Kapitel Dreizehn
»Hüte dich vor den dunklen und geheimen Dingen.«
Sir John Clark
Josephine führte uns in einen großen, ovalen Raum. Wieder bestand die komplette Außenwand aus Glas, doch dieses Mal war es blickdicht, sodass man keine Aussicht hatte. Der Raum war fast leer, abgesehen von einem Halbkreis aus Stühlen, der sich auf der hinteren Seite auf einer leicht erhöhten Bühne befand. Die Stühle sahen aus, als wären sie aus unglaublich großen Bäumen geschnitzt – jeder von ihnen aus einem anderen Holz. Alle außer einem waren besetzt.
Lincoln blieb dicht bei mir, als wir in die Mitte des Raumes geführt wurden. Für uns gab es keine Stühle. Ich wollte unbedingt mit Griffin sprechen und herausfinden, weshalb er so panisch reagiert hatte, als er hörte, dass der ganze Rat anwesend war.
Als wir noch unterwegs gewesen waren, hatten wir ausführlich über den Rat gesprochen. Griffin hatte mir jedes der Ratsmitglieder kurz beschrieben. Allerdings hatte er mir gesagt, dass höchstens vier von ihnen an der Akademie sein würden. Anscheinend war dies einer der seltenen Fälle, in denen Griffin sich geirrt hatte.
Ich sorgte dafür, dass meine übernatürlichen Schutzvorrichtungen an Ort und Stelle waren. Bevor wir ins Flugzeug gestiegen waren, hatten mich sowohl Griffin als auch Evelyn schwören lassen, in Anwesenheit des Rats soweit wie möglich meine Schutzschilde oben zu lassen und den Ratsmitgliedern nur zu erzählen, was unbedingt erforderlich war – vor allem in Bezug auf meine Sehkraft, aber auch auf meinen Engelrang. Ich durfte mir kein auffälliges Zurschaustellen von Macht erlauben. Darüber hinaus schlugen sie vor, dass ich alles tun sollte, um schwächer zu wirken, als ich tatsächlich war – ein Plan, der wider meine Natur war. Aber ich konnte es ja mal versuchen.
In der Mitte der Stühle auf dem Podium saß ein Mann. Vier Leute saßen zu seiner Rechten, weitere drei zu seiner Linken. Neben ihm war ein einzelner Stuhl frei. Offensichtlich Josephines.
Griffin hatte mir erklärt, dass ihre Stellung im Rat einer der Gründe war, weshalb sie es vorgezogen hatte, partnerlos zu bleiben. Wenn ein Grigori einen Sitz im Rat erlangt, so wird laut Grigori-Gesetz auch sein Partner in diesen Stand erhoben. Sie haben dann das gleiche Stimmrecht. Offenbar befand Josephine niemanden für würdig genug, neben ihr zu sitzen. Partner stimmten im Allgemeinen gleich ab, dadurch wurde Josephine oft zum Zünglein an der Waage – ein Privileg, das sie keinesfalls mit einem unwürdigen Partner teilen wollte.
Total machtbesessen.
Josephine nahm Platz.
»Griffin, ich glaube, du hast die Ratsmitglieder schon kennengelernt?«, begann sie. Jedes Wort strömte Selbstzufriedenheit aus.
Griffin nickte respektvoll. »Ja, das habe ich. Wie ich zugeben muss, habe ich jedoch nicht gewusst, dass sich der Rat zu einer so … informellen Gelegenheit versammelt.«
Das war Griffins Art, uns darauf hinzuweisen, dass etwas im Gange war – nur für den Fall, dass uns das entgangen sein sollte. Super. Wenn Griffin nach all den Jahren als Grigori-Chef dies für bedeutend hielt, dann wollte ich nicht widersprechen.
Josephine lächelte und amüsierte sich ganz offensichtlich.
Noch ein schlechtes Zeichen.
»Nun, dann erlaubt mir, die Vorstellung für Lincoln und Violet zu übernehmen. In der Mitte sitzt Drenson, der Vorsitzende des Rats und der Repräsentant der Grigori weltweit.«
Laut Griffin wollte Josephine ausdrücklich nicht Vorsitzende des Rates werden. Sie wollte nicht alle Grigori repräsentieren. Sie war eine Strategin und Kämpferin und vergoss lieber Blut, als sich mit einer solch inaktiven Rolle zufriedenzugeben.
