Kapitel Zwanzig

»Was du bist, kommt zu dir.«

Ralph Waldo Emerson

Aufgrund von Evelyns Informationen schickte der Rat Kundschafter aus, die am Hudson nach dem Anwesen suchen sollten, auf dem sich Lilith versteckt hielt. Dennoch machten wir in den folgenden Tagen nur wenig Fortschritte und unsere Frustration erreichte die Grenzen der Belastbarkeit. Wir machten uns Sorgen, was mit dem gefangenen Jungen und all den anderen gefährdeten Kindern passieren könnte.

Bisher nur Sackgassen.

Obgleich der Rat noch immer nicht bestätigen wollte, dass Lilith die Kinder entführt hatte, hatten Griffin und Lincoln alle Informationen über verschwundene Kinder, mutmaßliche Todesfälle, ungeklärte Entführungen und mehr gesammelt. Bis jetzt standen über sechzig Kinder auf der Liste, von denen sie annahmen, dass Lilith sie überall auf der Welt entführt hatte.

Das war tragisch genug für die Kinder und ihre Angehörigen, für die Grigori-Bevölkerung war es jedoch eine Katastrophe. Es gab schlicht und ergreifend zu wenige von uns, um die künftigen Neulinge vor der Vernichtung zu bewahren, wenn Lilith erfolgreich war.

Der Rat hatte es nicht gut aufgenommen, als er diese Informationen von Griffin erhielt. Drenson und Josephine waren so weit gegangen, Griffins Loyalität infrage zu stellen. Doch jedes Mal, wenn ich Lincoln und Griffin nach weiteren Einzelheiten fragte, reagierten sie zugeknöpft. Es war nicht so, dass sie es mir nicht sagen wollten, aber ich durfte die Akademie immer noch nicht verlassen und stand deshalb unter ständiger Beobachtung.

Und wie immer schützen sie mich.

Aber momentan hatte ich wenigstens noch andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren musste. Heute war mein offizieller Prüfungstag, und wenn ich bestand, konnte ich mit auf die Jagd nach Lilith und Phoenix gehen, und das hatte ich auch vor.

Ich war zusammen mit Rania im Trainingsbereich, sie war die einzige Person, die mich begleiten durfte. Offenbar war dieser Tag von großer Bedeutung, weil es die erste Grigori-Prüfung seit über drei Jahrhunderten war, bei der alle Ratsmitglieder anwesend sein würden.

Ich liebe es, etwas Besonderes zu sein.

»Warum tritt der Rat so selten zusammen?«, fragte ich Rania, nachdem ich mich aufgewärmt hatte.

»Seth und Decima erachten nur wenige Dinge ihrer Anwesenheit würdig. Sie geben zu manchen Themen ihre Stimme ab, haben aber in den letzten hundertfünfzig Jahren nicht auf ihren Ratsstühlen gesessen. Wil und ich halten uns normalerweise in London auf. Wir sind erst hierher gezogen, als …«

Ich nickte. Sie brauchte den Satz nicht zu beenden, weil ich wusste, was sie sagen wollte: Als das mit Nyla geschah.

Wir machten uns auf den Weg zum Hauptraum des Rates.

»Viele Leute werden zuschauen. Versuch, sie zu ignorieren. Drenson wird entscheiden, gegen wen du kämpfen wirst, deshalb kann ich dir nicht sagen, was dich erwartet, aber ich bin mir sicher, dass du gut sein wirst, auch wenn sie einen älteren Grigori auf dich loslassen.« Ich konnte mir ein Lächeln über ihr Lob nicht verkneifen. »Die mentalen Hindernisse werden schwieriger sein, aber du schaffst das. Am Ende wird der Rat für deine Stellung als offizielles Mitglied der Akademie und der Grigori-Bevölkerung stimmen.«

»Wie soll das funktionieren?«

Ranias Augen enthüllten ihre Besorgnis. »Drenson und Josephine werden sich wohl kaum zu deinen Gunsten aussprechen, das bedeutet, dass du Seth und Decima auf deine Seite ziehen musst, ebenso Valerie und Hakon, wenn du sicher sein willst, dass du gewinnst.«

