Kapitel Zweiundzwanzig
»Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.«
Psalm 91, 11
»Die Kirche des Schutzengels?«, fragte ich. Meine Stimme triefte vor Sarkasmus, als wir gegenüber einer unauffälligen Backsteinkirche an der Straße standen und sie gründlich ins Visier nahmen. »Du nimmst mich doch auf den Arm, oder?«
Lincoln grinste kurz und deutete auf unsere Umgebung. »Würdest du lieber hier draußen bleiben?«
Erst da merkte ich, dass uns die Leute in unseren zerrissenen, blutgetränkten Klamotten anstarrten. Wir sahen aus, als kämen wir gerade von einer Massenkarambolage – oder einem Massaker.
Inzwischen war Feierabendzeit und Menschenmassen wälzten sich durch die Straßen. Lincoln ging es besser, aber er hatte eindeutig größere Schmerzen, als er zugeben wollte. Stur lehnte er ab, dass ich mich um ihn kümmerte, und bestand darauf, dass wir erst nach drinnen gingen.
Ich warf ihm vor, dass er einen Heldenkomplex hatte.
Er ignorierte mich.
Mein Kopf drehte sich. Alles schien sich so schnell gewendet zu haben. Vor ein paar Stunden hatte ich noch darum gekämpft, mir meinen Platz an der Akademie zu verdienen, und jetzt floh ich von dort.
Lincoln inspizierte die Kirche aus allen Blickwinkeln und nahm sich Zeit, um ein paarmal um sie herumzugehen. Als er davon überzeugt war, dass keine Falle zu erwarten war, ging er zur Eingangstür und machte sie auf. Schweigend traten wir ein, wobei wir auf jedes Detail achteten. Lincoln blieb stehen, um sich mit Weihwasser zu bespritzen. Ich war mir nicht sicher, ob er das aus Gläubigkeit tat oder ob er nur Zeit gewinnen wollte, damit er weiterhin den Innenraum absuchen konnte. Vielleicht beides.
Ich konnte mich nicht dazu überwinden, es ihm gleichzutun, und begnügte mich stattdessen damit, mich wie eine Touristin umzuschauen – in Bezug auf Religion war das eine passende Beschreibung für mich.
Die Kirche war schlicht und trotzdem schön. Kleine Statuen und Steinmetzarbeiten schmückten die Seiten. Hoch in den Wänden waren Buntglasfenster unter Balken aus dunklem Holz. Im Kirchenschiff selbst befanden sich Bänke aus poliertem Kirschbaum und an der Decke hingen Laternen, die dem ganzen Raum eine einladende Atmosphäre verliehen. Wir waren noch keine Minute da, als sich eine kleine Tür neben dem Altar öffnete und ein Priester heraustrat.
Er musterte uns von oben bis unten. Lincoln blieb stehen und nahm eine friedfertige Haltung ein. Ich hingegen nahm meinen Dolch in die Hand und trat vor. Dabei stellte ich mich zwischen den Priester und Lincoln.
»Violet«, sagte Lincoln ruhig. »Entspann dich.«
Ich wusste jedoch, dass Lincoln noch immer verletzt war, und meine Schutzinstinkte waren erwacht. Stur behielt ich meine Position bei. Ich spürte bereits, dass dieser Priester nicht menschlich war. Nicht nur menschlich jedenfalls.
Ich konzentrierte mich auf meine Gefühle. Er trug einen schwarzen Talar, aber sein Kragen war offen und der steife weiße Einsatz fehlte. Sein Haar war grau meliert, aber seine Gesichtszüge waren jung geblieben und er hatte freundliche, wissende braune Augen. Sein Körper war zwar unter seinem Gewand versteckt, aber er war offensichtlich durchtrainiert. Ich schätzte, dass er nicht älter war als dreißig, deshalb war er sowohl für sein graues Haar als auch für seinen Beruf als Priester eigentlich zu jung. Ich taxierte unser neues Risiko sorgfältig, der Priester schwieg indessen, aber sein Blick huschte fasziniert zwischen uns hin und her.
»Violet«, sagte Lincoln wieder. »Pater Peters ist ein Freund.«
Meine Augen wurden schmal. »Aber er ist mehr als das«, sagte ich und ließ den Priester nicht aus den Augen.
Bei meinem Kommentar lächelte er und beugte den Kopf. »Sehr scharfsinnig«, sagte er. Seine sanfte Stimme erklang durch den Raum. Ich spürte, wie sie in mich drang, mich besänftigte und eine Art Ruhe verbreitete. »Früher war ich ein Grigori, aber jetzt habe ich mich zur Ruhe gesetzt.«
Ich blinzelte, weil mir klar wurde, dass mich meine Sinne nicht täuschten. Der Priester lächelte, als könnte er meine Gedanken lesen.
