Kapitel Vier

»Sind sie nicht alle nur dienende Geister, ausgesandt, um denen zu helfen, die das Heil erben sollen?«

Hebräer 1, 14

Zwei Stunden und ein paar hochprozentige Getränke später flüchtete ich von der Tanzfläche, um frische Luft zu schnappen.

Alle wirbelten umher, lachten über die idiotischen Tanzstile von Steph und Salvatore und über Lydia Stilton, die verzweifelt versuchte, sich Spence zu krallen – nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Jase und ich tanzten mit Zoe und den anderen, bis ich es schließlich schaffte, mich davonzustehlen, in der Hoffnung, Zoe dadurch die Gelegenheit zu geben, Jase für sich allein zu haben.

Ich schlüpfte durch die Schiebetüren unserer Aula, die heute als Ballsaal fungierte, auf den kleinen Balkon. Ehrlich gesagt war der Abend eine kleine Enttäuschung. Nicht das, was ich mir in all den Schuljahren davor ausgemalt hatte, und im Großen und Ganzen auch weniger bedeutend.

Als ich allein war, ließ ich meine Fassade fallen. Mein Lächeln fiel ab und die Einsamkeit, die ich normalerweise in Schach hielt, kam an die Oberfläche. Sobald ich mich geöffnet hatte, nahm ich ihn wahr. Und ich merkte, wie nah er war.

Ich richtete mich auf, ging zurück zu den Türen und schaute in den Ballsaal. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich ihn entdeckte, er stand am Eingang und trug einen Anzug und ein Hemd, das am Kragen offen war. Die Art und Weise, wie er diesen Anzug ausfüllte, hatte etwas – etwas, was mich glauben machte, dass das der ursprüngliche Grund war, weshalb Anzüge überhaupt hergestellt wurden. Sein Haar war zerzaust, hellbraun mit goldenen Strähnen, seine vollen Lippen waren gerade weit genug geöffnet, seine goldbraune Haut schrie danach, berührt zu werden und – das Beste von allem – seine gefährlich verführerischen grünen Augen blickten genau in meine.

Er ist hier.

Mein Herz setzte einen weiteren Schlag aus, und ich wollte mich in seine Arme werfen. Stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich langsam auf ihn zuging, während er sich mir näherte – die Hände in den Hosentaschen. Es fühlte sich an, als würde der ganze Raum verschwinden, sodass nur noch wir beide übrig waren, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt starrten wir uns an und meine Seele schrie nach seiner. Meine Augen verengten sich, und ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Warum bist du hier?«

Er zuckte zusammen. »Du lallst.«

»Versuch das mal zu ignorieren und beantworte meine Frage.«

Er dachte einen Moment nach, dann nickte er, als wäre er zu einem Entschluss gekommen. »Drei Gründe.« Er blickte in Jase’ Richtung, der am Rand der Tanzfläche stand, sich mit Zoe unterhielt und zu uns herübersah. »Erstens, damit er die Hände von dir in diesem Kleid lässt. Zweitens: Das letzte Mal, als ich dich aus einem Zimmer gehen ließ, ohne dir zu sagen, wie schön du bist, musste ich dich am Ende aus einem Vulkan fischen und du bist gegangen, bevor ich dir sagen konnte …« Er schluckte und sah mich von oben bis unten an. »Du siehst atemberaubend aus.« Er sah mich eindringlich an und die Stille dehnte sich aus, bis er blinzelte und wieder im Hier und Jetzt ankam. »Und drittens« – er lächelte teuflisch –, »wenn du schon mit jemandem Spaß hast und Salsa tanzt, dann besser mit mir.« In seinem Blick lag jetzt etwas Grundlegenderes, Raubtierhaftes und … definitiv etwas Herausforderndes.

Hölle noch mal. Was war nur in ihn gefahren?

Mein Mund war trocken. Ich stand da, erstarrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos, als Jase zu uns herüberkam, sichtlich unglücklich über Lincolns Ankunft.

»Alles okay, Vi?«

Ich schaute ihn mit großen Augen und offenem Mund an.

Was sag ich jetzt, was sag ich jetzt

Aber Lincoln sprach zuerst und hob die Hand, um mich aufzuhalten. »Jase, ich habe mich zu diesem Thema wohl nicht klar genug ausgedrückt. Dafür entschuldige ich mich. Das ist ganz und gar meine Schuld.«

Oh, Shit.