»Was ist mit Adele?«

Rania dachte nicht nach, bevor sie antwortete: »Sie hat noch nie gegen Drenson gestimmt. Und das wird sie auch nie tun.«

Das verstand ich, auch wenn es mir nicht weiterhalf. Valerie hatte schon klargestellt, dass ich nicht zu ihren Lieblingen gehörte. Bei Hakon hatte ich in den letzten drei Wochen Geschichtsunterricht, und wir hatten uns nicht unbedingt angefreundet. Wahrscheinlich war das meine Schuld, weil ich seiner schieren Größe mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als den historischen Fakten, die er mir versucht hatte, näherzubringen. Was Seth und Decima anging – sie waren fast so etwas wie Urwesen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun konnte, um sie für mich zu gewinnen. Ich fürchtete mich schon davor, überhaupt in ihre Richtung zu schauen.

Schweigend gingen Rania und ich weiter, bis wir an der Doppeltür des Ratszimmers ankamen. »Bis du bereit?«

Ich nickte.

Rania stieß die Tür zu dem riesigen Raum auf und ich ging zu meiner offiziellen Grigori-Prüfung.

Drinnen stand Lincoln direkt an der Tür, und ich blieb nur kurz stehen, um ihm meinen Dolch zu geben. Es war nicht erlaubt, ihn während der Prüfung zu tragen, aber ich vertraute ihn niemand anderem an. Unsere Blicke trafen sich kurz und aus seinem sprach pure Zuversicht.

Rania setzte sich zu den anderen Ratsmitgliedern und ich nahm meinen Platz in der Mitte des Raumes ein. An den Wänden standen Grigori und noch mehr sahen von den Galerien über uns zu. Ich entdeckte Griffin, der bei Zoe und Spence stand. Ihre Versuche, ihre Besorgnis zu verbergen, waren nicht gerade von Erfolg gekrönt.

»Violet Eden«, sprach Drenson mich an.

»Ja«, sagte ich und versuchte, einen entspannten Eindruck zu machen.

»Du kommst heute aus eigenem Willen hierher, um die Grigori-Prüfung abzulegen?«

»Ja.«

Drenson war so förmlich, aber ich konnte die Herausforderung in seinem Blick erkennen.

»Bist du bereit, den Rat als oberstes Gremium anzuerkennen und die Entscheidungen, die hier und heute getroffen werden, zu befolgen?«

Hinter dieser Frage steckte eine ganze Menge und das wussten wir alle. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr für mich. Das Einzige, was ich tun konnte, war, die Prüfungen zu bestehen, wenn ich meinen Platz in der Grigori-Gemeinde halten wollte – und nicht nur meinen, sondern auch Lincolns. Als mein Partner war er direkt von allem betroffen, was mit mir geschah.

»Ja«, sagte ich, wobei mir Josephines Grinsen nicht entging.

Sie saß links von Drenson, trug einen stahlgrauen Hosenanzug und hatte ihr Haar zu einer Banane hochgesteckt, was zu weich für ihre Gesichtszüge wirkte.

»Dann lasst uns anfangen«, sagte Drenson.

Ein älterer Ausbilder trat vor und fing an, mir Bewegungen zuzurufen, die ich ausführen sollte. Nach Ranias ganzem Training hätte ich die Bewegungen im Schlaf beherrscht, aber ich führte jede einzelne mit aller Sorgfalt durch.

Als Drenson genug hatte, stand er wieder auf und gab einer Frau neben der Tür zu seiner Linken ein Zeichen. Als sie die Tür öffnete, traten drei ältere Grigori ein und stellten sich am Rand des Sparring-Bereichs auf. Alle trugen schwarze, weite Kampfkleidung. Der erste trug zwei traditionelle Samuraischwerter, der zweite zwei Grigori-Dolche, während der dritte seine leeren Hände hob.

»Wähl deine Waffe«, wies Drenson mich an.

Ehrlich gesagt war ich überrascht.

Ich darf mir tatsächlich die Waffe und den Gegner aussuchen?

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Rania sich auf ihrem Stuhl vorbeugte und mit Valerie und Hakon redete. Sie gestikulierte wild mit den Händen. Was immer sie wusste, es war nichts Gutes.

Okay. Sei klug.

