Kapitel Zehn

»Wilde, düstere Zeiten dröhnen heran …«

Heinrich Heine

»Ich brauche keinen Babysitter!«, sagte Steph.

Noch mal.

Sie ließ sich auf Onyx’ Schlafsofa fallen. Für unser Gespräch, das der Lautstärke nach zu urteilen nicht gerade unter uns blieb, hatten wir die kleine Wohnung in Beschlag genommen.

»Das weiß ich«, sagte ich. Noch mal.

Jetzt wusste ich, weshalb Griffin es für besser gehalten hatte, wenn ich diese Unterhaltung allein mit Steph führen würde. Ich würde dafür sorgen, dass ich ihm den Gefallen bei nächster Gelegenheit erwiderte.

»Schlimm genug, dass ich mit Dapper und Onyx auf diese Pflanzenexpedition gehen muss, aber jetzt zieht ihr auch noch meinen Freund aus dem Geschehen, an dem er jedes Recht hat teilzunehmen, damit er meine Hand halten kann! Das wird er mir niemals verzeihen, Vi!« Ihre Angriffslust verflog allmählich und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das könnt ihr uns nicht antun. Wir funktionieren nur so gut, wenn er sich nicht dauernd Sorgen um mich machen muss.«

Ich seufzte. »Wir wollen dich in Sicherheit wissen. Ist das so falsch? Bitte, Steph, wir gehören zusammen wie eine Familie. Ich schreibe dir nicht vor, was du zu tun hast, Griffin ebenso wenig. Aber manchmal bedeutet zu einer Familie zu gehören, dass Sicherheit an erster Stelle steht, auch wenn du meinst, dass Salvatore dann vielleicht anders von dir denkt. Denn innerhalb einer Familie überlebt man den anderen zuliebe.«

Steph wischte schnell die Tränen weg, die über ihre Wangen gerollt waren. »Und was ist mit dir? Wirst du überleben? Glaub nicht, dass ich nicht weiß, was du oben auf diesem Vulkan gemacht hast.«

Wow, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.

»Spence?«, murmelte ich.

Sie nickte. »Sei ihm nicht böse. Er war hinterher fix und fertig, und du warst zu sehr damit beschäftigt, mit eurem Neuzugang zurechtzukommen.«

Ich fühlte mich schrecklich. Ich war nicht da gewesen für Spence und Steph. Seit unserer Rückkehr aus Griechenland hatte Evelyns Erscheinen alles diktiert.

»Du hast recht«, gab ich zu. »Das war dumm. Phoenix hat mich in der Hand und ich weiß nicht, was passieren wird. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass wir sie aufhalten müssen. Ich kann dir jedoch versprechen, dass ich bis zum letzten Atemzug dafür kämpfen werde, es zu dir, zu meiner Familie, zurückzuschaffen.«

Steph brach in hemmungsloses Schluchzen aus und benutzte ihren Ärmel, um die Tränen abzuwischen.

»Ich hasse es, das schwächste Glied zu sein«, heulte sie.

Das Lustige daran war, dass ich sie für einen der stärksten Menschen hielt, den ich kannte. »Ich auch.«

Sie sprang auf und holte sich ein Taschentuch aus dem Bad. Als sie zurückkam schnäuzte sie sich. »Alles wird den Bach runtergehen, oder?«

»Wahrscheinlich.«

»Wenigstens kann ich jetzt nicht mehr als Jungfrau sterben.«

Und da verwandelten sich Tränen in Gekicher.

»Glücklich?«, fragte ich und hoffte, dass sie mir die Details ersparen würde.

»Sehr«, erwiderte sie. Dass sie mir keinen detaillierten Kommentar lieferte, reichte mir, um zu wissen, dass sie wirklich verliebt war. Sie setzte sich wieder neben mich auf das Sofa. »Was wirst du wegen Phoenix unternehmen?«

Der Knoten in meinem Magen zog sich weiter zusammen. Es war nahezu unmöglich, mir in Bezug auf ihn schlüssig zu werden. Er hatte so viel falsch gemacht, so viel Unheil angerichtet. Er hatte Leute verletzt, die ich liebte, er hatte mich bestohlen, hatte mich blutend zurückgelassen – Himmel, er hatte mich in einem Vulkan hängen lassen –, aber ich hatte dort auch etwas in seinen Augen gesehen. Und so sehr ich versucht hatte, es zu vergessen, ich hatte es in den letzten Momenten meines Traums wieder gesehen. Etwas, was mich daran erinnerte, wie er gewesen war, bevor all das passiert war.