Drenson sah aus, als wäre er Ende zwanzig, doch ich wusste, dass er viele Hundert Jahre alt war. Sein langes Haar fiel ihm bis über die Schulter. Es war kastanienbraun und wirkte beinahe rot in dem Licht, das durch die blickdichten Glasscheiben drang. Er trug einen modernen doppelreihigen, stahlgrauen Anzug. Nicht die Art von Anzug, mit dem sich Onyx abgeben würde, aber einer, der trotz allem Macht und Geld ausstrahlte. Der Blick aus seinen braunen Augen fiel zuerst auf Griffin, danach auf Lincoln, bevor er sich schließlich auf mich richtete. Er neigte leicht den Kopf. Ich nickte zurück.
»Wir haben lange darauf gewartet, dich kennenzulernen«, sagte er mit einer Stimme, die so tief war, dass sich ein Echo im Raum bildete. Ein sehr leichter Akzent deutete an, dass Spanisch wohl seine Muttersprache war.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte ich und rezitierte damit die Worte, die Griffin mich angewiesen hatte zu sagen.
»Neben Drenson sitzt seine Partnerin, Adele«, sagte Josephine und deutete auf eine zarte Frau, die aufrecht auf ihrem Stuhl saß. Ihre mausähnlichen Gesichtszüge wurden fast vollständig von ihrem langen schwarzen Haar bedeckt.
Sie ließ ihren Blick über uns alle schweifen. »Willkommen«, sagte sie, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder geradewegs Josephine zuwandte.
»Neben Adele sitzen die Partner Seth und Decima, die ältesten noch dienenden Mitglieder des Rats«, sagte Josephine.
Nacheinander ließen sie ihre ausdruckslosen Blicke über uns wandern und nickten zur Begrüßung. Mir lief ein Schauder über den Rücken.
So alt. So mächtig.
Wir nickten zurück, aber ich bemerkte, dass Lincolns Nicken eher eine Verbeugung war. Seth und Decima waren beide groß und unglaublich schlank. Sie trugen leichte, fließende Gewänder. Decima war ganz in Weiß gekleidet, was einen Kontrast zu ihrem langen schwarzen Haar darstellte. Seth trug Schwarz – als Kontrast zu seinem langen weißen Haar.
Griffin hatte mir im Flugzeug von ihnen erzählt. Seth und Decima waren die religiösesten Mitglieder des Rates – was sie offenbar auch zu den grausamsten Kriegern machte. Sie stammten aus einer Zeit, in der Religion noch bedeutete, bis zum Tod zu kämpfen – auch wenn sie das heute nur noch sehr selten demonstrierten. Seth und Decima hielten ihre Anwesenheit nur in Zeiten großer Kriege für notwendig. Allein das war vielleicht schon ein Grund, weshalb es so seltsam schien, dass sie heute hier waren.
»Rechts von mir«, fuhr Josephine fort, »sitzen die Partner Hakon und Valerie, die auch die Trainings der Akademie leiten. Ihr könnt damit rechnen, sie in naher Zukunft öfter zu sehen.«
Ich unterdrückte das Bedürfnis zu widersprechen. Griffin hatte mich vorgewarnt, dass der Rat wahrscheinlich nur zulassen würde, dass ich bliebe, wenn ich an einigen Unterrichtsstunden der Akademie teilnehmen würde. Darüber war ich nicht glücklich. Mich ihren Strukturen anzupassen, ging mir irgendwie gegen den Strich. Josephine bemühte sich nicht besonders, ihr wissendes Lächeln zu unterdrücken.
Schön zu sehen, dass sie sich so gut selbst unterhalten kann.
Hakon war riesig. Es hätte mich nicht gewundert, wenn einer seiner früheren Namen Herkules gewesen wäre. Er hatte kurzes blondes Haar, deshalb dachte ich, er könnte Skandinavier sein. Der Blick aus seinen hellbraunen Augen traf meinen. Er schien nicht beeindruckt zu sein, von dem, was er sah.