Ich schaute mir die Waffen an. Zweifellos wäre der Dolch meine beste Wahl, aber andererseits war das auch für die meisten anderen Grigori die bevorzugte Waffe. Mit bloßen Händen zu kämpfen war okay, aber – wie Rania gesagt hatte – meine Stärke lag im Kampf mit Waffen.

Ich starrte die Samuraischwerter an. Ich konnte gut mit ihnen umgehen. Ich könnte besser sein, aber andererseits hatte ich immer das Gefühl, dass ich mehr tun könnte. Irgendwie fühlte es sich ganz natürlich an, ein Samuraischwert zu halten.

Es war ein Risiko, aber ich ging es ein und brachte mich gegenüber dem Grigori mit den beiden Schwertern in Position.

»Du hast deine Waffe gewählt?«, fragte Drenson.

»Ja.«

»Dann nimm sie dir und nimm deinen Platz im Ring ein.«

Ich tat, wie mir geheißen, nahm eines der Schwerter und drehte den Griff in meiner Hand, während ich an meinen Platz ging. Ich bemerkte, dass Rania alles andere als glücklich aussah.

Ich wartete darauf, dass sich der ältere Grigori mit dem anderen Schwert mir gegenüber aufstellte, aber er blieb, wo er war. Ich suchte mit Blicken den Raum nach Bewegungen ab, nach irgendeinem Hinweis darauf, wer mein Gegner sein würde.

Die Spannung im Raum war greifbar, alle fragten sich dasselbe. Mein Blick huschte zu Josephine hinüber, deren Grinsen noch breiter geworden war.

Endlich sah ich, warum.

Decima war aufgestanden. Sie ließ ihren Umhang zu Boden gleiten, der ihre weiße Kampfkleidung enthüllte.

Ich bin so gut wie tot.

Die Stille im Raum war ohrenbetäubend. Decima nahm sich das andere Schwert und schlich dann wie ein Tiger in den Ring und nahm gegenüber von mir Position ein. Plötzlich schien mir meine Waffenwahl gar nicht mehr so clever.

Mist.

Sie sah mich nicht an und hielt den Kopf gesenkt.

»Der Erste, der drei blutende Wunden geschlagen hat, hat gewonnen«, sagte Drenson. In seiner Stimme schwang Zufriedenheit mit. Das war genug für mich, um mich ein wenig aufzurichten. »Seid ihr beide bereit?«

Ich nickte. Jetzt oder später – das machte wohl keinen großen Unterschied. Josephine und Drenson hatten meine Prüfung sabotiert.

Ich spürte, wie Lincolns Kraft mich streichelte – seine Art zu zeigen, dass er bei mir war. Ich ließ sie einen Moment über mich fließen und aalte mich in der Stärke unserer Partnerschaft, bevor ich mich in mich selbst zurückzog, alles andere ausblendete und mich auf die bevorstehende Aufgabe konzentrierte.

Die Aufgabe, mir in den Hintern treten zu lassen.

Decima antwortete Drenson, indem sie sich breitbeinig hinstellte. Sie ließ ihr Schwert locker an der Seite herunterhängen und sah mich endlich an. Ihre Augen waren von blassem Gold wie die einer Katze und offenbarten die Grenzenlosigkeit ihrer Weisheit, ihrer Erfahrung und ihrer Raffiniertheit – kein ermutigender Anblick. Aber ich riss mich zusammen und erwiderte ihren Blick, auch wenn sie geradewegs durch mich hindurch schaute.

Etwas sagte mir, dass Decimas Interpretation von blutenden Wunden von der der meisten anderen Leute abweichen würde.

»Fangt an«, befahl Drenson.

Ich reagierte schnell und trat zurück, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Das war eine Defensivtaktik, aber ich hatte auch noch nie gesehen, wie Decima kämpfte. Ich musste sehen, wie sie sich bewegte, bevor ich sie angreifen konnte – Abstand zwischen uns zu schaffen, war da die einfachste Methode.

Decimas einzige Bewegung bestand darin, den Kopf ein wenig schief zu legen, als würde sie etwas hören, was weit entfernt war.

Wie beruhigend.

