Kapitel Zweiunddreissig
»Du hast mir ja Gift gegossen
Ins blühende Leben hinein.«
Heinrich Heine
Donnernde Geräusche drangen von oben zu uns herunter. Die Kinder drängten sich zusammen. Die Trommeln schienen den Herzschlag sich ausbreitenden Unheils perfekt wiederzugeben.
Lilith machte aus meiner Marter eine ziemliche Show.
Bestimmt hat sie Eintrittskarten verkauft.
Ich tröstete die Kinder, so gut ich konnte. Ich sagte ihnen, dass die Wachen kommen würden, um mich zu holen, dass das in Ordnung war und sie keine Angst zu haben brauchten. Ich versprach ihnen, dass sie von jemand anderem abgeholt würden.
Aus irgendwelchen Gründen vertrauten sie mir, als ob die Flamme all ihrer Ängste durch meine Gegenwart ausgelöscht wäre.
Dadurch fühlte ich mich elend. Und schuldbewusst.
Ich wusste, ich würde unmöglich alle retten können, aber ich musste es versuchen. Für alles andere musste ich darauf vertrauen, dass Phoenix, Evelyn und Griffin eine Lösung finden würden.
Ich hörte Schritte und stand auf, weil ich nicht schwach und ängstlich wirken wollte.
Olivier war es, der mich abholte. Phoenix hatte es wohl als zu riskant erachtet selbst zu kommen. Eine Welle der Angst überkam mich, Lilith könnte seinen Verrat schon entdeckt haben. Ich legte mir die Hand auf den Bauch, um mich zu beruhigen. Wenn Lilith es wüsste, dann hätte sie ihn sofort umgebracht und meine Wunden wären im Moment seines Todes aufgebrochen. Solange ich unversehrt war, wusste ich, dass er lebte.
Olivier freute sich, dass er derjenige war, der mich zu den Festlichkeiten bringen durfte.
»Niemand hat mir gesagt, dass es ein Kostümfest ist«, sagte ich mit höhnischem Grinsen. Er sah aus, als hätte er eine Art Draculakostüm an – mit langem schwarzem Umhang. Das war sogar noch lächerlicher als Nox’ Lederkluft. Außerdem ängstigte mich Olivier weit weniger als Nox.
Olivier schloss meinen Käfig auf und zerrte mich am Arm heraus.
»Das macht nichts«, erwiderte er, während sein grausames Lächeln immer breiter wurde. »Wir malen dich gleich rot an.«
Die Kinder schrien auf, als er mich brutal zur Treppe stieß. Es machte mich so wütend, sie zittern zu sehen. Die Kinder durften nicht glauben, wir seien hilflos. Ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken, ließ ich meine Kraft auf Olivier los. Sie bewegte sich gierig von mir zu ihm, während mein Amethystnebel die unmittelbare Umgebung einhüllte. Die meisten der Kinder konnten das glitzernde Violett nicht sehen, aber ich merkte, dass einige verwundert die Hand vor den Mund schlugen.
Huch. Manche können ihn bereits sehen.
Oliviers Körper war wie erstarrt und ich hielt ihn gefangen.
Er beobachtete mich, während er sich anstrengte, wieder die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Doch ich war stärker als er. Ich beugte mich nah zu seinem Ohr.
»Ich könnte dich hier und jetzt vernichten oder noch schlimmer: dich in einen einfachen Menschen verwandeln.«
Seine Pupillen weiteten sich vor Furcht. Ich sah die Kinder an und ging langsam um Olivier herum.
»Noch ist nichts verloren.« Ich stieß meinen Gefangenen und machte so gut es ging eine Show daraus. »Sie sind Furcht einflößend, ja.« Ich schenkte Katie ein beruhigendes Lächeln. »Aber das bin ich auch.« Simon machte große Augen, unsere Blicke trafen sich, bevor ich meine Kraft zurückzog und Olivier freigab. »Sei stark«, ermahnte ich Simon.
Olivier sprang geradezu in die Luft. Seine Faust holte aus, sein Arm zitterte vor Verlangen, mich zu schlagen. Ich schnalzte beinahe herausfordernd mit der Zunge, aber er ließ seine Hand fallen – seine Angst vor Liliths Zorn war zu groß. Er beließ es dabei, mich noch mal auf die Treppe zuzustoßen.