Doch seine Handlungen konnte ich nicht entschuldigen. Letztendlich hatte ihn nichts davon abgehalten, das personifizierte Böse in diese Welt zu bringen.

»Phoenix hat seine Chance, sich zu ändern, bekommen. Aber er wird sich nie ändern.« Es war schwierig vor Steph zuzugeben, dass ich das schon vor längerer Zeit erkannt hatte, aber nicht hatte wahrhaben wollen.

»Glaubst du wirklich, du kannst ihn töten?«

Ich zuckte mit den Schultern und dachte wieder an den Traum. »Er ist stärker als ich, aber meine Fähigkeiten wachsen.«

»Ich meine nicht von der Stärke her, Vi. Ich meine, ob du es fertigbringst, ihn zu töten. Kannst du die Gefühle, die du immer noch für ihn empfindest, außen vor lassen?«

Ich blinzelte. »Was meinst du … Was redest du da?« Unfähig still zu sitzen, sprang ich auf die Füße und fing an, auf und ab zu gehen.

»Du weißt genau, wovon ich rede. Ihr beide wart zusammen, so kurz das auch war. Ich meine, Vi, er ist der einzige Typ, mit dem du je …«

Ich unterbrach sie. »Daran brauche ich wirklich nicht erinnert zu werden.«

Sie nickte. »Aber es stimmt. Du hast ihn vielleicht nicht so geliebt, wie du einen gewissen anderen liebst, aber du mochtest ihn genug, um die Möglichkeit einer Beziehung mit ihm in Betracht zu ziehen. Ich war da, Vi. Nicht nur er hat etwas empfunden. Und jetzt? Wollt ihr zwei einfach bis zum Tod kämpfen?«

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Sie hatte recht, zwischen uns war etwas gewesen. Aber seitdem war eine ganze Menge passiert.

»Was immer einmal zwischen uns war – es ist längst vorbei.«

»Dann kannst du es also? Ihn töten, meine ich?«

Ich sah auf die Uhr und ging zur Tür. Wir hatten keine Zeit mehr, uns fertig zu machen. Ich zog meinen Pulli an und blickte zu Steph zurück. »Absolut.«

»Na, Gott sei Dank, endlich! Das wird aber auch Zeit«, sagte Onyx, er stand vor der Tür, die ich gerade geöffnet hatte.

Meine Augen wurden schmal. »Hast du gelauscht?«

»Ja. Besser als eine Episode von Gossip Girl. Sex, Verrat, Intrigen, Mord und – mein persönlicher Favorit – Verleugnung. Mein Applaus!« Er klatschte in die Hände.

Ich näherte mich ihm. »Warum haben wir dich gleich noch am Leben gelassen?«

»Du behauptest, aus Menschlichkeit. Ich frage mich ja, ob du nicht insgeheim hoffst, dass meine Kräfte zurückkehren, damit du endlich mal einen würdigen Gegner hast.«

Ich bin jetzt echt nicht in Stimmung für so was.

Ich machte einen weiteren Schritt, sodass ich ihm fast auf den Zehen stand. »Du wirst niemals irgendwelche Kräfte zurückbekommen, aber wenn doch, dann denk daran, dass ich sie dir gleich wieder wegnehmen werde.«

Onyx sah mich an, in seinen Augen flackerte uneingeschränktes Selbstvertrauen auf. »Sobald ich sie zurückbekomme – denn das werde ich –, dann freue ich mich auf jeden, der sie mir wieder abnehmen will.«

»Seid ihr zwei bald fertig?«, rief Dapper vom Ende des Flurs. »Also wirklich, ihr seid wie Kinder, die nur so aus Spaß aufeinander losgehen. Und die Schlimmste von allen bist du, Mädchen«, sagte er und stieß dabei seinen Finger in meine Richtung. »Du weißt, dass er jetzt harmlos ist. Lass ihm doch seine bissigen Kommentare, das ist alles, was er verdammt noch mal hat.«

Wir beide, Onyx und ich, starrten Dapper an.