Wir standen einander gegenüber, wobei Decimas Miene eindeutig gelangweilt und meine definitiv verängstigt war. Aber sie rührte sich nicht.

Sie wartet darauf, dass ich zu ihr komme. Falsch gedacht.

Ich wusste genug, um mich nicht auf diese Weise manipulieren zu lassen. Wenn sie warten wollte, würde ich auch warten.

Ein paar Minuten vergingen, in denen wir uns einfach gegenseitig beobachteten, bis Decima wieder den Kopf neigte. Dann bewegte sie sich endlich. Wenn ich zuerst geglaubt hatte, sie bewegte sich wie ein Tiger, so stieß sie jetzt zu wie eine Schlange. Ihre Füße schienen nie den Boden zu verlassen, und doch war ihre Geschwindigkeit unglaublich. Ich war bereit gewesen und hatte den Angriff schon erwartet, aber darauf konnte einen niemand vorbereiten. Kurz bevor sie bei mir ankam, sprang sie nach oben, setzte über meinen Kopf hinweg und landete hinter mir. Bevor ich Zeit hatte, herumzuwirbeln, spürte ich den Stich ihres Schwerts, das eine Linie über meinen Rücken zeichnete.

Decima hatte die erste blutende Wunde verursacht und einen tiefen Schnitt auf meinem Rücken hinterlassen.

Ich hörte, wie die Grigori-Zuschauer kollektiv nach Luft schnappten, ihre Aufregung, Decima in Aktion zu sehen, kochte über.

»Eins zu null für Decima«, verkündete Drenson.

Mehr brauchte er nicht zu sagen, es gab keine Pause. Wir kannten beide die Regeln – der Kampf war erst zu Ende, wenn eine von uns gewonnen hatte.

Ich wich ein paar Schritte zurück, um mich zu sammeln, und tat dann alles, was ich konnte, um den Rest der Welt auszublenden.

Ich kann das.

Ich hatte den Vorteil, dass sie es nicht verstanden. Ich stammte von einem der Einzigen ab. Ich war der höchstrangige Grigori unter den Anwesenden, ob ich wollte oder nicht. Was immer sie konnte, sollte ich theoretisch noch besser können.

Und in ein paar Hundert Jahren stimmt das vielleicht, flüsterte eine höhnische Stimme in mir.

Wenn ich jetzt allerdings keine Möglichkeit fand, das, was mich so mächtig machte, anzuzapfen, dann würde ich mich in einer Welt der Schmerzen wiederfinden.

Ich ignorierte die Wärme, die sich auf meinem Rücken ausbreitete, und konzentrierte mich wieder auf Decima. Sie wartete wieder, eine Schlange, die sich zum Zustoßen bereit machte.

Ich griff auf meine innere Kraftquelle zu, beschwor meine Kraft herauf und schickte sie bis in meine Fingerspitzen.

Ich bin schnell. Ich bin stark.

Und niemand übertrifft oder besiegt mich.

Diese Gedanken kamen zu mir, als wären sie nicht meine eigenen. Mein Kämpferinstinkt übernahm die Kontrolle. Ich fühlte mich wie eine Kraft, die entfesselt werden wollte, und ich wusste, wie wichtig es war, die Kontrolle zu behalten.

Decima bewegte sich plötzlich zur Seite und dann wieder zurück zu mir. Dieses Mal bewegte ich mich auch. Und anstatt mich zu ducken, stellte ich mich ihr direkt in den Weg, ließ mich auf die Knie fallen, wälzte mich vorwärts und richtete mich auf, als sie vorbei war – gerade rechtzeitig, um mein Schwert auszustrecken und ihr in den Schenkel zu schneiden.

Dieses Mal keuchte das Publikum meinetwegen auf.

»Eins zu eins«, sagte Drenson, der den Schiedsrichter spielte.

Ich sprang wieder auf die Füße und war klug genug, nicht übermütig zu werden. Decima war bereits in Position und ignorierte die Wunde an ihrem Bein. Aber es war ein tiefer Schnitt, der wehtun musste.

Decima zahlte es mir schnell heim, ihr Schwert ritzte bei einem ihrer schnellen Schwünge ein wenig in meine Stirn. Aber Blut war Blut.