»Hör auf, deine Kraft bei uns einzusetzen«, sagte ich. Dann steckte ich meinen Dolch weg und stemmte die Hände in die Hüften.
Er machte große Augen.
Ja, ganz recht. Ich kann fühlen, dass du deinen Beruhigungsmist in mich hineinträufelst und ich habe für ein ganzes Leben lang genug davon, dass an meinen Gefühlen herumgepfuscht wird.
Er brauchte keine weitere Aufforderung. Das Rinnsal seiner Kraft entfernte sich von uns und er deutete auf die erste Kirchenbank.
»Bitte entschuldigt.«
Ich nickte. »Schon gut.«
Lincoln seufzte – wahrscheinlich vor Erleichterung darüber, dass ich keinen Priester ausgeschaltet hatte. Er ging zur vorderen Kirchenbank und versuchte, seine Schwäche zu verbergen, als er sich darauf fallen ließ.
Ich sah ihn an und verdrehte die Augen. »Lässt du mich dich jetzt heilen?«
»Gleich«, wehrte er ab. Dann schwenkte er die Hand zwischen dem Priester und mir hin und her. »Violet, Pater Peters. Er ist ein alter Freund von Griffin, und seine Kirche gehört zu den wenigen Orten, an denen wir uns vor Josephines Leuten verstecken können.«
»Und nur für kurze Zeit«, fügte Pater Peters hinzu. »Griffin hat schon angerufen. Er hat nicht viel gesagt, aber genug, um zu wissen, dass ich mit Ärger rechnen muss.« Er schüttelte zuerst mir, danach Lincoln die Hand.
Lincoln sackte noch mehr in sich zusammen, selbst als er ihm die Hand schüttelte. »Sicher erinnern Sie sich nicht mehr an mich …«, begann er, aber Peters schnitt ihm das Wort ab.
»Lincoln Wood. Ich erinnere mich noch sehr gut an dich. Griffin hat nur von wenigen eine so hohe Meinung, und die Zeit hat dich nicht verändert. Nun, was erwartet uns? Und wie sauer werden sie sein?«
Lincoln lächelte. Er mochte Pater Peters’ Offenheit. Ich mochte sie auch.
»Wir hoffen, dass uns niemand gefolgt ist, wir haben gut aufgepasst und niemanden gesehen. Wir brauchen nur einen Ort, an dem wir bleiben können, bis Griffin in ein paar Stunden kommt. Wir möchten Ihnen keinen Ärger machen.«
Pater Peters zog wissend die Augenbrauen nach oben. »Aber ihr konntet sonst nirgendwohin, und das sagt schon genug.«
Lincoln nickte. Ich setzte mich neben ihn, ich sehnte mich danach, nach ihm zu greifen und ihm zu helfen, aber ich wusste, dass er meine Hilfe nicht wollte. Noch nicht.
Der Priester sah sich in der stillen Kirche um. »Na ja, in Zeiten wie diesen erweist sich ein Gotteshaus wohl am unbeugsamsten und tut somit sein Bestes. Wir hoffen, dass keine Probleme auf uns zukommen, aber wir bereiten uns wohl besser trotzdem vor.«
Priester hin oder her – er ist auf jeden Fall ein Kämpfer.
Gut so.
Pater Peters vergeudete keine Zeit. Rasch führte er Lincoln und mich durch alle Bereiche der Kirche, die wir zu Verteidigung und Angriff nutzen konnten. Er zeigte uns alle Eingänge und möglichen Schwachpunkte in der Struktur des Gebäudes. Schließlich führte er uns hinunter in seine Privaträume. Lincoln und ich brauchten einen Moment, um den Anblick, der sich uns bot, zu verdauen.
»Ganz schön viele Waffen für ein Gotteshaus«, sagte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Es wäre nicht das erste Mal, dass Christen sie brauchen. Und nicht das letzte Mal.«
Da hatte er recht.
»Und außerdem«, fuhr er fort, »sind wir in New York, und ich versuche, eine ehrliche Kirche zu leiten – und wenn ich gelegentlich etwas in die Luft jagen muss, um etwas von der Dunkelheit zu vertreiben … ich seh das locker.«
Ich mochte ihn wirklich.
Lincoln prustete neben mir los, und als ich in ansah, merkte ich, dass das mir galt.