Seine schiere Größe war irrsinnig. Ich wusste gar nicht, dass Muskeln so sein konnten, und er versuchte auch nicht, sie zu verbergen. Er trug lediglich einen Streifen braunen Leders am Oberkörper. Ich konnte seine ganze Brust sehen. Es war …
Lincoln räusperte sich.
Mist. Ich starre ihn an.
Verlegen blinzelte ich, nickte Hakon zu und wandte meine Aufmerksamkeit rasch Valerie zu, die winzig neben ihm aussah, trotz der Tatsache, dass sie vermutlich die am athletischsten gebaute Frau im Rat war. Ihre Kleidung war betont zurückhaltend – sie trug schwarze Leggings und einen weißen Pulli. Sie wirkte, als wäre sie gerade von einem Training gekommen, was sie mir irgendwie sympathisch machte.
Dann musterte sie mich von oben bis unten und dem abschätzenden Blick nach zu urteilen, den sie mit Hakon gemeinsam hatte – wurde klar, dass sie auch nicht sonderlich beeindruckt war von dem, was sie da sah. Ich spürte, wie ich rot wurde.
Nachdem wir Hakon den Hulk und Valerie verlegen mit einem Kopfnicken begrüßt hatten, sprach Josephine weiter: »Und schließlich, euch am nächsten, Wilhelm und Rania.«
Man musste kein Genie sein um zu erkennen, dass diese beiden die am wenigsten beliebten Ratsmitglieder waren, so rasch wie Josephine über sie hinwegging und dabei kaum in ihre Richtung zeigte.
Das macht sie wohl zu meinen neuen Lieblingen!
»Ihr könnt mich Wil nennen«, sagte Wilhelm freundlich und nickte Lincoln und mir dabei zu. »Willkommen an der Akademie.« Sein Blick wanderte zu Griffin. »Wie gut dich zu sehen, alter Freund. Du wurdest schmerzlich vermisst.«
Griffin nickte, auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Auch gut dich zu sehen, Wil, und dich auch, Rania.«
Die Frau stand auf – sie war die Erste aus dem Rat, die irgendeine Bewegung machte – und ging zu Griffin hinüber. Sie küsste ihn auf beide Wangen und nahm seine Hände, man spürte, dass hier Gefühle im Spiel waren.
»Es tut mir leid, was Magda getan hat. Ihr Verhalten hat uns alle verletzt, aber dich am meisten. Sie hatte großes Glück, dich als Partner zu haben, und sie hat den Fehler gemacht, dein Vertrauen zu missbrauchen.«
Ich mochte Rania.
»Danke«, sagte Griffin. Bescheiden senkte er den Kopf.
Ich merkte, dass sein Respekt ihr gegenüber echt war, und seine Dankbarkeit von Herzen kam. Rania beugte sich noch einmal vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Griffin nickte wieder und ich war mir sicher, eine Träne in seinem Auge gesehen zu haben, bevor er sie wegblinzelte.
Rania wandte sich an Lincoln und mich. Sie war ungefähr so groß wie ich. Und sie war hübsch. Glänzendes schwarzes Haar, das gerade und scharf auf Schulterlänge geschnitten war. Sie hatte etwas Exotisches an sich, noch mehr als Adele. Tatsächlich waren ihre Augen so eindrucksvoll, dass sie mich an …
»Nyla«, flüsterte ich. Der Name fiel mir von den Lippen, ehe ich es verhindern konnte.
Sie lächelte. »Nyla ist meine Schwester. Meine Zwillingsschwester. Allerdings sind wir keine eineiigen Zwillinge, wie man sehen kann.«
Ich starrte sie an – die Ähnlichkeit war jetzt eindeutig. Ihr Verhalten und die Wärme in ihren Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie mit Nyla verwandt war.
Nyla hatte mir nie erzählt, dass sie eine Zwillingsschwester hatte. Aber andererseits sprachen ältere Grigori kaum von ihren Familienangehörigen – das war ein Tabuthema. Meistens hatten sie sie verloren oder überlebt.
»Ich … ich … Nyla war … Sie war fabelhaft«, stotterte ich.