Damit hatte sie zwei Treffer. Drenson bestätigte die Punktzahl.

Die nächste Runde ging an mich, dank einem glücklichen Tritt in ihre Seite, der sie kurz aus dem Gleichgewicht brachte. Und da ich bereit war, meinen vorübergehenden Vorteil voll auszunutzen, fügte ich ihr mit meiner Klinge einen raschen Schnitt an ihrer Hüfte zu.

Wieder schnappte die Menge nach Luft. Dieses Mal jubelten einige. Ein paar Leute bildeten einen Sprechchor für Decima. Ein paar Verrückte brüllten meinen Namen. Eine Stimme stach unter den anderen heraus. »Komm schon, Eden! Hör auf herumzualbern – bring es zu Ende!«

Hi Spence.

Decima und ich nahmen wieder unsere Positionen ein. Dieses Mal wartete ich nicht. Ich bewegte mich, und verwickelte sie in einen traditionellen Schwertkampf. Sie war schnell, und Funken stoben, wenn die Klingen aufeinandertrafen. Mehrmals verfehlten wir uns knapp. Sie landete einen soliden Treffer in meinem Gesicht und ich hatte kaum Zeit, zur Verteidigung zu einem Tritt auszuholen, bevor der Schmerz aufloderte. Ich spürte ihn und ignorierte ihn.

Keine Zeit.

Gib nicht auf, Vi. Mach keinen Rückzieher!

Ich sah, wie sich Decima auf mich stürzte – ein perfekter Angriff, gegen den ich nichts ausrichten konnte. Als ich sie kommen sah, wusste ich, dass sie mich schlagen würde. Aber ich durfte ihr diesen Treffer nicht lassen, es war der entscheidende Punkt.

Ich konnte nur eins tun. Ich nahm mein Schwert in die andere Hand, und als sie in der Luft herumwirbelte und sich auf eine perfekte Linie mit meinem oberen Brustbereich brachte, riss ich den linken Arm nach oben, und meine Klinge ritzte in ihren ausgestreckten Unterarm, sodass es blutete.

Stille legte sich über den Raum. Wir hatten fast gleichzeitig getroffen.

Decima hielt inne, um sich die unbedeutende Wunde an ihrem Unterarm anzuschauen. Ich machte mir nicht die Mühe, an mir hinunter zu schauen. Ich spürte, wie sich mein Oberteil mit Blut vollsaugte. Aber das war im Moment gleichgültig.

Die Klinge auf diese Weise in ihren Arm zu stoßen, war ein schwacher Treffer gewesen. Zur Verteidigung brachte das gar nichts. Wenn es ein echter Kampf gewesen wäre, hätte sie mich mit ihrem Angriff wahrscheinlich ausgeschaltet, aber das war kein echter Kampf und blutende Wunde war blutende Wunde.

Drei zu drei.

Ich umklammerte mein Schwert, nicht bereit, es loszulassen, bis ich wusste, dass ich sicher war.

Was jetzt?

Decima übernahm es, diese Frage zu beantworten, und gab dem Publikum damit einen weiteren Anlass, nach Luft zu schnappen: Sie neigte den Kopf und streckte die Arme aus, auf denen ihr Samuraischwert lag, das sie mir damit anbot.

Verunsichert warf ich Rania einen Blick zu. Sie nickte mir zu und ich trat vor, um das Schwert aus Decimas Händen zu nehmen. Unsere Blicke trafen sich und sie legte den Kopf schief. Dieses Mal sahen mich ihre Augen wirklich.

»Kriegerin«, sagte sie.

Ich nickte.

Drenson stand abrupt auf. »Decima, es sollte einen Entscheidungstreffer geben.«

Sie schüttelte den Kopf, wobei sie ihn nicht einmal ansah. »Nicht nötig. Ihre Klinge berührte meine Haut, bevor meine die ihre berührte. Sie hat gewonnen.«

Ich ging den Kampf noch einmal in Gedanken durch. Alles war so schnell passiert, aber sie hatte recht – ich hatte sie ein wenig früher berührt. Sie war so ehrenhaft, es zuzugeben.