Ich warf einen Blick zurück zu Simon. Er nickte tapfer.
Aus diesem Jungen wird mal ein hervorragender Grigori.
Das würden sie alle. Ich würde mit meinem letzten Atemzug dafür sorgen, dass sie ihre Chance bekamen.
Olivier schubste mich alle paar Stufen, bis wir oben ankamen, wo vier weitere Verbannte warteten.
Sie hatten eine Requisite bei sich.
»Originell«, murmelte ich, während ich mir das Kruzifix anschaute.
Olivier nahm sich Zeit, um mich mit dünnen Seilen an das schwere Holzkreuz zu fesseln.
Es fühlte sich in so vielerlei Hinsicht falsch an, dass sie das taten, und noch verstörender war die schiere Befriedigung, die sie daraus zogen.
Die Seile schnitten in meine Handgelenke und Fußknöchel, als mich die Verbannten auf ihre Schultern hoben und mit mir in den Hauptraum stolzierten. Ich war der Decke zugewandt und konnte nicht viel sehen, aber ich hörte das Grölen und die Buhrufe. Ich fühlte mich wie ein Beutetier, das zum Grill gebracht wird.
Schließlich wurde ich an ein Gestell gelehnt, sodass ich Lilith und Phoenix zugewandt war, die hinter ihrem Thron standen. Vor ihr stand ein kleiner goldener Tisch. Bevor ich mich zusammenreißen konnte, stockte mir der Atem, als ich den modernen automatischen Bogen sah und reihenweise kleine Pfeile, die so dünn waren wie Stricknadeln, aber nicht länger als zehn Zentimeter.
Lilith trug ein tief ausgeschnittenes goldfarbenes Abendkleid mit Einblicken an den Seiten, die ihre Kurven zeigten und nur wenig der Fantasie überließen. An jeder anderen hätte es vulgär ausgesehen – aber sie sah damit aus wie eine Göttin. Ihr goldenes Haar hatte fast die gleiche Farbe wie ihr Kleid, und ihre Lippen wurden durch einen lebhaften roten Lippenstift hervorgehoben. Das einzige andere Accessoire waren die Ketten, die von ihrem Thron zu den Halsbändern der menschlichen Sklaven fielen.
Ein Wimmern entfuhr mir, als Lincolns Kraft mich durchströmte und ich die Schatten sah. Jeder Mensch war eingehüllt von dichten, bösartigen Schatten, die von fast ölig-glitschiger Beschaffenheit waren und die bestätigten, dass ihr Wille von einem Verbannten verunreinigt war. Ich schauderte.
Links von Lilith entdeckte ich endlich Evelyn. Sie war mit silbernen Ketten gefesselt, auf beiden Seiten von ihr standen Verbannte, die sie festhielten. Sie war schlimm verprügelt worden, nur ihre Augen waren unversehrt. Mein Zorn kochte hoch, und ich konnte ihn erst beherrschen, als sich unsere Blicke trafen. Evelyns Körper mochte unter den Strapazen zusammengesackt sein, doch ihre Augen waren so glühend wie immer, als sie ihren Blick auf mich richtete. Ich brauchte kein Seelenband, um die Liebe zu spüren, die sie mir sandte.
Ich schaute weg, sonst wäre ich zusammengebrochen.
Endlich ließ ich meinen Blick zu der Stelle wandern, die ich absichtlich vermieden hatte, seit ich in den Raum gekommen war. Rechts von Lilith war Lincoln angekettet. Er stand aufrecht und furchtlos da, obwohl auch er, genau wie Evelyn, heftig geschlagen worden war. Dem Winkel nach zu urteilen, in dem er seinen Arm hielt, war seine Schulter vermutlich wieder ausgekugelt. Trotzdem war seine Stärke so überwältigend, dass ich mich dabei ertappte, wie ich ihn kurz anlächelte. Er nickte mir kurz zu, als sei das genau die richtige Einstellung.
