Kapitel Neun
»Getrennt von jenen, die wir lieben, ist selbst von selbst – o tödliche Verbannung!«
William Shakespeare
Griffin hatte sich seit dem Vorabend nicht umgezogen. Er saß bereits an unserem inzwischen gewohnten Tisch im Hades. Dapper saß neben ihm, zwischen ihnen lag ein Buch und sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
Onyx stand hinter der Bar, schockierenderweise machte er Kaffee. Als er Lincoln und mich hereinkommen sah, sagte er nichts, sondern schob mir einfach eine Tasse über die Theke. Eine Geste, die so gar nicht zu Onyx passte.
»Griffin hat es dir erzählt«, sagte ich, als ich die Tasse nahm. Es war mir peinlich, dass alle wussten, was Dad getan hatte.
Onyx zuckte mit den Schultern und schnipste sich die schwarzen Haare von den Augen.
Sieh mal einer an – er ist sprachlos.
Ich sah ihn mit unbeweglicher Miene an. »Du hast Mitleid mit mir – das geht gar nicht.«
»Oh, Gott sei Dank«, rief er erleichtert. »Ich dachte schon, ich müsste jetzt den ganzen Tag so tun.«
»Du bist ein Idiot, aber das weißt du, oder?«
Er verbeugte sich. »Ja, ich weiß, vielen Dank.« Er musterte meine Tasse. »Genieß es, da ist mehr Rum drin als Kaffee«, sagte er zwinkernd. Dann schlenderte er hinüber und setzte sich neben Dapper.
Ich drehte mich zu Lincoln um, der mit verblüfftem Gesichtsausdruck Onyx beobachtete. »Glaubst du, da läuft etwas zwischen Dapper und Onyx?«, fragte er mich.
Ich blickte wieder zu den beiden hinüber. Sie schienen sich sehr wohlzufühlen, wenn sie zusammen waren. Dapper hatte nie gesagt, dass er auf Männer stehen würde, und wenn man ihn so anschaute, passte er auch nicht ins Klischee des typischen Schwulen – na ja, außer vielleicht wegen seiner Vorliebe für Innendesign und diamantenbesetzte Accessoires. Und jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte ich auch noch nie gesehen, dass Onyx auf eines der Angebote einging, die ihm die Mädchen, die im Hades herumhingen, gemacht hatten.
»Bestimmt«, sagte ich und merkte, dass ich mich für sie freute.
Lincoln sah sie wieder an und nickte. Genug gesagt.
Griffin winkte uns zu sich.
»Zeit, die Welt zu retten«, sagte ich zu Lincoln.
Lincoln schaute demonstrativ auf die Uhr. »Jetzt schon?«
»Ha, ha«, sagte ich, während wir zu den anderen gingen. Doch ich merkte, dass sein Lächeln schnell verschwand. Er war gut darin, sich zu verstellen, aber er war nicht gerade glücklich gewesen zu hören, dass Phoenix einen Weg in meine Träume gefunden hatte. Der einzige Grund, weshalb er nicht völlig durchdrehte, war, dass ich es geschafft hatte, mich aus dem Traum zu befreien.
»Kommt sonst noch jemand?«, fragte ich, als wir am Tisch ankamen.
»Nur wir heute Morgen«, sagte Griffin. »Ich dachte, ein wenig Privatsphäre könnte uns nicht schaden. Wenn wir erst mal in der Akademie sind, haben wir vielleicht keine Gelegenheit mehr, miteinander zu reden.«
Das war Griffins Art, uns zu sagen, dass wir mit Argusaugen beobachtet würden, wenn wir erst mal in New York waren.
Lincoln betrachtete das Buch, das Dapper und Griffin angeschaut hatten. Es war alt – das Papier dick und abgegriffen an den Rändern, der Buchrücken schälte sich ab.
»Ist es das?«, fragte Lincoln.
Dapper nickte. »Es hat die ganze Nacht gedauert, es zu übersetzen.« Anders als viele der Bücher war dieses nicht ins Englische übersetzt. Es hatte es nur bis ins Altaramäische geschafft. »Hätte gut die Hilfe von diesem Mädchen gebrauchen können«, fügte er hinzu, womit er Steph meinte. Aber »dieses Mädchen« hatte letzte Nacht andere Pläne, und nicht einmal ihre große Freude über die Entdeckung von Dappers kostbarem Wissensquell konnte sie davon überzeugen, ihr Zusammensein mit Salvatore zu verschieben.
»Jedenfalls ist in dem Buch ein Zaubertrank namens Qeres aufgeführt. Es ist nicht einfach zu entschlüsseln, aber es gibt eine Liste mit zwölf Inhaltsstoffen«, sagte Griffin.
»Was für welche?«, fragte Lincoln.
»Für einige brauchen wir noch die Übersetzung, aber nichts Dramatisches. Weihrauch, Myrrhe, Zedernöl, blauer Lotus, überwiegend Blumen und Kräuter, die in Ägypten beheimatet sind, was in Anbetracht der Zeit, in der das aufgeschrieben wurde, logisch ist.«
»Einfach«, sagte ich schulterzuckend. »Das meiste davon bekommen wir wahrscheinlich online, wenn nicht sogar im Supermarkt.«
Dapper nahm seine Brille ab und starrte mich an. »Glaubst du wirklich, wir könnten einfach runter zum Tante-Emma-Laden gehen und die Zutaten für ein Unsterblichkeitselixier holen? Bitte, sag mir, dass das ein Witz war, den ich falsch verstanden habe.«
Ich sank in meinem Stuhl zurück. Es geht doch nichts darüber, in seine Schranken verwiesen zu werden. Dapper war ja immer barsch und unhöflich, aber das war …
Er seufzte und sah einen Augenblick lang zur Decke. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Es tut mir leid. Ich habe kein Recht, so mit dir zu reden. Ausgerechnet mit dir.« Beschämt senkte er den Kopf, und ich fragte mich, weshalb er das »dir« so betont hatte.