»Linc«, warf ich ohne Erfolg ein.

»Erlaube mir, das richtigzustellen«, fuhr Lincoln fort und trat ein wenig näher an Jase heran. »Wenn du sie noch ein Mal so anschaust, wie du sie anschaust, werde ich verdammt sauer. Wenn du sie unaufgefordert auf irgendeine Weise anrührst«, er warf mir einen Blick zu – ich war noch immer völlig erstarrt –, dann schenkte er wieder seine volle Aufmerksamkeit Jase, »werde ich für meine Taten keine Verantwortung übernehmen. Violet und ich sind zwar nicht zusammen, aber nicht dass irgendwelche Missverständnisse entstehen: Sie gehört zu mir, genau wie ich zu ihr gehöre.«

Oh.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir drei dort schweigend standen.

Es war Jase, der das Schweigen brach und sich an mich wandte: »Violet?«

Doch ich war hin und her gerissen zwischen meinem Zorn auf Lincoln, der beschlossen hatte, dass ausgerechnet jetzt der Zeitpunkt für große Erklärungen war, und meiner Liebe zu ihm, weil er gerade gesagt hatte, dass er zu mir gehörte.

Als hätte wie durch Zauberei die Beste-Freundinnen-Intuition eingesetzt, tauchte Steph auf. »Sorry, dass ich unterbreche. Wie ich sehe, läuft hier alles blendend, aber gerade ist Griffin gekommen – und zwar nicht zum Tanzen. Die Party ist vorbei.«

Lincoln sah bereits zur Tür. Dann wandte er sich an mich. »Wir sehen uns draußen.«

Ich nickte und beobachtete, wie er auf Griffin zuging, ohne auch nur einen weiteren Blick in Jase’ Richtung zu werfen.

So viel zum Thema Salsa.

»Das hat etwas mit diesem Kram zu tun, von dem du mir nichts erzählen darfst und worüber alle anderen, einschließlich meiner Schwester, Bescheid zu wissen scheinen, oder?«

Ich seufzte. »Tut mir leid, Jase. Mein Leben … mein Leben hat sich dieses Jahr sehr verändert. Was Lincoln gesagt hat, war wirklich unhöflich, aber …«

»Es stimmt?«

Ich schluckte, weil ich mich dafür hasste. »Ja.«

»Dann erklär mir mal, weshalb ihr zwei nicht zusammen seid.«

Sensationelle Frage.

»Es ist kompliziert.«

Er kam ein wenig näher und legte mir die Hand auf die Schulter. »Vi, wenn du Angst vor ihm hast – ich kann dir helfen.«

Vor Schreck bekam ich große Augen. »Nein, nein, das ist es nicht. Lincoln würde mich niemals verletzen.« Das war wirklich nicht das Problem.

Jase schüttelte den Kopf. »In was auch immer du da gerade verwickelt bist, ich kann dich da rausholen.«

Ich lächelte traurig – um seinetwillen und um meinetwillen. »Nein, kannst du nicht, Jase. Diese Zeit ist vorbei. So bin ich jetzt, und unsere Leben – deins und meins – sind zu verschieden. Tut mir leid.«

Dann küsste ich ihn auf die Wange und ging weg, wobei ich hoffte, dass das, was ich gesagt hatte, genug war, um ihn davon abzuhalten, mir wieder zu folgen. Ich wollte ihn nicht in Gefahr bringen – schlimm genug, dass ich das bereits mit Steph getan hatte.

Lincoln wartete draußen im Auto. Ich machte die Tür auf.

»Wo sind die anderen?«

»Unterwegs. Steig ein.«

Als wir losgefahren waren, murmelte Lincoln: »Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass sich die Dinge so entwickeln.«

Ich zog eine Augenbraue nach oben. Fast hatte ich erwartet, dass er so tun würde, als hätte das Gespräch eben nicht stattgefunden. »Und wie hätte der Abend nach deinen Vorstellungen enden sollen?«

»Mit dir auf dem Rücken …« Er zögerte, als er sah, dass mir bei diesem schmerzhaften Wortspiel fast die Augen herausfielen, dann beendete er kichernd den Satz: »Weil du zusammengebrochen bist, nachdem du zu viel Salsa getanzt hast.« Er hörte nicht auf zu grinsen.