»Was?«
»Du hast ihm nicht getraut, als er nur ein Priester für dich war, aber jetzt, wo du weißt, dass er bereit ist, Dinge in die Luft zu jagen, siehst du aus, als hättest du gerade einen Freund fürs Leben gefunden.«
Ich nickte und lächelte. »Das hab ich.«
Pater Peters lachte, als Lincoln den Kopf schüttelte. »Griffin findet immer die Guten.«
Als wir wieder oben im Erdgeschoss waren, legte der Priester einen Schalter um und metallene Schutzschilde schoben sich über die oberen Fenster. Das ging weit über die standardmäßigen Sicherheitsmaßnahmen einer Kirche hinaus.
»Ist das …«, begann ich.
»Titan?«, beendete er meinen Satz und zog dabei eine Augenbraue nach oben. Dann nickte er. »Du bist ein helles Köpfchen.«
»Warum?«, fragte ich nervös. Titan war ein Metall, das Verbannte zu ihrem Schutz benutzten. Sie konnten sich damit vor den Grigori verbergen. Phoenix hatte ein ganzes Flugzeug mit dem Zeug auskleiden lassen.
Peters zuckte mit den Schultern und wartete, bis der letzte Schutzschild an seinem Platz war, dann nahm er die Hand von dem Hebel. »Titan verwirrt aber nicht nur Grigori. Es funktioniert in beide Richtungen.«
Ich staunte. »Sie meinen, es wirkt sich auch auf die Fähigkeit von Verbannten aus uns wahrzunehmen?«
Er nickte. »Nicht ganz so effektiv, aber trotzdem – in diesen Situationen zählt auch das kleinste bisschen. Grigori halten sich normalerweise davon fern, weil sie glauben, dass es für Verbannte größere Vorteile hat. Der Meinung bin ich nicht.«
Ich hatte vorher nie darüber nachgedacht, aber vor allem in unserer jetzigen Situation musste ich Peters’ Logik zustimmen. Allein schon die physische Stärke der Titanschilder würde Angreifer für einige Zeit in Schach halten.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit Lincoln zu. Aus seinem Gesicht war fast alle Farbe gewichen.
»Wir haben eine Stunde Zeit, bis Griffin kommt. Setz dich«, befahl ich ihm.
Lincoln zögerte einen Moment, doch schließlich ließ er sich auf einen Stuhl fallen, damit ich ihn heilen konnte. Ich kniete mich vor ihn und krempelte seine zerrissene, blutgetränkte Jeans hoch.
»Jetzt mach nicht so einen Wirbel«, sagte er leise.
»Hör auf, mir dauernd reinzureden«, schoss ich zurück. Ich war so erleichtert, endlich die Gelegenheit zu bekommen, ihn zu heilen, dass es mir nicht einmal etwas ausmachte, dass Pater Peters zusah. Ich zog die restlichen Stofffetzen weg, um mir Lincolns Bein besser anschauen zu können. »Heilige Mutter …«
»Ä-hem.« Pater Peters räusperte sich vernehmlich.
»Entschuldigung«, sagte ich und sah Lincoln an. »Du hättest mir das schon früher zeigen sollen«, sagte ich verärgert. Sein Bein war doppelt so dick, wie es eigentlich sein sollte, und war mit roten Beulen und dunklen Blutergüssen bedeckt.
Er schloss die Augen und versuchte, seine Schmerzen zu verbergen. »Es war nicht wichtig.«
Ich war sogar noch wütend, als ich meine Kraft in ihn fluten ließ. Er versuchte ein paarmal, mich aufzuhalten und zu sagen, dass ich genug getan hatte, aber das ließ ich nicht gelten.
Nachdem ich sein Bein geheilt hatte, überprüfte ich den Rest seines Körpers, wobei ich noch Probleme in seinen Rippen fand, die er nicht erwähnt hatte, und merkte, dass seine Schulter noch immer sehr schwach war.
Lincoln konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als die Schmerzen, die ihn gequält haben mussten, endlich nachließen.
Schließlich setzte ich mich zurück auf meine Fersen. Wir schwiegen beide, während wir unsere Kräfte wieder sammelten.
»Schön, schön«, sagte Pater Peters. »Und da behaupten sie, heutzutage gäbe es keine Wunder.«
Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu, während ich mich zum Warten neben Lincoln niederließ.
»Nichts für ungut, aber Sie sollten wissen, dass mein Urteil zum Thema Gott noch ganz und gar nicht gefallen ist«, sagte ich zu Peters.
Mein Kommentar schien ihn zu amüsieren. Er saß auf einer der untersten Stufen am Fuße des Marmoraltars. »Du hast dich vielleicht noch nicht entschieden, was du von Gott hältst, aber er hat bestimmt schon die eine oder andere Entscheidung in Bezug auf dich getroffen.«
»Ich kauf Ihnen nicht ab, was Sie mir anbieten, Priester«, antwortete ich und weigerte mich, das Thema weiterzuverfolgen.
Er lachte. »Das geht aufs Haus.«
Ha.