Kapitel Neununddreissig
»Es gibt keine Flucht vor Erinnerung und Reue auf dieser Welt. Die Geister unserer närrischen Taten verfolgen uns, ob wir Reue zeigen oder nicht.«
Gilbert Parker
Spence war der Einzige, der mich je dazu hätte überreden können, dass er mit mir kommen darf. Außerdem stand er zu seinem Wort und sagte nur das Allernötigste, was im Grunde aus »Zeit zu tanken« und »Hier links?« bestand.
Es war seltsam, wieder in der Wildnis zu sein. Dort, wo alles begonnen hatte. Jetzt hatte sich der Kreis geschlossen.
Wir schlugen unser Lager auf, fanden hinten in Lincolns Wagen Vorräte und machten ein Lagerfeuer. Der Ort war so Furcht einflößend wie beim ersten Mal, als ich hier war. Während Spence und ich schweigend dasaßen und später, als wir so taten, als würden wir schlafen, dachte ich unwillkürlich an das letzte Mal, als ich in diesem Wald war … und getan hatte, als würde ich schlafen.
Ich hatte hin und wieder von Phoenix geträumt – er war blitzartig aufgetaucht und ebenso schnell wieder verschwunden. Ich hasste es, daran zu denken, wo er jetzt war, aber er hatte mir selbst gesagt, dass es für Verbannte keinen anderen Ort gab als die feurigen Schlünde der Hölle.
In der Nacht des Feuers auf Liliths Anwesen hatte Spence versucht, zurück ins Gebäude zu gelangen und Phoenix’ Leiche zu bergen. Spence selbst mochte Phoenix zwar nicht besonders, aber er wusste, dass er mir etwas bedeutete und nahm an, dass ich gern die Möglichkeit hätte, ihn zu begraben. Da hatte er recht. Doch ein anderer Grigori hatte ihn in letzter Sekunde davon abgehalten, in das Inferno zurückzukehren. Das Haus war jetzt Phoenix’ Grab.
Während Spence schlief wanderte ich durch die dunklen Wälder. Durch meine Grigori-Sehkraft war das viel leichter als beim letzten Mal, als ich hier war. Schon bald fand ich die Stelle, an der Phoenix und ich gezeltet, und den Felsen, auf dem wir nebeneinander gesessen hatten.
»Manchmal möchte ich dir immer noch die Schuld dafür geben«, flüsterte ich in die Dunkelheit. »Manchmal wünschte ich mir, es wäre alles deine Schuld gewesen. Aber ich gebe dir nicht die Schuld … es war nicht deine Schuld.« Ich blickte zum Himmel hinauf. Sterne leuchteten hell, funkelten aufmerksam, als würden sie jedem meiner Worte lauschen. »Du hast diese Kinder gerettet. Sie haben jetzt eine Chance, eine Zukunft. Du hast Gutes getan.« Ich schniefte und versuchte, mich zusammenzureißen. »Aber ich hasse dich trotzdem.« Eine Träne lief mir über die Wange. »Ich hasse, was ihr zwei getan habt. Ihr beide habt einfach …« Zittrig stieß ich den Atem aus. »Ihr habt mich verlassen, und jetzt kann ich nicht gehen, aber bleiben kann ich auch nicht.«
Ich stand da und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen ab. Phoenix hatte sich in vielen Dingen geirrt. Aber in einem nicht: Liebe hatte uns alle umgebracht.
Kurz vor der Morgendämmerung kletterte Spence mit mir auf den Berg, er bestand darauf, mich bis oben zu begleiten. Seine genauen Worte waren: »Für den Fall, dass du beschließt, im falschen Moment zu springen.« Das war nur teilweise als Scherz gemeint.
Schweigend erklommen wir den steilen Felsen.
Als die Sonne am Horizont aufblitzte, war ich unterwegs zur Felskante.
So viele Was-wäre-Wenns.
Ich tastete mit den Zehen die Felskante ab und wartete darauf, dass die ersten Sonnenstrahlen den dunklen Himmel durchbohrten. Das Timing musste stimmen.
»Glaubst du, das wird funktionieren?«, sagte Spence schließlich eher zu sich selbst.
