer …« Liebe … »Verbindung. Nur deshalb habe ich es geschafft, ihn zu finden. Da draußen gibt es Tausende. Millionen. Sie sind unendlich.« Ich blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Spence.«
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Ja. Ich dachte mir schon, dass das so ist, ich wollte nur noch mal nachfragen.«
Ich nickte. »Du gehst bald los, um deine Partnerin zu suchen, oder?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
Er lächelte. »Ja. Kannst du das glauben – ich werde endlich nicht mehr darauf angewiesen sein, dass du mich jedes Mal, wenn ich mich verletze, zusammenflickst. Griff sagt, dass wir in ein paar Wochen anfangen, sie zu suchen. Man weiß ja nie, vielleicht geht es jetzt ja mal ausnahmsweise aufwärts.«
Ich wünschte, das würde stimmen. »Das kann man nie wissen.«
Nachdem Spence gegangen war, blieb Steph noch eine Weile bei mir. Ich wusste die Ablenkung zu schätzen. Obwohl ich wusste, dass ich die nächsten paar Tage in diesem Zimmer verbringen würde, war ich noch nicht bereit, mit Lincoln allein zu sein.
»Du bist stark, weißt du das?«, sagte Steph.
»Ich weiß«, erwiderte ich.
»Du überstehst das. Was passiert ist, war … Und du musstest überleben, als alle um dich herum …«
Starben. Gingen.
Ich nickte. »Schon gut, Steph.«
»Wirst du mich je wieder an dich heranlassen?«
Ich sah sie genauer an: Ihre Unterlippe bebte, unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Sie hatte bei Lincoln Wache gehalten, weil ich nicht da gewesen war. Sie war für mich da, und sie war erschöpft.
»Du bist meine beste Freundin, Steph. Du wirst immer meine beste Freundin sein, aber …«
»Du tust, was du tun musst, um zu überleben?«, beendete sie den Satz.
»Ja.«
Sie ergriff meine Hand und drückte sie. »Du sollst nur wissen, dass ich da bin. Ich werde immer da sein.«
Ich schluckte und überlegte, was ich noch sagen konnte. »Dir und Salvatore geht es gut? Weiß er schon, was er als Nächstes machen will?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Noch nicht so richtig. Aber Zoe und er werden erst mal in der Stadt bleiben, um Griffin zu helfen.«
Ich nickte. »Waren Dapper und Onyx oft hier?«
»Ja, sie gehen hier ein und aus. Dapper bringt was zu essen mit und Onyx bringt … Na ja, nichts, aber er kommt. Ich glaube, mehr schafft er einfach nicht.«
Ich setzte mich in meinen Sessel und nahm das Kissen in den Arm. »Du weißt, dass er wieder ein Verbannter hätte werden können. Lilith hat ihm alles angeboten, aber er hat es abgelehnt.«
Steph war nicht überrascht. »Was soll man dazu sagen? Er ist einer von diesen Typen, die mysteriöse Wandlungen vollziehen.«
Da spürte ich tatsächlich, wie es um meine Mundwinkel zuckte. »Das ist er allerdings.«
Steph zog die Augenbrauen nach oben. »Hey, glaubst du … Ich meine, ist dir aufgefallen, dass Dapper und Onyx dauernd zusammen sind? Und wie sie sich streiten, aber gleichzeitig auch wieder nicht?«
Ich nickte und erinnerte mich daran, dass ich dieses Gespräch schon mal mit Lincoln geführt hatte. »Ja. Total zusammen.«
»Sie passen gut zueinander«, sagte Steph anerkennend. Sie sah Lincoln an, dann mich. »Er kommt wieder in Ordnung. Das spüre ich.«
»Ich weiß, dass er wieder in Ordnung kommt«, erwiderte ich. »Ich spüre es auch.«
Nachdem Steph gegangen war, machte ich es mir im Sessel bequem und versuchte zu schlafen. Das gelang mir nicht und schließlich musste ich ihn anschauen. Ich beugte mich vor, sodass mein Gesicht ganz nah an seinem war, und streckte meine Hand aus. Sie zitterte, als meine Finger über sein Haar strichen. Seine Brust hob und senkte sich, und als ich ihn berührte, wurde sein Atem schneller, genau wie meiner.
»Ich kann dich spüren«, flüsterte ich. »Ich weiß, dass du zurück bist.«
Ich atmete seinen Duft ein, ließ mich von allem, was er an sich hatte, umgeben, seine Wärme wurde intensiver. Sonne und Honig. Ich atmete aus und legte den Kopf neben ihn. Ich fiel in einen herrlichen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen war Evelyn im Zimmer und wartete offenbar darauf, dass ich aufwachte.
Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen. Dann rückte ich von Lincoln weg, der in der Nacht näher gekommen zu sein schien.
»Wir haben gehört, was du getan hast«, sagte sie.
»Ist Dad böse auf mich?«, fragte ich.
»Ja. Aber er macht auch das, was er immer tut, wenn er stolz darauf ist, was du getan hast.«
Ich nickte, weil ich es verstand. Dad hatte dieses typische Stolz-darauf-dein-Vater-zu-sein-Lächeln, das mit einer besonders großspurigen Art zu gehen einherging.
»So wie es aussieht, ist die Tatsache, dass du Lincolns Seele zurückgeholt hast, nicht das Einzige, was du angestellt hast«, fügte sie hinzu, wobei sie eine Augenbraue nach oben zog. »Ich hatte heute Nacht Besuch. Ich hatte ganz vergessen, wie Furcht einflößend der Engel ist, der dich gemacht hat.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwie wächst er einem ans Herz.«
»Hmm«, sagte sie. Sie trat an die Bettkante und setzte sich mir gegenüber. »Er hat mich vor eine Wahl gestellt, und da ich ziemlich sicher bin, dass du mir diese Gelegenheit eröffnet hast, wollte ich dich fragen, was du davon hältst, bevor ich eine Entscheidung treffe.«
Ich beugte mich zu ihr vor und nahm ihre Hand in meine. »Mum, weißt du, was du willst?«
Sie erstarrte. Tränen traten in ihre Augen.
»Was ist?«, fragte ich beunruhigt.
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nur … Das ist das erste Mal, dass du mich Mum genannt hast.«
Ich seufzte. »Es hätte nicht so lang dauern sollen.«
Sie zog mich in eine Umarmung. Ich versuchte, die Umarmung zu erwidern, ich versuchte es wirklich, aber ich konnte es nicht.
Sie ließ sich ein wenig nach hinten sinken und sah mich forschend an. »Wenn ich das tue, werde ich keine Grigori mehr sein. Und wir müssten vielleicht wegziehen.«
Ich nickte. Soweit keine Überraschung. »Wenn du weißt, was du willst, und wenn Dad das auch will, dann tu es einfach. Dafür brauchst du nicht meine Erlaubnis.«
Sie lächelte und nickte. »Okay.« Sie warf einen Blick auf Lincoln. »Und was ist mit dir? Was machen wir denn mit dir, mein Mädchen?«
Ich biss mir auf die Lippe. »Darüber wollte ich schon mit dir und Dad reden.«
»Oh?«
»Ja. Ich habe eine Entscheidung getroffen.«