»Mit einer oberflächlichen Wunde«, spottete Drenson. »Nicht besonders beeindruckend.«

Decima warf mir einen letzten Blick zu, bevor sie an ihren Platz zurückkehrte. Seth musterte sie, als würde er prüfen, ob sie ernsthafte Verletzungen hatte.

»Du hast die Regeln aufgestellt, Drenson. Das Mädchen hat sich daran gehalten und gewonnen.« Wenn ich mich nicht täuschte, klang Decima leicht belustigt.

Wieder spürte ich Lincolns Kraft, dieses Mal am Rücken. Er stützte mich damit. Stolz.

Und dann …

Die stumme Menge brach in Jubel aus. Auf dem Balkon ertönten anerkennende Pfiffe von Spence und Zoe.

Es war überwältigend, aber nach einem raschen Blick um mich herum bewahrte ich die Fassung.

Vielleicht schaffe ich das doch noch.

Josephines Grinsen war ganz und gar verschwunden.

Die mentalen Prüfungen dauerten Stunden. Verschiedene Grigori präsentierten mir ihre Kräfte – Blendungen, Sinneswahrnehmungen, Barrieren –, die ich alle brechen und überwinden musste. Manche waren einfacher als andere, und ein paar davon, vor denen mich Griffin vorher gewarnt hatte, versuchte ich erst gar nicht. Josephine hatte sie absichtlich in die Prüfung mit aufgenommen, um herauszufinden, ob ich zu einem höheren Rang gehörte oder nicht. Aber ich musste sie nicht alle überwinden können, und mein dauerhafter Schutz war wichtiger, als in jedem einzelnen Test zu brillieren.

Die Prüfung zog sich hin und ich wurde allmählich müde. Ich hoffte, dass sie dem Ende zuging, doch dann sah ich, wie Josephine sich vorbeugte und Drenson ins Ohr flüsterte. Er nickte, flüsterte eine Antwort und stand auf.

»Als letzte Herausforderung testen wir deine Solidarität zu deinen Grigori-Kollegen. Bist du bereit?«, fragte er.

Rania und ich hatten nicht darüber gesprochen, worin dieser Test bestehen würde, aber es war nicht der erste Versuch, mich aus der Ruhe zu bringen.

Ich nickte. »Ich bin bereit.«

»Griffin Moore, würdest du bitte zu uns kommen?«

Die Menge verstummte wieder, als die versammelten Grigori Griffin beobachteten, der in die Arena ging. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das auch für ihn keine Überraschung. Er stellte sich neben mich und sah Drenson an.

»Wir stellen Violet drei Fragen. Sie werden von ihr beantwortet, und Griffin wird feststellen, wie aufrichtig die Antworten sind und die Wahrheit darin dem Rat mitteilen.«

Das war nicht gut. Griffin konnte die Wahrheit sehen, wenn sie da war, und konnte sie nur vollständig übermitteln, wenn sie tatsächlich wahr war. Da führte kein Weg dran vorbei, und je nachdem, welche Frage sie stellten, würden wir jetzt in Schwierigkeiten geraten.

»Habt ihr das beide verstanden?«

»Ich habe es verstanden«, sagte Griffin.

»Ja«, sagte ich.

»Violet Eden, kennst du den Rang des Engels, der dich gemacht hat?«

Mein Blick huschte zwischen Drenson und Josephine hin und her. Beide machten ein arrogantes, überlegenes Gesicht. Die übrigen Ratsmitglieder beobachteten uns neugierig.

Griffins Miene blieb passiv und ausdruckslos. Er spielte seine Rolle gut.

»Ja«, antwortete ich.

Ein paar Leute flüsterten, aber die meisten waren still.

Griffin wandte sich an den Rat. »Das ist ihre Wahrheit.«

Die Ratsmitglieder warteten, bis Adele nickte, bevor sie ebenfalls zustimmten. Ich fragte mich, inwiefern sich ihre Kraft von Griffins unterschied. Vielleicht gar nicht, und es gab einen anderen Grund, weshalb sie es Griffin machen ließen.

»Violet Eden, warst du in einer Beziehung mit dem Verbannten Phoenix, dem Sohn von Lilith, und hat dies zu einem Ereignis geführt, bei dem er deine Verletzungen heilte und dabei eine Verbindung zwischen euch beiden herstellte, die er manipulieren kann und durch das er dein Überleben in der Hand hat?«

Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollten. Nervös schluckte ich.