Ranias Lächeln wurde breiter, während ich nach Worten rang. »Sie war fabelhaft. Und ich bin zuversichtlich, dass sie es auch wieder sein wird.«
Dabei blitzte in ihren Augen eine stählerne Entschlossenheit auf, die so schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war, und keinen Raum für Zweifel ließ – Rania war genau wie ihre Schwester eine erbitterte Kriegerin.
»Ihr müsst sie besuchen, solange ihr hier seid«, sagte sie und schlug damit einen leichteren Ton an, als sie wieder auf ihren Platz zurückging.
Josephine gab sich nach Ranias Unterbrechung bewusst gelangweilt und sagte: »Jetzt wo alle einander vorgestellt worden sind, würde ich gern ein paar Dinge mit euch besprechen. Erstens wollen wir feststellen, von welchem Rang genau Violet Eden abstammt. So aufregend die Gerüchte auch sind, so glaube ich doch, dass dieses Thema ein für alle Mal zu den Akten gelegt werden sollte.«
Griffin trat vor. »Josephine, wir haben einen langen Tag hinter uns. Bestimmt hat Violet das Recht, zuerst an einem Training der Akademie teilzunehmen, bevor irgendwelche Tests durchgeführt werden.«
Josephines Oberlippe zuckte. »Wir haben lang genug gewartet, Griffin. Glaub nicht, dass uns nicht bewusst ist, dass auch du uns Informationen vorenthalten hast.«
Griffin senkte den Kopf. »Nichts, von dem ich glaube, dass davon eine unmittelbare Gefahr für die anderen Grigori oder die Akademie ausgeht.«
»Und wie steht es mit dem Rat, alter Freund? Hast du irgendwelche Informationen zurückgehalten, die dem Rat schaden könnten?«
Griffin nahm sich Zeit. Er sah jedes Mitglied an. Manche von ihnen erwiderten seinen Blick, andere wandten ihn interessanterweise ab. Ihre Reaktionen schenkten mir kein Vertrauen in das, was als Nächstes kommen würde.
»Ich habe nichts getan, was nicht im besten Interesse der Zukunft des Rates gewesen wäre.«
Rania, Wilhelm und Hakon hatten ihre Aufmerksamkeit auf Adele gerichtet, deshalb tat ich das auch. Als sie leicht den Kopf neigte, als würde sie akzeptieren, was Griffin gesagt hatte, fragte ich mich, ob sie die Wahrheit erkennen konnte, so wie Griffin. Was immer es war, ihr Wort schien denjenigen, die ihre Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatten, zu genügen.
»Wie du willst, Griffin, aber wir erlauben Violet erst zu gehen, wenn sie sich zumindest einem kleinen Kräftemessen gestellt hat. Drenson hat für heute seine Dienste angeboten.«
Griffin sah mich an, seine Miene war finster. »Erinnerst du dich an deine erste Begegnung mit Rudyard?«
Allerdings! Er hatte meine Hand genommen, seine Kraft in mich hineingeschoben und auf total zudringliche Weise Besitz von mir ergriffen. Nichts, was ich je wieder erleben wollte.
Ich nickte und blickte wieder zum Rat. Meine Gegner waren leicht zu erkennen – das waren diejenigen von ihnen, die grinsten. Ich schluckte den bitteren Geschmack in meiner Kehle hinunter und nickte Griffin erneut zu.
Er schloss kurz die Augen, und das brachte alle Alarmglocken in meinem Körper zum Schrillen.
Seth stand auf und ging in die Mitte des Raumes. Er zog sein locker sitzendes Hemd aus und enthüllte einen schlanken Körper mit festen Muskeln, der mich an ein Rennpferd erinnerte. Er wandte seine Aufmerksamkeit Lincoln zu.
»Vielleicht ziehst du besser die Schuhe aus«, sagte er mit einem starken Akzent, den ich zwar nicht einordnen konnte, aber für europäisch hielt. Ich wurde ganz nervös, wenn ich darüber nachdachte, dass ich ihn wahrscheinlich nur nicht richtig einordnen konnte, weil er einfach so alt war.
Hier geht es ja zu wie bei den Vereinten Nationen.
Mein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her, während Lincoln seine Schuhe und dann sein Hemd auszog. Als sich unsere Blicke begegneten, schüttelte er den Kopf und sagte leise: »Schau nicht zu. Konzentrier dich.«
Was zum Teufel meinte er damit?