Der Ballsaal war angefüllt mit Zuschauern. Ich schob meine Sinne nach außen und stellte fest, dass die Verbannten der Finsternis definitiv in der Überzahl waren. Jetzt wo Lilith das Kommando hatte und Phoenix als ihr Stellvertreter angesehen wurde, fragte ich mich, ob die Verbannten des Lichts ihren Waffenstillstand mit den Verbannten der Finsternis wirklich fortsetzen wollten. Ich malte mir aus, wie sie bald zu ihren alten Gewohnheiten zurückfinden und sich gegenseitig bekämpfen würden.
Der Mann, der auf der anderen Seite von Liliths Thron stand, erregte meine Aufmerksamkeit. Er schien nicht hierher zu gehören. Er war klein und unscheinbar, hatte eine Glatze und trug eine Brille mit Drahtgestell. Er hatte einen konservativen grauen Anzug an und eine cremefarbene Krawatte. In der Hand hatte er eine Aktentasche, seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert – ich konnte ihn überhaupt nicht einordnen. Er war ganz sicher ein Verbannter, was schon seltsam genug war – ich hatte noch nie einen gesehen, der so … durchschnittlich aussah, normalerweise sahen Verbannte aus wie Männermodels.
Er erwiderte meinen Blick, in seinem Gesicht zeichnete sich nichts als ein Hauch von Neugier ab. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf.
Irgendetwas an ihm stimmt absolut nicht.
Die Trommeln wurden unerbittlich weitergeschlagen, und Verbannte begannen, im Rhythmus der Trommeln auf mich zuzukommen. Einer nach dem anderen rückte näher und streckte seine Kraft nach mir aus. Sie vereinten ihre Kräfte. Ich wusste nicht, was sie vorhatten, aber mein Herz begann vor böser Vorahnung zu hämmern.
Sie wollen, dass ich Angst bekomme.
Sei stark. Bleib stark.
Nacheinander verwandelten sich die Verbannten in ein Wesen ihrer Wahl. Erst stieß etwas Fledermausartiges auf mich herunter. Dann strich etwas mit großen Klauen so nah an mir vorbei, dass ich spürte, wie es meinen Arm streifte. Ein weiterer kam, er sah aus wie ein Wasserspeier, dann noch einer, ein Drache. Sie waren gnadenlos. Ein gehörnter Teufel, bedeckt mit orangefarbenem Feuer, ein Wesen aus blendendem weißem Licht mit einer gigantischen, furchterregenden Spannweite, lichterloh brennend, ein Vampir, eine menschliche Schlange, ein märchenhafter Geier … Alle waren sie direkt neben, hinter und über mir!
Ich kann nicht atmen!
Sie umgaben mich, drangen in meine Gedanken – flüsternd und spottend. Immer mehr kamen – Wesen von heimtückischer Finsternis oder hellstem Licht, was nicht weniger Furcht einflößend war. Keines von ihnen war für das menschliche Auge, keines für diese Welt gedacht.
Mein Atem ging flach und schnell, und der Schrecken fing an, mich aufzufressen, da sie meine Gedanken an sich rissen. Sie würden nicht aufhören.
Ich zwang meinen Kopf dazu, für mich zu arbeiten, und rief meine Kraft. Sie floss aus mir heraus und durch den Saal. Die Verbannten fauchten und kamen näher, sie flohen nie vor Angst, auch wenn sie spürten, wie sich meine Kraft aufbaute.
Ich setzte meine Kraft dazu ein, meinen Willen freizusetzen und dem Saal wieder sein wahres Aussehen zu verleihen. Die Verbannten nahmen wieder ihre menschliche Gestalt an und ich konzentrierte mich aufs Atmen. Ich hatte wieder klare Sicht auf Lilith. Sie sah mich fasziniert an.
Dann klatschte sie in die Hände. Die Trommeln verstummten und die Verbannten zogen sich auf einen unausgesprochenen Befehl hin widerwillig an die Seiten des Raumes zurück.
»Du weißt nicht, wer dich gemacht hat, oder?«, fragte Lilith.
Ich weigerte mich zu antworten. Ich wollte nicht, dass sie erfuhr, wie wenig ich eigentlich über die Einzigen und den Engel, der mich gemacht hatte, wusste.
Sie stieß ein Lachen aus, das durch den Saal hallte.
»Bist du bereit?«, fuhr sie fort.
Das war das Stichwort. »Sobald ich deinen Eid habe«, sagte ich.