Das war eine gute Frage. Grigori sollen eigentlich nicht von Felsen springen, wann immer es ihnen beliebt, und erwarten, dass sie dafür eine engelhafte Audienz bekommen. Diese eine Handlung ist unserer Annahme vorbehalten. Aber ich musste das auf meine Art lösen, zu meinen Bedingungen.
»Das sag ich dir dann, wenn ich unten bin«, sagte ich, als die ersten blassrosa Strahlen am Himmel erschienen und ein dichtes Wolkenband beleuchteten.
Mit ausgebreiteten Armen sprang ich.
Mit einem dumpfen Geräusch landete ich auf dem Rücken in der Wüste. Ich sprang auf die Füße und knirschte mit den Zähnen.
»Keine Wüste«, befahl ich.
Die Wüste verschwand und ich blieb in der Dunkelheit zurück, umgeben von nichts als funkelnden Sternen, die nur wenig Licht gaben.
Vor mir stand Uri, irgendwie war er vollkommen hell. »Warum rufst du uns, Keshet?«
»Ich rufe nicht euch. Ich will den Engel sehen, der mich gemacht hat.«
Uri schob sein Kinn nach vorne. Stolz. »Du glaubst, du bist dazu berechtigt, eine solche Audienz zu verlangen?«
»Ja.«
Er starrte mich an. Ich stemmte die Hände in die Hüften und starrte zurück. Zum ersten Mal schenkte er mir ein kleines Lächeln.
»Ich glaube, er könnte damit einverstanden sein.«
Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen. »Du kennst ihn?« Soweit ich wusste, kannten weder Uri noch Nox seine volle Identität.
»Das hat Priorität unter unseren Pflichten.« Uri nickte und – wenn ich mich nicht täuschte – lag darin sogar eine Art Verbeugung. »Erinnerst du dich an meine Worte, Keshet?«
»Ich gebe mich nicht mehr geschlagen, Uri.«
Sein Blick wurde traurig. »Ich fürchte, dass wird nicht gut für dich sein. Kapitulation bringt nicht nur Verzweiflung, sondern auch Freude – aber wenn du dem nicht nachgeben willst, kannst du keines von beiden erwarten.«
Ich hatte die Nase so voll davon. »Meinetwegen«, erwiderte ich.
Er senkte den Blick. »Wie du wünschst.«
Er verschwand und ließ mich mit dem leeren Gefühl zurück, dass ich ihn gerade enttäuscht hatte. Doch bevor ich die Gelegenheit hatte, weiter darüber zu grübeln, stand der, den ich zu sehen gekommen war, neben mir.
»Würdest du dich in einer anderen Umgebung wohler fühlen?«, fragte der Engel, der mich gemacht hat.
Ich ignorierte die Frage. Ehrlich gesagt fühlte sich das Nichts, das mich umgab, richtig an. »Du sagtest, ich könnte etwas verlangen, wenn ich den Krieg gewinnen würde.«
»Ja.«
»Habe ich den Krieg gewonnen?«
»Diesen hier, ja, ich glaube schon. Lilith wird nicht mehr zurückkehren.« Seine Mundwinkel kräuselten sich und erinnerten mich daran, dass er ein erbitterter Krieger war.
»Dann will ich drei Dinge«, platzte ich heraus.
Seine Augen wurden schmal. »So viel kann ich nicht anbieten. Du musst dich entscheiden.«
»Nein, muss ich nicht. Ich werde eure Kriegerin sein. Ich werde ein Grigori wie kein anderer werden. Ich werde jeden Verbannten, der die Menschheit bedroht, ausschalten. Darauf gebe ich dir mein Wort. Aber das wird auf meine Weise, nach meinen Regeln geschehen. Wenn du das willst, stelle ich Bedingungen. Du siehst also, nicht ich bin diejenige, die irgendetwas entscheiden muss, sondern du.«
Er schüttelte den Kopf. »Genau wie deine Mutter. Nenn mir deine Forderungen.«
Ich starrte in die Dunkelheit hinaus. Einige der Sterne schienen sich jetzt zu bewegen, sie schwebten um mich herum. Es waren so viele.
Wie können das so viele sein?
»Ich will, dass sie eine Chance haben. Mum und Dad. Du kannst Dad die Jahre zurückgeben, die ihm geraubt wurden, du kannst ihnen eine gemeinsame Zukunft geben.«
»Und du bist Teil ihrer Zukunft?«, fragte er.