Ich blickte zu Griffin, der zurückwich, und bemerkte ein weißes Viereck auf dem Boden – ein Sparring-Feld. Man hatte mir stundenlang berichtet, was für ein großartiger Kämpfer Seth war – »unschlagbar« und »unaufhaltbar« waren die Worte, die dabei dauernd fielen.
»Violet«, erklang Josephines singende Stimme, »würdest du bitte zu uns heraufkommen? Sicherlich stimmst du mir zu, wenn ich sage, dass wir umso schneller zur Tagesordnung übergehen können, je schneller wir haben, was wir brauchen.«
Ich ging auf sie zu und konzentrierte mich dabei auf Lincoln und Seth, die angefangen hatten, sich wie Raubtiere zu umkreisen.
Mist.
»Ich verstehe nicht. Soll Lincoln kämpfen?«
Drenson stand auf und kam auf mich zu. »Ich glaube, durch eine kleine Ablenkung geht diese Sache hier schneller über die Bühne«, sagte er. Er streckte seine Hand aus, genau wie Rudyard es getan hatte, und ich wusste: Was immer Rudyard bei unserer ersten Begegnung mit mir gemacht hatte, wäre nichts gegen das, was jetzt gleich passieren würde.
Als ich zögerte, nickte Josephine Seth zu, und in weniger als einer Sekunde war er meterweit nach oben gesprungen, wieder auf dem Boden gelandet und mit übermenschlicher Geschwindigkeit und Kraft herumgewirbelt – dann kollidierte sein Fuß mit Lincolns Gesicht. Lincoln ging zu Boden, bevor er Zeit hatte, zu reagieren.
Schnell sprang Lincoln zurück auf die Füße. Mir stockte der Atem, als ich sah, dass seitlich an seinem Gesicht Blut herunterlief.
Und das war nur der erste Schlag.
»Deine Hand, Violet«, sagte Drenson.
Oh Gott, wo sind wir da bloß hineingeraten? Diese Leute sind wahnsinnig.
Lincoln steckte einen weiteren Schlag ein und konnte gerade noch verhindern, dass er wieder zu Boden ging. Kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, führte Seth mit Lichtgeschwindigkeit einen weiteren furchterregenden Schlag aus, bei dem – wie ich vermutete – Lincolns Schulter ausgekugelt wurde, dem Winkel nach zu urteilen, den sein Arm hinterher beschrieb. Ich hörte ein Wimmern und merkte, dass ich das war.
»Je eher du mir deine Hand freiwillig gibst, desto schneller können wir das beenden«, sagte Drenson.
Das war es also. Ich musste Drenson meine Hand freiwillig geben, sonst würde seine Kraft nicht funktionieren. Jede Wette, dass es Josephines Vorschlag gewesen war, Lincoln windelweich zu prügeln, bis ich kooperierte.
Genau ihr Stil.
Lincoln rammte seine Faust in Seths Magen. Die Ratsmitglieder schienen wie eine Einheit zu erstarren. Ich lächelte über Josephines überraschtes Gesicht. Sie hatten Lincoln unterschätzt. Leider war Seth jedoch immer noch im Vorteil.
Ich legte meine Hand in Drensons.
Es fing langsam an und ich konzentrierte mich darauf, meine Schutzbarrieren oben zu halten, wie Griffin und Evelyn mich angewiesen hatten. Aber ich konnte meine Aufmerksamkeit nicht von Lincoln und Seth abwenden, die mitten im Raum wie Gladiatoren kämpften. Lincoln war schweißgebadet, Seth versetzte ihm einen tödlichen Schlag nach dem anderen. Wenn Lincoln nur ein Mensch gewesen wäre, hätte ein einziger dieser Schläge gereicht, um ihn umzubringen. Doch er stand immer wieder auf, kämpfte weiter und legte beträchtliche Kraft in seine Schläge.
Dann setzte Drensons wahre Kraft ein, als hätte sie zuvor nur hinter einem Vorhang hervorgelinst. Er trat die Vordertür ein und stürzte in mich hinein. Ich wäre unter der Wucht des Aufpralls nach hinten gefallen, hätte mich nicht seine schraubstockartige Hand an Ort und Stelle gehalten.