»Ja.«

Griffins Mund wurde zu einer schmalen Linie. »Das ist ihre Wahrheit.«

Der Rat nickte.

Letzte Frage.

»Violet Eden, stimmt es, dass du die Grigori-Schrift an Phoenix, den Sohn von Lilith, übergeben hast, nachdem er deine menschliche Freundin Stephanie Morris bedroht hat, und hast du dadurch die Leben aller Grigori gefährdet, um Stephanies Sicherheit zu gewährleisten?«

Shit.

Dafür gab es keine Entschuldigung. Jetzt ahnte ich, worauf das hinauslief, aber ich konnte für meine Entscheidungen keine Reue zeigen.

»Ja«, sagte ich aufrichtig.

Griffin wandte sich wieder dem Rat zu. »Das ist ihre Wahrheit. Ich muss jedoch hinzufügen, dass dies auch meine Wahrheit ist, da diese Entscheidung gemeinsam getroffen wurde und wir sie nicht bereuen.«

»Meine auch«, sagte Lincoln und trat aus der Menge.

Griffin nickte Lincoln zu und blickte dann zurück zum Rat. »Das ist unsere Wahrheit.«

Die neun Ratsmitglieder beobachteten mit wachsamen Augen den Austausch und akzeptierten Griffins Worte schließlich mit einem Nicken.

Drenson räusperte sich. »Die Prüfung ist beendet. Wir geben jetzt unsere Stimmen ab.«

Rania stand als Erste auf. »Bestanden«, sagte sie, wobei sie ihr Lächeln nicht unterdrückte.

Wil stellte sich neben sie. »Bestanden«, sagte er.

Das waren die einzigen beiden Stimmen, derer ich mir sicher war. Ich hielt den Atem an.

Valerie stand auf. Ich vermutete bereits, wie ihr Urteil aussehen würde. Ihr hatte mein billiger Trick gegenüber Decima bestimmt nicht gefallen. »Durchgefallen«, sagte sie.

Hakon stand auf. »Durchgefallen«, sagte er und unterstützte damit seine Partnerin.

Seth stand auf. »Bestanden.«

Decima stand auf. »Bestanden.«

Ich bewahrte einen neutralen Gesichtsausdruck, auch wenn ich es bereits als einen Sieg betrachtete, ihre Stimmen bekommen zu haben. Irgendwie war ihre Anerkennung mehr als nur ein einfacher Schiedsspruch.

Als Nächstes stand Adele auf. Sie sah mich einen Moment lang an, danach Drenson. Dann schürzte sie die Lippen. »Durchgefallen.«

Drenson sah Josephine an, die sich ihre Stimme eindeutig bis zum Schluss aufheben wollte. Damit war dann auch klar, wer wirklich die Kontrolle hatte, denn Drenson stand auf.

»Durchgefallen«, sagte er. Seine Stimme wurde hinaus in die Arena getragen.

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als sich Josephine langsam von ihrem Platz erhob und vortrat, sodass sie der ganze Raum gut sehen konnte.

»Violet, zweifellos hast du gut gekämpft. Decima ist unbesiegt, und während dies auch so bleibt, hast du trotzdem viele Fertigkeiten gezeigt und den Willen bewiesen, diese einzusetzen. Keine Seele in diesem Raum könnte bestreiten, dass es eines Tages nur dein eigener Partner an Geschicklichkeit im Kampf mit dir wird aufnehmen können.«

Hat sie mir gerade ein Kompliment gemacht?

»Aber eine Grigori zu sein heißt mehr als nur kämpfen zu können. Grigori müssen in der Lage sein, das Gemeinwohl über alles andere zu stellen. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Leute, die du liebst, an erster Stelle stehen, noch vor dir selbst, noch vor allen anderen. Aber was ist dann mit allen anderen, Violet? Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem deine Entscheidungen den Rest der Welt teuer zu stehen kommen.« Josephine bearbeitete die Menge, sie ließ ihren Blick im Raum umherschweifen und nickte einigen wichtigen Mitgliedern der Akademie zu. Ihre Worte ließen ihr Urteil vorausahnen. Auch wenn sie mich hasste, auch wenn ich wusste, dass sie damit nur ihre eigenen Interessen vorantrieb – das Schlimmste war …, dass sie recht hatte.