»Ich bin alles andere als harmlos. Ihr alle unterschätzt mein Potenzial erheblich.«

»Dann sollten wir dich vielleicht wieder hinaus in die Gosse werfen, wo wir dich gefunden haben!«, schoss ich zurück.

Onyx fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Ich freue mich schon auf das nächste Mal, wenn du zu mir kommen musst, weil du Informationen brauchst.«

Steph schlängelte ihren Arm durch meinen und versuchte, mich zu sich zu ziehen. »Wir gehen jetzt. Und Dapper hat recht, ihr zwei müsst euch ins Gedächtnis rufen, dass wir alle auf derselben Seite sind.«

»Komisch, aber wenn ich ihn mir so anschaue, vergesse ich das einfach.«

Onyx lächelte verschlagen.

»Was?«, fauchte ich.

»Nichts. Ich versuche nur gerade festzustellen, wem es gilt.«

»Wem was gilt?«, fragte ich. Allmählich verlor ich die Geduld.

»Vi, lass uns gehen«, sagte Steph und versuchte, mich wegzuziehen. Ich rührte mich nicht.

Onyx’ Lächeln wurde noch breiter. »All diese aufgestaute sexuelle Frustration natürlich.«

Mein Mund klappte auf, und noch bevor ich wusste, was ich tat, stürzte ich mich auf Onyx und wir gingen beide zu Boden.

»Violet!«, schrie Steph.

Dappers Schritte dröhnten über den Flur, aber ich sah rot. Onyx hatte genau das gesagt, von dem er wusste, dass es das Einzige war, was mich wirklich treffen würde, und ich sah ihn immer noch unter mir grinsen. Ich holte aus, um ihn zu schlagen, doch bevor ich es zu Ende bringen konnte, riss mich jemand von ihm herunter und schlang die Arme um mich.

Ich wand mich, um mich aus dem übernatürlichen Griff zu lösen.

»Eden, glaub mir, ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man Onyx unbedingt schlagen möchte. Aber wir können euch bis nach unten hören, und gerade ist Lincoln gekommen. Willst du wirklich, dass er sich hier einmischt? Man sagt ihm nach, dass er ziemlich besitzergreifend ist«, sagte Spence, der mich festhielt, während ich mich zur Wehr setzte.

Mein ganzer Körper wurde von einer Art verspätetem Schock erfasst, und ich sackte in Spence’ Arme, weil ich plötzlich Lincolns Anwesenheit spürte.

Wie kommt es, dass ich ihn bisher nicht wahrgenommen habe?

Tatsächlich hatte ich außer meinem Zorn auf Onyx überhaupt nichts wahrgenommen.

Onyx rappelte sich auf. Er klopfte sich ab und blickte mich überraschend ruhig an, aus diesen aufrichtigen Augen, die ich neuerdings bei ihm entdeckte – den Augen eines Verbündeten.

»Nimm es als kleine Erinnerung daran, wie es ist, einen Feind zu haben, der deine Gefühle anzapfen kann.« Er neigte den Kopf und sah mich abschätzend an. »Ich schlage vor, dass du daran arbeitest, Regenbogen.«

Endlich konnte ich Spence abschütteln, offenbar hatte er es aufgegeben, mich zurückhalten zu wollen. »Das war alles Absicht?«

Onyx’ Mundwinkel hoben sich. »Nicht, dass ich es nicht genossen hätte.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging auf Dappers Wohnung zu.

»Du hast verdammt Glück, dass sie dich nicht umgebracht hat«, murmelte Dapper, der ihm folgte.

»Der ist doch vollkommen verkorkst«, sagte Spence hinter mir.

»Total durchgeknallt«, fügte Steph hinzu.

Aber er war überhaupt nicht durchgeknallt.

Onyx hatte mir gerade geholfen, und er hatte recht. Wenn sich Onyx schon in meine Gefühle einschleichen konnte, dann konnte Phoenix das erst recht.