Liliths Augen weiteten sich kaum merklich, aber sie lächelte schnell wieder. »Cleveres Mädchen. Worauf möchtest du meinen Eid?«
»Darauf, dass die Kinder, die heute Abend gerettet werden, nie wieder von deiner Hand oder unter deinem Befehl gejagt oder verletzt werden.«
Neugierig neigte sie den Kopf. »Du bist meine Gefangene. Warum sollte ich mich an eine solche Forderung halten?«
Ich bedachte sie mit einem scharfen Lächeln. »Weil du willst, dass ich mich an deine Bedingungen halte. Du willst mir meinen freien Willen nehmen.«
Ihre Augen wurden schmal.
»Sei gewarnt, ich habe es satt, meine Wünsche irgendwelchen Einschränkungen zu unterwerfen. Zu lang schon muss ich mich an Schwüre halten, die ich einst den Engeln gegeben hatte. Anhänger und Halsketten haben mir viele verpasste Gelegenheiten beschert.« Sie schob das Kinn nach vorne. »Ich habe nicht vor, mich darauf einzulassen.«
Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich daran dachte, wie viele Kinder durch Anhänger wie das Amulett, das meine Mutter mir hinterlassen hatte, verschont geblieben waren.
Jetzt wurden meine Augen schmal. »Du hast es durch Phoenix bereits geschworen. Willst du etwa hier vor allen Leuten dein Wort zurücknehmen? Hast du nicht vielen Verbannten, die heute hier sind, Belohnungen und Gewinne versprochen? Erwartest du, dass sie dir folgen, wenn dein Wort so wenig Gewicht hat?« Ich sah mich im Saal um. »Das könnte dich teuer zu stehen kommen.«
Der kleine Mann mit der Aktentasche räusperte sich. Liliths vogelartiges Starren wandte sich ihm ruckartig zu, doch das schien ihm nichts auszumachen.
»Ich für meinen Teil hätte gern eine Garantie auf dein Wort«, sagte er. »Denn ich habe eine Menge dafür gezahlt.«
Zorn verhärtete Liliths Gesichtszüge. Etwas an dem Aktentaschen-Mann verunsicherte sogar sie, wodurch er noch viel beängstigender wirkte.
»Ich schwöre« – sie spie jedes Wort einzeln aus –, »dass keinem Kind, das heute Nacht freigelassen wird, weiterer Schaden durch mich oder meine Leute zugefügt wird. Und jetzt soll irgendjemand sie erschießen, zur Hölle noch mal!«
Olivier ging rasch auf den goldenen Tisch zu, aber Phoenix war schon da und hatte Pfeil und Bogen in der Hand.
Lilith lächelte bei diesem Anblick. »Mein Sohn?«
Phoenix nickte. »Ich glaube, dieses Recht habe ich mir verdient«, sagte er und warf einen finsteren Blick in meine Richtung. Das wirkte einen Augenblick lang so echt, dass ich fast an ihm gezweifelt hätte.
»Ich muss gestehen, dass mir wirklich gefällt, was du in ihm hervorbringst«, sagte Lilith zu mir und nahm ihren Platz auf dem Thron ein.
Ich wappnete mich für das, was jetzt kommen würde.
»Lilith, das ist eine Sache zwischen dir und mir!«, schrie Evelyn. »Das ist es schon immer gewesen! Lass mich ihren Platz einnehmen!«
Mein Herz zog sich für meine Mutter zusammen. Auch wenn ihre Worte nutzlos waren, so war es doch ihre Art und Weise, mir zu sagen, dass sie mich liebte.
Lilith weidete sich schadenfroh an Evelyns Flehen, ihr Lächeln war milde. »Da hast du recht, Evelyn. Aber du hast sie da mit hineingezogen, und jetzt kannst du für den Rest deiner Tage mit dem Wissen leben, dass das alles deine Schuld war.«
Phoenix, der seine Rolle perfekt spielte, zögerte nicht. Er legte den ersten Pfeil an und bezog etwa fünf Meter von mir entfernt Position. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine schokoladenbraunen Augen sahen mich eindringlich an, während er den Bogen hob und zielte.
Der erste Pfeil durchbohrte meinen Schenkel.