»Darüber hinaus können wir eine anonyme Anklage nicht ignorieren, die gegen dich erhoben wurde – eine Anklage, deren Wahrheitsgehalt du bis heute noch nicht widerlegen konntest.«

Was zum …?

»Als Mitglieder des Rates müssen wir die Folgen einer Behauptung in Betracht ziehen, nach der du tatsächlich noch immer mit dem Verbannten Phoenix verbunden bist und ihm sogar bei seinen Versuchen geholfen hast, Lilith wieder auferstehen zu lassen und die Grigori-Schrift zu verwenden.«

Mir klappte der Mund auf. »Wer hat das gesagt?«, rief ich. »Das ist nicht wahr! Das hätte ich niemals getan. Und für den Fall, dass du es vergessen hast – es ist noch gar nicht so lange her, dass er mich in einen Vulkan geworfen hat. Das weist ja wohl kaum darauf hin, dass wir im selben Team spielen!«

Meine Worte stießen auf taube Ohren, Josephine hob herablassend die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Am liebsten hätte ich geschrien.

»Ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl«, wandte sie sich wieder an den Raum. »Violet Eden ist einfach keine von uns. Deshalb muss ich für ›Durchgefallen‹ stimmen.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Zustimmendes Gemurmel, erschrockene Laute – Streitereien entflammten. Ich stand einfach nur schweigend da, während die Ratsmitglieder nacheinander den Raum verließen. Rania und Wil sahen mich entschuldigend an, während sie als Letzte hinausgingen.

Das war’s.

Prüfung beendet.

Ich hatte versagt.

Ich drehte mich auf dem Absatz um und verließ gemessenen Schrittes den Raum, wobei ich keinen Einzigen ansah. Die Regeln galten noch.

Ich laufe nicht davon.

Was nicht hieß, dass ich nicht durch die Kommandozentrale und über die Skywalks in mein Zimmer hetzte, während ich die ganze Zeit aufsteigende Tränen unterdrückte. Als ich dort ankam, schnappte ich mir meinen Rucksack und fing an, Dinge hineinzustopfen. Ich war zwar durchgefallen, aber das hieß auch, dass ich nicht mehr länger hierbleiben musste. Und nur weil ich nicht Teil ihrer albernen Akademie war, bedeutete das nicht, dass ich keine Grigori war. Ich konnte ganz gut ohne sie jagen.

Meine Tür wurde aufgerissen. Ich hörte nicht auf zu packen. Ich hatte schon gespürt, dass er kam.

»Sie haben einen Fehler gemacht und jeder weiß das. Josephine wollte dich durchfallen lassen. Griffin wird das wieder in Ordnung bringen.«

Ich packte weiter. Ich konnte nicht einmal sprechen.

Plötzlich war er bei mir, seine Arme schlangen sich von hinten um mich. Er fing mich auf, als ich vor schierer Erschöpfung zusammensackte.

»Du warst fabelhaft. Sie können gar nicht mehr aufhören, darüber zu reden, wie du es mit Decima aufgenommen hast.«

Ich lehnte mich an ihn, ignorierte das Stechen, das von dem Schnitt in meinen Rücken kam, und saugte stattdessen alles, was er war, in mich auf.

»Es tut mir leid, Linc«, sagte ich und schämte mich dafür, dass ich auch seine Zukunft zerstört hatte.

Er beschwichtigte mich, seine Arme legten sich fester um mich und er nutzte den Augenblick, um die schlimmsten meiner Wunden zu heilen.

»Es gibt nichts, wofür du dich …«

Doch er wurde unterbrochen, als eine Explosion das Gebäude erschütterte. Lincoln schleuderte mich zu Boden und warf sich auf mich. Alles bebte von der Wucht der Explosion. Sobald das Vibrieren nachließ, hörten wir mehrere kleinere Explosionen, die weiter entfernt waren. Aber da waren wir schon auf den Füßen und rannten in ihre Richtung – zurück zur Kommandozentrale.