Der Rest des Tages verlief wie erwartet. Viele Diskussionen und nicht viel Neues. Griffin musste die Geschichte immer wieder erzählen, als Grigori-Grüppchen aus der Stadt im Hades vorbeikamen, um sich Instruktionen für seine Abwesenheit abzuholen. Griffin übertrug Beth und Archer die Verantwortung und sagte zu Nathan und Becca, dass sie sich jederzeit bereithalten sollten, sofort zu uns nach New York zu kommen. Als Krieger waren sie nicht gerade begeistert darüber, dass sie zurückgelassen wurden, aber ich merkte, dass Griffin die Stadt lieber nicht ohne Schutz zurücklassen wollte. Außerdem wollte er nicht, dass es so aussah, als würden wir an der Akademie mit Truppen aufmarschieren. Das würde die falsche Botschaft vermitteln.

Nachdem er all seine Grigori getroffen hatte, setzte er sich zu Zoe, Spence und Salvatore. Er ließ Spence versprechen, dass er sich an der Akademie von seiner besten Seite zeigen würde – offenbar hatte man sich Griffins Wort darauf geben lassen, damit Spence wieder dorthin zurückkehren durfte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Spence die Akademie unerlaubterweise verlassen, bevor er seine Ausbildung dort beendet hatte.

Dann erklärte Griffin Salvatore, dass er Dapper, Onyx und Steph auf ihrer Suche nach den Zutaten für den Qeres-Trank begleiten sollte, für den Fall, dass sie auf irgendwelche Probleme stoßen sollten.

Salvatore nickte und schien begeistert zu sein von seiner Mission. Das lag wohl eher daran, dass er mit einer solchen Verantwortung betraut wurde, als daran, für Steph den Bodyguard zu spielen. Auf der anderen Seite des Zimmers sah ich Steph nervös an ihren Fingernägeln kauen, als sie ebenfalls seine Reaktion einschätzte.

»Das wäre mir eine Ehre. Auch wenn ich mir Sorgen darüber mache, von meiner Partnerin getrennt zu sein«, sagte er und blickte Zoe an.

Griffin nickte erfreut über Salvatores Reaktion. »Guter Mann.« Er wandte sich an Zoe. »Du hast die Wahl.«

Zoe war nicht dumm. Von seinem Partner getrennt zu sein, war nicht ideal, aber wenn Salvatore mit Dapper unterwegs war, bedeutete das, dass dieser ihn, wenn nötig, heilen konnte, und wenn Zoe bei mir blieb, konnte ich ihr das Gleiche zusichern. Abgesehen davon bestand immer die Gefahr, dass man voneinander getrennt wurde, vor allem in Anbetracht meiner Angewohnheit, Probleme anzuziehen.

Zoe dachte über ihre Optionen nach. Als sie aufblickte, sah sie entschlossen aus. »Wir müssen jetzt alle an der Stelle sein, an der wir am meisten gebraucht werden. Wenn Salvatore Dappers Truppe begleitet, dann werde ich dort nicht gebraucht. Wenn es für Sal okay ist, gehe ich nach New York.«

Salvatore nickte. »Und wir treffen euch dann dort, sobald wir den Trank haben.«

Als später an diesem Tag Dad und Evelyn kamen, wusste ich nicht, wohin ich schauen sollte. Ganz offensichtlich hatte sich etwas verändert. Dad hielt sich näher an Evelyn, beschützender als zuvor, und sie sahen beide müde aus, als hätten sie die ganze Nacht geredet.

Lincoln, der neben mir saß, richtete seinen Blick geradewegs auf Dad und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Ich stieß ihn ein paarmal an, aber er ignorierte mich.

Mein Handy summte, weil ich eine SMS bekommen hatte, während Dad einen schwachen Versuch unternahm, die anderen dazu zu überreden, bis zu meiner Abschlussfeier zu bleiben, aber selbst er wusste, dass das sinnlos war.

Evelyn freute sich über die Fortschritte, die Dapper gemacht hatte, indem er die genauen Bestandteile des Qeres-Tranks gefunden hatte, aber sie blieb bei ihrer Meinung, dass der Trank ohne den mysteriösen dreizehnten Inhaltsstoff nutzlos war.