Ich strengte mich an, meine Deckung oben zu halten, versuchte zu verstecken, wer ich war, was ich war, aber die ganze Zeit konnte ich sehen, was mit Lincoln geschah. Er wurde gerade totgeprügelt und seine Schmerzen ergriffen von mir Besitz, selbst als Drenson in mich eindrang – alles, worauf ich mich konzentrieren konnte, war Lincoln.
Und genau da fiel bei mir der Groschen – das war der andere Grund, weshalb sie das taten. Seth schlug Lincoln nicht nur, um mich dazu zu zwingen, Drenson einen Einblick in meine Kraft zu gewähren, sondern damit ich meine Konzentration verlor und meine Deckung fallen ließ. Wenn das passierte, würden sie alles sehen.
Lincoln bekam einen weiteren Schlag ins Gesicht, sodass sein Kopf nach hinten zuckte. Ich war mir sicher, dass seine Nase und einige Rippen bereits gebrochen waren.
Doch anstatt zu schreien, dass sie aufhören sollten, anstatt hinzurennen und mit ihm zu kämpfen, kämpfte ich gegen alle natürlichen Instinkte an und … schloss die Augen. Ich blendete die Geräusche der Schläge auf seinen Körper aus. Einen nach dem anderen legte ich die Steine zurück, die aus meiner Schutzmauer herausgefallen waren. Ich zog die Barriere wieder hoch, die mir Sicherheit verschaffte. Die uns allen Sicherheit verschaffte.
Drenson war mächtig. Er schob und schubste heftig und machte sich nicht die Mühe, höflich zu sein. Ich konnte fühlen, wie seine Energie um meine Knochen schliff wie ein gezacktes Messer, das schabte und schnitt, und nach einem Weg nach drinnen suchte, erpicht darauf, die Kraftquelle zu finden, die in mir verborgen war. Doch selbst als er noch mehr drückte, selbst als ich die Tränen spürte, die unter dem Druck aus meinen Augen flossen, und das Blut, das aus meiner Nase rann, blieb ich stark.
Ich war stark.
Drenson packte meine Hand fester, bis ich das scharfe Knacken spürte. Er zerquetschte sie, als würde er eine Orange auspressen. Doch seine eigene Hand fing an zu zittern, und das gab mir die Ermutigung, die ich brauchte. Er wurde schwächer.
Als Rudyard zum ersten Mal seine Kraft bei mir einsetzte, hatte ich das nicht erwartet, und es war etwas ganz Neues für mich. Seitdem war eine Menge passiert, und ich war stärker, als ich es je zuvor gewesen war. Ich schlug die Augen auf und blickte direkt in Drensons.
»Wenn du jetzt noch nicht bekommen hast, was du willst, dann lohnt es sich vielleicht, in Betracht zu ziehen, dass du es niemals bekommen wirst.« Ich wusste, dass meine Worte als die Drohung aufgefasst werden würden, als die sie gemeint waren.
Seine Nasenlöcher flatterten und sein Griff um meine Hand wurde fester. Noch mehr kleine Knochen brachen. Ich reagierte nicht darauf.
»Das reicht«, sagte Wil hinter Drenson. »Das führt doch zu nichts.«
Drensons Blick war auf mich geheftet, und ich wusste, dass ich in ihm heute keinen neuen Freund gefunden hatte. Doch wir mussten beide einen Weg finden, damit umzugehen, denn ich würde nicht zulassen, dass mich seine Macht wie eine Dampfwalze überrollte. Solange ich atmete, würde ich nicht zulassen, dass mich jemand auf diese Art unter Kontrolle hatte.
Er ließ seine Hand sinken, was eine Welle der Erleichterung durch meinen Körper jagte. Fast hätte ich vor Schmerzen gebrüllt, als das Blut in meine Hand zurückströmte. Stattdessen hielt ich sie hinter meinen Rücken und drehte mich zu der Stelle um, an der Lincoln und Seth gekämpft hatten.
Lincoln lag am Boden. Er atmete. Ich spürte, dass sein Herz schlug. Aber er war praktisch pulverisiert. Ich zwang mich, nicht zu ihm zu laufen.