»Ha, ha«, sagte ich, doch dann brach ich in Gelächter aus. Er saß neben mir und lachte. Dann ergriff er meine Hand und mir wurde klar, dass er mir gerade meine eine Nacht Spaß schenkte.

»Ich glaube, du täuschst dich, das wäre nämlich genau umgekehrt, Linc. Und ich würde um dich herum im Kreis tanzen. Tanzen ist nämlich mein Ding.«

»Du sagtest, du könntest nicht Salsa tanzen.«

»Ach so – aber du schon, oder was?«

Er sah total eingebildet aus und sein Lachen wurde leiser und geheimnisvoll, was herrlich war und Wärme verströmte. Meine Fingernägel krallten sich in den Sitz, meine Gefühle fuhren Achterbahn.

»Dir ist schon klar, dass du mich noch nie hast tanzen sehen.«

Stimmt. Normalerweise suchte er das Weite, wenn ich ihn dazu aufforderte. Plötzlich wollte ich ihn unbedingt tanzen sehen, mehr als alles andere. Ich wollte ein einziges Mal sehen, dass er sich entspannte.

Nervös leckte ich mir die Lippen. »Nun, ich glaube, jetzt bist du mir was schuldig – einen Tanz, meine ich.«

Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und lächelte immer noch, konzentrierte sich jetzt aber auf die Straße. »Das ist wohl wahr.«

»Darf ich mir den Zeitpunkt aussuchen, an dem ich die Schulden eintreibe?«

Er schluckte, seinem Gesicht nach zu urteilen war er jetzt auf der Hut. »In angemessenem Rahmen.«

Ich sah zum Fenster hinaus. Wenn es einen Gott gab, dann hasste ich ihn. Abgesehen von all diesen Engelelementen, mit denen ich ausgestattet war – ich meine, wer konnte das jemandem antun – so viele Qualen? Das war nicht richtig. Und nicht natürlich.

Vor unserem Wohngebäude hielt Lincoln an. Ich sah, dass alle anderen schon am Eingang warteten.

»Äh … Warum sind wir hier?«, fragte ich.

»Griffin hat nur gesagt, dass wir hierher kommen sollen«, sagte Lincoln. Er stellte den Motor ab und stieg aus.

Ich folgte ihm und wir gingen zu Steph, Zoe, Spence und Salvatore, die an der Tür standen.

Zoe zog die Augenbrauen nach oben, als sie mich sah.

»Tut mir leid«, sagte ich und zuckte zusammen, weil ich wusste, dass dieser Abend – und die Sache mit Jase – nicht nach ihren Vorstellungen verlaufen war.

Sie kaute einen Moment lang auf der Innenseite ihrer Wange herum, doch dann zuckte sie mit den Schultern und winkte ab. »Um ehrlich zu sein, war das alles sowieso ein wenig kompliziert«, sagte sie. »Nicht mein Ding.«

Wir lächelten uns gegenseitig an, doch ich sah einen Hauch von Traurigkeit über ihr Gesicht huschen. Oder war es Einsamkeit?

Steph warf Lincoln einen langen Blick zu. »Trägst du etwa Onyx’ Ralph-Lauren-Anzug?«

Lincoln sah sie verwirrt an. »Woher weißt du das?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist ein guter Shopping-Partner. Gewisse andere Leute« – dabei schaute sie mich an – »sind ja immer mit Trainieren beschäftigt.«

»Er hat es angeboten, und ich hatte keine Zeit mehr, nach Hause zu gehen und mich umzuziehen.« Er sah wieder mich an. »Dinge mussten erledigt werden.«

»Offensichtlich«, sagte Steph trocken. »Ich hoffe doch, du hast meinen Bruder in einem Stück gelassen.«

»Ich habe ihn nicht angerührt«, sagte Lincoln.

»Ich spreche von seinen Gefühlen«, erwiderte Steph. Sie folgte uns, als wir alle Richtung Aufzug gingen.

»Oh«, sagte Lincoln. Mehr bot er nicht zu seiner Verteidigung.