Die Verbannten fauchten.
Die Pfeile waren klein, aber heftig. Ich spürte, wie sich die scharfe Spitze in den Muskel grub, der sich um sie zusammenzog. Ich unterdrückte einen Schrei.
Phoenix legte einen weiteren Pfeil an und zielte.
Der Bogen gab ein dumpfes Geräusch von sich, bevor der Pfeil auf mich zuraste. Er bohrte sich in meinen Oberarm. Eine Träne rollte mir über die Wange, aber ich weinte nicht.
Unerschütterlich lud Phoenix nach, genau wie wir das geplant hatten. Je schneller er schießen konnte, desto mehr Kinder würden wir retten.
Der dritte Pfeil durchbohrte meine Schulter und brannte meinen ganzen Rücken hinunter.
Das macht drei. Drei Kinder sind frei.
Nach den ersten fünf Schüssen fingen die Verbannten an zu jubeln, angestachelt vom Anblick meines Blutes, das zu Boden tropfte.
Ich blieb konzentriert und öffnete den Zugang zu meinen heilenden Fähigkeiten. Das war ungünstig, denn die Pfeile steckten immer noch in mir, aber es ging eher darum, mich zusammenzuflicken und die Blutungen zu verlangsamen, als mich zu heilen.
Darüber hinaus konnte ich Lincolns Kraft spüren, die gegen mich drückte und Hilfe anbot. Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf.
Noch nicht.
Als Phoenix erneut einen Pfeil anlegte, sah ich, dass jemand den Saal betrat. Ich erkannte die schalen Sinneswahrnehmungen, die ausschließlich von ihm ausgingen.
Onyx war gekommen.
Was bedeutete, dass sie es geschafft hatten, ihn über Dapper zu erreichen und Liliths Einladung zu überbringen.
Onyx ging über den schwarzen Teppich, er sah mich kein einziges Mal an, sondern hatte nur Augen für Lilith. Als er das Ende des Laufstegs erreichte, ließ er sich elegant auf ein Knie sinken.
»Onyx«, sagte Lilith singend und gab ihm das Zeichen aufzustehen. »Es ist lange her, seit sich unsere Wege gekreuzt haben. Als das Mädchen mir erzählt hat, es wäre ihr gelungen, einen der unseren zu bezwingen, wäre ich nie daraufgekommen, dass du das sein könntest. Ist sie wirklich so mächtig, oder warst du nie so großartig?«
Onyx zögerte nicht. »Ich war ganz bestimmt großartiger, als dir je bewusst war.«
Lilith lächelte. »Dann musst du viel von ihr halten.«
»Nein.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Sie hatte nur unverschämtes Glück.« Er tat, als sei er gelangweilt. »Welche Dienste werden hier von mir benötigt? Ich mache mir nichts daraus, Folterungen zuzuschauen, wenn ich nicht derjenige bin, der davon profitiert.«
Lilith schien das zu begrüßen. »Sie hat dich dazu auserkoren, ihre Herde anzuführen.« Sie lachte. »Für jeden Pfeil, den sie aushält, wird eines der Kinder, die ich gefangen halte, verschont. Sie hat dich dazu auserwählt, sie in Sicherheit zu bringen.«
Onyx nickte, noch immer sah er nicht in meine Richtung. »So sei es.«
»Aber …«, sagte Lilith, ihre Stimme klang jetzt schrill, »ich habe einen Alternativvorschlag für dich.«
Oh Gott, was hat sie vor?
Ich spürte, wie Lincolns Anspannung stieg und sah, wie sich Phoenix’ Hände zu Fäusten ballten.
»Und was wäre das?«, fragte Onyx, der erstmals Anzeichen von Neugier zeigte.
»Ich kann dir deine Kraft zurückgeben – in ihrer ganzen Herrlichkeit. Ich kann wieder einen echten Verbannten aus dir machen.«
Ich hörte, wie Onyx nach Luft schnappte. »Und welchen Preis hätte ein solches Geschenk?«
Lilith machte ein paar kleine Schritte auf Onyx zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kein Befehl wird erteilt werden, weil du nicht als einer der meinen unter meinem Kommando stehst.« Lilith zwinkerte mir zu. »Wenn dir allerdings die Kinder übergeben werden, solltest du, was deine Loyalität anbelangt, eine Entscheidung treffen – vielleicht so, dass ich das Gefühl bekomme, du hättest dich deiner Kraft wieder würdig erwiesen.«
»Und woher hast du plötzlich die Fähigkeit, meine Macht wiederherzustellen?«, fragte Onyx.