»Ich … ich weiß nicht.«
»Ich kann ihnen nicht geben, worum du mich bittest, aber ich kann für eine Alternative sorgen, die ihnen etwas Ähnliches geben würde. Aber sie müssen mit ihrem eigenen freien Willen entscheiden, ob sie das wollen, und sie müssen sich sehr stark wünschen, dass es so kommt.«
Ich wusste, dass er mir nicht alles sagte, aber wenigstens hätten sie eine Wahl. Ich nickte und fuhr fort. »Ich wünsche mir, dass Phoenix eine Chance auf Frieden hat. Ich weiß, wo er ist, und da gehört er nicht hin. Er verdient mehr.«
Die Augen meines Engels leuchteten verschmitzt auf. »Erledigt.«
Schockiert klappte ich den Mund auf. »Echt?«
Er nickte. »Phoenix hat ebenfalls seine Entscheidungen getroffen. Viele davon waren zwar falsch, aber am Ende entschied er sich, sein wahres Wesen zu überwinden. Sehr wenige – ob Engel, Verbannter oder Mensch – schaffen das jemals. Er wurde erlöst.«
Meine Beine knickten ein, während ich nach Atem rang. Mein Engel packte mich am Ellbogen.
»Ist er im Himmel oder so?«
Er wartete ab, bis ich wieder sicher auf den Füßen stand. »Oder so.« Sein Lächeln verblasste, als er mich forschend ansah und auf meine letzte Forderung wartete. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was Nummer drei ist, aber das ist kein Geschenk, das ich geben kann.«
»Ich habe doch noch gar nicht gefragt.«
Sein Blick sagte mir, dass er es nur allzu gut wusste. »Du willst deine Liebe zurück.«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Ja«, hauchte ich.
»Das kann ich nicht.« Er seufzte – eine so menschliche Reaktion, dass ich gerührt war. »Es liegt nicht in meiner Macht, solche Dinge zu tun.«
Ich spürte, wie meine Hoffnung schwand. »Aber … Phoenix sagte … Er sagte, wenn ich hierher käme, könnte ich ihn finden. Dass es einen Weg gäbe.«
Mein Engel dachte darüber nach. »Du siehst sie. Das wissen wir, aber wir können nicht riskieren, dich zu verlieren.«
»Moment mal, ›Du siehst sie‹? Was?« Doch dann wurde mir klar, wovon er redete. »Die schimmernden Dinge? Ja.«
»Weißt du, was sie sind?«
»Nein«, sagte ich. Ich blickte in die dunkle Nacht hinaus und merkte jetzt, dass die vielen sich bewegenden Sterne eigentlich Spiegelungen waren, die auf uns zuschwebten. »Können sie mir helfen?«
»Vielleicht. Das sind die Spuren verlorener Seelen. Es besteht die Chance, dass deine Liebe unter ihnen ist.« Mein Herz begann zu rasen, als es diese Möglichkeit erkannte. »Ich kann ihn also finden?«
Der Engel, der mich gemacht hatte, teilte meine Aufregung nicht. Eigentlich sah er eher verzweifelt aus. »Da draußen gibt es Milliarden von ihnen, mein Kind. Ein unmögliches Kunststück. Und du wirst für andere Dinge gebraucht.«
»Phoenix dachte das nicht. Ich habe mir das Recht verdient, es zu versuchen!«
Er betrachtete mich für einen weiteren langen Moment. »Dann werde nicht ich derjenige sein, der das entscheidet.«
»Wer dann? Wen zum Teufel muss ich überreden?«, schrie ich verzweifelt.
Er zeigte mit dem Arm an mir vorbei. »Den anderen, dem jetzt eine Rolle in deiner Führung zufällt.«
Ich wirbelte herum und schnappte nach Luft.
Er sah so stark aus, so gesund. Sein Haar glitzerte im nächtlichen Licht. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Er sah aus wie immer, nur anders … Etwas Wesentliches an ihm hatte sich verändert. Seine Augen. Sie waren noch immer schokoladenbraun und wunderschön, aber sie wirkten nicht mehr so zutiefst gequält.
Phoenix war ein Engel.