Stattdessen ging Griffin hinüber, kauerte sich neben ihn und überprüfte seine Vitalfunktionen, während Seth zurück zu seinem Stuhl ging. Als Seth an mir vorbeikam, zögerte er und warf mir einen kurzen Blick zu, doch irgendwie schien er geradewegs durch mich hindurch zu sehen, als wäre ich nichts weiter als eine kleine Ablenkung.
»Nichts Persönliches. Nächstes Mal wird er bestimmt nicht so leicht zu schlagen sein, könnte ich mir vorstellen«, sagte er und ging weiter.
»Wow, Seth, das war vielleicht das Netteste, was du jemals gesagt hast«, schaltete sich Rania ein.
Fast hätte ich damit gerechnet, dass Seth sie aus ihrem Stuhl reißt, aber tatsächlich wandte er sich zu ihr um, machte eine kleine Verbeugung und – was für ein Schock! – lächelte sie an. Eine halbe Sekunde lang vielleicht.
»Wenn wir hier jetzt fertig sind, bringen wir Lincoln auf sein Zimmer«, sagte Griffin, der jetzt aufgestanden war und den bewusstlosen Lincoln in den Armen hielt. Griffins Gesicht war eine Maske der Ruhe, aber ich bezweifelte, dass irgendjemandem der Zorn in seinen Augen entging. Lincoln war einer von seinen Leuten.
Mein Magen sackte ab, als ich sah, was meinem Partner angetan wurde.
Flache Atmung. Schulter definitiv ausgerenkt. Platzwunden über beiden Augen. Gebrochene Nase.
»Sicher kann Violet ihn heilen?«, warf Josephine unschuldig ein. »Wir haben so viel von ihren außergewöhnlichen Heilungsfähigkeiten gehört. Vielleicht würde eine Demonstration dazu beitragen, dass wir ein wenig mehr davon verstehen.«
Noch ein Grund, weshalb sie Lincoln hatte verprügeln lassen.
Ich holte tief Luft und bemühte mich, ruhig zu bleiben. »Josephine, du hast meine Eltern weggesperrt. Du hast meinen Partner halb totprügeln lassen. Ich wurde gerade einem unglaublich aufdringlichen Machtkampf unterzogen …« Ich zog meine geschundene Hand hinter meinem Rücken hervor. »Und meine Hand ist völlig hinüber. Wir sind auf dein Ersuchen hin hierher gekommen. Ich habe vor, zu bleiben und mich an die Regeln des Rates und der Akademie zu halten, während ich hier bin.« Ich warf den übrigen Ratsmitgliedern einen Blick zu. »Ich möchte alles tun, was ich kann, um zu verhindern, was immer Phoenix und Lilith vorhaben. Anstatt hier herumzustehen und irgendwelche Spielchen mit euch zu spielen, würde ich aber im Moment lieber meinen Partner von hier wegbringen, damit ich ausruhen kann, bevor ich ihn heile, was zweifellos eine ziemlich aufreibende Aufgabe werden wird.«
Alle Blicke huschten zwischen Josephine und mir hin und her. Ich hatte sie gerade auf eine Art und Weise herausgefordert, die sie ziemlich schlecht dastehen ließ und wodurch sie mich nur noch mehr hassen würde, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich mich selbst und Lincoln noch weiter ihren Machtspielen unterwerfen würde.
Josephine legte sich die Hand ans Kinn. »Wirst du dich in drei Wochen einer vollständigen Grigori-Prüfung stellen?«
Ich machte große Augen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich schwören können, dass in ihrer Stimme ein Hauch von Respekt mitschwang.
Ganz bestimmt nicht.
Ich blickte über meine Schulter zu Griffin. Wir hatten darüber diskutiert und wussten, dass das eine Sache war, die ich würde tun müssen – alle Grigori taten das.
Als ich mich Josephine wieder zuwandte, ließ ich meinen Blick über den gesamten Rat schweifen, womit ich ihm zeigte, dass ich keine Angst hatte, auch wenn mir Griffin davon abgeraten hatte.
»In drei Wochen«, stimmte ich zu.
Dann marschierte ich, ohne auf eine ausdrückliche Erlaubnis zu warten, aus dem Raum, gefolgt von Griffin mit Lincoln in den Armen.
Herzlich willkommen in New York.