Während sie ihre Möglichkeiten abwägten, zog ich mein Handy aus der Tasche meiner Jeans und schaute mir die SMS an.

Ich weiß, was ihr vorhabt, Liebling. Wir sehen uns bald.

Ich seufzte und reichte mein Handy an Lincoln weiter, der sich anspannte, bevor er es an Griffin weitergab.

»Was ist los?«, fragte Dad.

»Das ist eine SMS von Phoenix. Er weiß, dass wir kommen«, sagte ich ruhig, wobei ich weiterhin den Blickkontakt mied.

Griffin schaute auf das Display und sah verwirrt aus. »Das ergibt keinen Sinn. Er muss doch wissen, dass diese SMS nicht seinen Zwecken dient. Sie informiert uns doch darüber, dass Verbannte unsere Schritte verfolgen.« Er richtete seinen Blick auf mich, bis ich anfing, mich auf meinem Stuhl zu winden, dann seufzte er. »Wenn es um dich geht, sind seine Beweggründe ja oft verkorkst.«

Das kann man wohl sagen.

»In zwei Stunden brechen wir auf«, sagte Griffin und beendete damit das Treffen für heute. Er wandte sich Dapper zu, um die Logistik zu besprechen.

»Er braucht eine neue Partnerin«, sagte ich zu Lincoln, während ich ihnen nachschaute. »Es lastet zu viel auf seinen Schultern.«

Lincoln nickte. »Wenn er dafür bereit ist, wird er eine bekommen. Bis dahin hat er uns.« Doch Lincoln beobachtete nicht Griffin. Sein Blick war auf Dad fixiert, der auf uns zukam.

Doch Lincoln ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen.

»Schlimm genug, dass Sie kaum für sie da waren, nachdem sie geboren wurde. Schlimm genug, dass sie Dinge aushalten musste, die niemand sollte durchmachen müssen. Aber dass Sie Ihre eigene Tochter schlagen, ist inakzeptabel. Wenn wir aus New York zurückkehren, wird Violet bei mir wohnen, bis sie sich anders entscheidet.«

Mein Mund klappte auf.

Wer ist dieser Kerl, und was hat er mit dem ruhigen, beherrschten Lincoln gemacht, den ich so gut kenne?

»Violet?«, sagte Dad, er sah zornig und zugleich verletzt aus.

Da kam ich zu einem Entschluss. Ich hatte mein ganzes Leben damit zugebracht, seine Handlungen zu entschuldigen. Und so verrückt das auch war, was Lincoln gerade gesagt hatte, und so genau ich auch wusste, dass er das alles wahrscheinlich sofort zurücknehmen würde – mir war klar, dass ich niemals mit Evelyn würde zusammenleben können, selbst wenn ich Dad verzeihen konnte.

»So ist es besser, Dad. Für uns alle.«

Uh, süße kleine Lügen.

Wie lang genau wären Lincoln und ich in der Lage, zusammen zu wohnen, ehe es unerträglich wurde?

»Violet, bitte, ich muss mich entschuldigen«, bat Dad.

»Nein, brauchst du nicht. Ich habe verstanden, echt. Aber im Moment kann ich es nicht ertragen, nur die zweite Geige zu spielen – gib mir also ein wenig Freiraum, okay?«

Endlich nickte er, aber seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Du spielst nicht die zweite Geige.«

Mein Blick wanderte zwischen ihm und Evelyn hin und her, die schweigend dabeigestanden und unseren Schlagabtausch beobachtet hatte.

»Natürlich tue ich das. Das war schon immer so.«

Lincoln blieb an meiner Seite, als wir das Hades verließen. Ich sagte erst etwas, als wir die Straße erreichten. »Da hast du dir jetzt aber was eingebrockt.«

»Das war sowieso nur eine Frage der Zeit.«

Ich blieb auf dem Gehweg stehen. »Wie meinst du das?«

Er fuhr mir mit dem Finger über die Stirn und strich ein paar verirrte Haarsträhnen zurück. »Ist dir nicht aufgefallen, dass dieser Schmerz deutlich schwächer wird, wenn wir uns für längere Zeit sehen?« Er zuckte mit der Schulter, als würde das irgendwie alles erklären.

Ich war mir da nicht so sicher.