»Oh, mach keinen Wirbel«, warf Onyx ein. »Sie mag es, wenn wir fies zu ihr sind, so was in der Richtung hat sie jedenfalls beim Reinkommen gesagt.«
Ich verdrehte die Augen, aber wenigstens hatte er die seltsame Anspannung gelöst.
»Hier«, sagte Onyx und reichte Dapper eine Tasse. Er sah mich an und versuchte, dabei etwas zu verbergen, was verdächtig nach Besorgnis aussah. »Er ist nur genervt, weil er nach Hause muss, wenn ihr diese Bestandteile haben wollt.«
»Nach Hause?«, fragte Lincoln und nahm mir damit die Worte aus dem Mund.
Dapper schnitt eine Grimasse. »Die Wirkstoffe müssen von der Erde kommen und von ihrem rechtmäßigen Platz. Die meisten findet man in Ägypten, genau genommen am Ufer des Nils.«
Ich schüttelte den Kopf. »Dapper, wir können nicht von dir verlangen, dass du um die halbe Welt reist, um nach Blumen und Kräutern zu suchen. Wir wissen nicht mal, ob an dieser Geschichte überhaupt etwas Wahres dran ist, und du hast doch selbst gesagt, dass wir die dreizehnte Zutat ohnehin nicht haben.«
Dapper starrte mich lange Zeit an, und unwillkürlich spürte ich, dass er etwas sagen wollte. Aber es war Griffin, der sich zuerst zu Wort meldete.
»Solange uns nichts Besseres einfällt, ist das der einzige Plan, den wir haben.«
Dapper seufzte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dorthin zurückkehren würde, aber dieser Zaubertrank könnte letztendlich alles entscheidend sein. Wenn man in Ägypten unterwegs ist, braucht man Beziehungen und einen Fremdenführer. Ich kann euch beides bieten.«
Ich fragte mich, wie lange es her war, seit Dapper zum letzten Mal in Ägypten war.
»Nett von dir, dass du mir die Entscheidung überlässt. Aber wir wissen beide, dass die Welt für keinen von uns schön sein wird, wenn wir Lilith nicht aufhalten.«
Ich schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Für mich war immer noch schwer zu glauben, dass letztendlich meine Beziehung zu Phoenix zu all dem geführt hatte. Es war eine grausame Wendung des Schicksals, für die jetzt alle den Preis bezahlen mussten. Schließlich hob ich den Kopf und sah Dapper an.
»Danke«, sagte ich. Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
Dapper lächelte schwach. »Griffin, mit deiner Erlaubnis würde ich gern vorschlagen, dass mich das Mädchen begleitet. Ihr werdet sie nicht mitnehmen dürfen und ich könnte sie gut gebrauchen.« Er hustete und bemühte sich, sein wirkliches Anliegen zu verbergen. »Gott weiß, sie wird niemals einverstanden sein, zu Hause zu bleiben.«
Griffin trank seinen Kaffee aus. »Wenn Stephanie einverstanden ist, habe ich nichts dagegen. Wir werden schon genug Ärger bekommen, wenn wir versuchen, James mit Evelyn einzuschleusen.«
Beide sahen mich an.
»Unter einer Bedingung«, sagte ich, weil ich dafür sorgen wollte, dass Steph zumindest das mitnehmen konnte. »Morgen ist unsere Abschlussfeier. Ihr könnt erst aufbrechen, wenn sie vorbei ist. Sie ist Jahrgangsbeste und hält die Abschlussrede, verdammt. Und da ich nicht dabei sein werde, erwarte ich von euch« – dabei sah ich Onyx streng an –, »dass ihr beide dort sein und Konfetti werfen werdet.«
Lincoln ergriff unter dem Tisch meine Hand. Ja, es war total ätzend, dass ich nicht dabei sein konnte.
Dapper nickte. »Wir können die Zeit dazu nutzen, den Rest dieses Textes zu übersetzen und Vorbereitungen zu treffen. Wir werden zur Abschlussfeier gehen.«
»Sprich für dich selbst. Lieber würde ich mir eine geladene Knarre an den Kopf halten«, sagte Onyx.
»Ich glaube schon, dass ich für dich sprechen kann, weil du vermutlich vorhast, mit auf unsere kleine Reise zu gehen.«
Onyx verdrehte die Augen und kippte den Rest aus seinem Glas hinunter.
Yep. Definitiv mehr als nur Freunde, wenn Dapper ihn dazu bringen kann, zu einer Highschool-Abschlussfeier zu gehen.
»Begreifst du jetzt, zu was du mich verurteilt hast?« Onyx funkelte mich an. »Mein einziger Trost ist zu wissen, dass du bis auf Weiteres mit deinem Sonnenschein von Mutter festsitzen wirst.«
Ich funkelte zurück.
»Oh«, sagte er und fasste sich mit der Hand an die Brust. »Ist das dein böser Blick? Gleich fang ich an zu zittern.«
Ungläubig sah ich Linc an. Der Verräter unterdrückte ein Lächeln.
»Was ist daran so witzig?«, sagte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Alles, was du jetzt noch tun musst, ist, Steph lang genug von Salvatore zu trennen, damit du sie davon überzeugen kannst, sich nicht als blinder Passagier in unserem Flugzeug zu verstecken.«
»Oh, Shit.«
»Vielleicht wird das gar nicht nötig sein«, sagte Griffin, der damit unsere Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte. Etwas sagte mir, dass das ein weiterer Grund war, weshalb Griffin beschlossen hatte, dass unser heutiger Kriegsrat privat blieb.