»Ich bin die erste Verbannte der Finsternis. Zweifelst du meine Macht an?«, fragte Lilith mit einem unfreundlichen Lächeln.
»Nein«, erwiderte Onyx. Er schien über seine Entscheidung nachzudenken. »Du willst, dass ich die Kinder töte?«
Lilith faltete ihre Hände. »Wenn es dein Wunsch ist, Onyx. Wie ich gehört habe, warst du derjenige, der mit der Suche nach der verlorenen Schrift begonnen hat? Ist das nicht genau das, wovon du geträumt hast?«
Oh, das war es. Onyx hatte mit der Suche nach der Schrift angefangen. Als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, war er unbeschreiblich bösartig gewesen und hatte versucht, mich ohne zu zögern umzubringen. Er lechzte nach Macht wie kein anderer. Als ihm jetzt seine höchste Versuchung zu Füßen gelegt wurde, fürchtete ich mich vor seiner Entscheidung.
»Und wenn ich nicht wünsche, meinen früheren Traum zu erfüllen?«, fragte Onyx.
Ich hielt den Atem an, griff nach dem letzten Strohhalm der Hoffnung.
Liliths Stimme wurde hart. »Wenn du so schlimm verdorben bist, dass dies der Fall ist, dann ist aus dir eines der Nagetiere geworden, die du so verachtet hast. Aber ich habe meinen Eid geschworen und werde mich nicht dagegen auflehnen.«
Onyx deutete in meine Richtung. »Darf ich mich deinem Opfer nähern?«
»Warum?«
Er stand auf und machte einen Schritt auf das goldene Tischchen zu. Er nahm einen Pfeil und legte ihn sich auf den Handteller. Dann drehte er sich zu Lilith um und zuckte mit den Schultern. »Ich würde gern einen dieser Pfeile selbst hinzufügen.«
Mein Herz sank.
Lilith strahlte. »Unbedingt!«
Onyx kam auf mich zu. Er hielt sich nicht mit dem automatischen Bogen auf. Er würde es von Hand erledigen wollen.
Als er näher kam, fing er an zu sprechen. »Dreizehn ist eine Glückszahl.«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Er nahm den Pfeil in seiner Hand und brachte ihn an meinem Handgelenk in Stellung, direkt über dem Seil an meinen silbernen Malen. Dann rammte er mir mit seiner ganzen Kraft, derer sein menschlicher Körper fähig war, den Pfeil ins Handgelenk.
Ich schrie.
Doch Onyx beließ es nicht dabei. Er führte seine Hand zu der Wunde und nahm mit der Fingerspitze mein Blut auf. Er hielt es kurz hoch, sodass nur ich die kleinen silbernen Flecken sehen konnte, mit denen sich das Rot vermischte.
»Ich habe auf meinen Reisen eine interessante Geschichte gehört«, flüsterte er, nachdem er sich dicht zu meinem Ohr gebeugt hatte. »Euer Zaubertrank hat noch einen anderen Namen: ›Der Atem des Jenseits‹. Sie sagen, es sähe aus wie Quecksilber, wenn es seine irdische Form annimmt.« Er blickte auf mein marmoriertes Blut an seinem Finger, er runzelte die Stirn und seine Stimme wurde eindringlich. »Ohne dich, kann sie nicht aufgehalten werden. Du musst überleben.«
Der dreizehnte Inhaltsstoff.
Korridore aus Silber.
Was ich suche.
Anfänge und Enden.
Die Engel haben versucht, es mir zu zeigen, konnten es mir aber nicht sagen.
Es ist in mir. Wir haben den letzten Inhaltstoff die ganze Zeit gehabt.
Die Wahrheit traf mich wie ein Schlag und nahm mir den Atem. Ich spürte die Verbindung zwischen Lincoln und mir, und ich wusste, dass er es auch wusste. Der Unterschied war: Er war nicht überrascht.
Ich sah Onyx an und wünschte, wir hätten das vorher gewusst.
Mein Blick zuckte zu meinem Handgelenk. »Nimm den Pfeil«, flüsterte ich. »Gib ihn Steph.« An der Spitze musste etwas von dem silbernen Blut sein. Vielleicht würde es funktionieren. »Du bist ein guter Mensch, Onyx.« Ich nickte ihm zu. »Ganz egal, was du sagst.«
Der Blick aus seinen dunklen Augen traf meinen, dann drehte er sich zu Lilith um und deutete auf mein Handgelenk. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mir ein Souvenir mitnehme?«
»Bitte, gern«, sagte sie, unbeeindruckt von unserer Interaktion.
Onyx zog den Pfeil heraus, was zu einem erneuten Anflug qualvoller Schmerzen führte. Ich biss mir auf die Zunge, konnte aber nicht verhindern, dass mir ein Schrei über die Lippen kam. Die Verbannten um mich herum lachten.
»So verlockend dein Angebot auch ist«, begann Onyx, »auf mir lastet eine menschliche Schuld, die ich einem anderen vergelten muss. Bis dahin bin ich ebenso wie du an einen Eid gebunden.«
Ich war froh, dass ich bereits weinte. Ich wollte nicht, dass sie sahen, dass meine Tränen jetzt Onyx galten. Er war zu einem besseren Menschen geworden als die meisten.
Lilith merkte man ihren Zorn auf Onyx an, aber sie ließ nicht zu, dass sie von seiner Ablehnung aus der Bahn geworfen wurde. Die Show würde weitergehen. Sie befahl ihm, ihr aus den Augen zu gehen und draußen zu warten.
»Phoenix!«, fauchte sie.
Er nickte knapp, kehrte zum goldenen Tisch zurück und legte den nächsten Pfeil an.
Ich schrie, als er mich in den Bauch traf.
Er lud nach.
Ich versuchte zu atmen und mich zu konzentrieren. Das Verlangen, die Augen fest zu schließen und mich von der Welt abzukapseln, war enorm. Aber ich tat es nicht. Ich ließ die Augen offen. Ich würde keinem von ihnen die Befriedigung verschaffen, meine Angst zu sehen.
Die Pfeile kamen und kamen – meine Beine, meine Arme – Phoenix zielte so sorgfältig er vermochte und versuchte, so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Sie schmerzten mehr und weniger gleichzeitig, da neue Pfeile den Schmerz, der bereits so extrem war, nicht vergrößerten. Aber sie fingen an, mich auszulaugen.
Ich konzentrierte meine ganze Kraft auf das Heilen, auf die Regeneration, und hielt so viel Blut wie möglich in meinem Körper.
Ich zählte weiterhin die Pfeile, jeder davon erinnerte mich an ein anderes Leben – ein weiteres Kind, das überleben würde, um diese Verbannten eines Tages auszulöschen. Beim zwanzigsten fing ich an zu zittern. Viel zu schnell wurde ich schwächer. Ich musste durchhalten.
Ich spürte, wie Lincolns Kraft mich bedrängte.
Kurz schloss ich die Augen. Ich wollte, dass er stark blieb, aber ich konnte seiner Hilfe nicht länger widerstehen. Ich öffnete den Kanal, und seine Kraft strömte in mich, verjüngte meine eigene Kraft wie eine Brise frischer Luft. Meine Heilkräfte steigerten sich ein wenig, die Wunden schlossen sich um die Pfeile herum. Einige Pfeile wurden sogar ganz herausgeschoben, sie fielen klappernd auf den Boden, während sich die Wunden schlossen.
Phoenix ignorierte das alles. Er lud einfach nur nach. Und schoss.
Beim fünfunddreißigsten Pfeil fing die Welt an, sich zu drehen. Kalter Schweiß hatte sich gebildet, der sich anfühlte, als würde das Leben aus mir heraus fließen. Ich hörte mein Herz schlagen. Zu langsam.
Phoenix schoss wieder.
Ich heilte mich.
Dieses Mal spürte ich, wie Phoenix mir sein Gefühl schickte. Unerschütterliche Entschlossenheit. Ich konnte seinen ungetrübten Glauben an mich und meine Kraft fühlen, der so stark war, dass er glaubte, ich würde das überleben. Es machte mich traurig, dass er das glaubte, wo ich es doch besser wusste.
Außerdem nahm er meine Gefühle von mir, als würde er Gewichte von meinen Schultern nehmen, und zwar Stein für Stein. Zuerst nahm er mir die Hoffnungslosigkeit, dann die Trauer, und danach die gut versteckte Angst. Er fand sie und absorbierte, was er konnte.
Beim vierzigsten Pfeil stand Lilith auf. Die Verbannten hatten angefangen zu brüllen. Lilith kam geradewegs zu mir, sie riss einige Pfeile aus meinem Körper, wobei sie sie vorher in der Wunde drehte. Ich schrie auf. Sie lächelte.
»Du bist nur sterblich. Du glaubst, du erfüllst hier einen Zweck? Das stimmt nicht. Du hältst dich für machtvoll? Bist du nicht. Siehst du sie, Evelyn? Bist du stolz?«
Evelyn kämpfte gegen die Verbannten an, die sie festhielten. »Sieh sie dir an, Lilith. Schau dir die einfache Sterbliche, die dich für immer vernichten wird, genau an.« Evelyn spie diese Worte förmlich aus.
Liliths Fassung geriet ins Wanken und sie wirbelte zu Phoenix herum. »Mach schneller!«
Er nickte und legte einen weiteren Pfeil in den Bogen.
»Nicht so!«, fuhr sie ihn an. »Reiß ihre Wunden wieder auf.«
Ich rüttelte schwach an meinen Fesseln.
Oh Gott. Ich kann nicht mehr. Das war’s.
Lincolns Kraft strömte in mich hinein, hielt mich zusammen. Blut bedeckte jetzt meinen Körper und floss mir aus Mund und Nase.
Phoenix kam einen Schritt näher zu mir und schloss kurz die Augen. Ich spürte seine Trauer und sein Bedauern darüber, was er jetzt tun musste.
Ich blickte zu ihm auf und sagte knirschend: »Los, tu es!«
Und er tat es.
Onyx’ erster, schockierender Hieb nach meiner Annahme – das Schwert, das er mir in den Bauch gerammt hatte, sodass es auf der anderen Seite wieder herausgekommen war – das alles kam zu mir zurück. Phoenix tat sein Bestes, um den Schmerz zu minimieren, aber angesichts einer so schrecklichen Wunde konnte er nicht viel tun. Blut strömte aus mir heraus, während ich beobachtete, wie er wieder den Bogen anlegte und zielte. Meine Sicht verschwamm wieder.
Feuer.
Feuer.
Feuer.
Feuer.
Ich würgte wegen des Blutes. Lincolns Kraft erstickte mich, sie strömte – nein, sie pulsierte hämmernd in mich hinein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er noch etwas davon übrig haben konnte, um es mir zu schicken, aber es kam immer mehr. Deshalb nahm ich die Kraft an und benutzte sie. Mein Körper krümmte sich vor sich widersprechender Bedürfnisse. Mein menschlicher Körper wollte aufgeben, meine Seele forderte, weiterzumachen und meine Engelelemente zwangen die Kriegerin in mir zu kämpfen.
Ich dachte an Tom, wie er mit seiner göttlichen Stimme gesungen hatte. Ich dachte an Simon, an den Krieger, der er werden würde. Wenn dies meine Aufgabe war im Leben – wenn das der Grund war, weshalb ich geschaffen, weshalb ich zu einer Grigori gemacht wurde und weshalb ich diese Kraft bekommen hatte … Wenn ich Lincolns Seelenverwandte geworden war, um diese Pfeile zu überleben … Damit konnte ich leben. Oder sterben.
Pfeil Nummer sechsundfünfzig.
An meinem Körper gab es nur noch wenige Stellen, die nicht von Pfeilen markiert waren und bluteten. Ich hickste mich durch kurze, bebende Atemzüge.
Mindestens einer der Pfeile hatte meine Lunge durchbohrt.
Ich versuchte, sie zu heilen.
Pfeil Nummer achtundfünfzig.
Ich hustete. Blut spritzte. Ich konnte auf keine Kraft mehr zugreifen.
Ich weigerte mich, die Augen zu schließen. Ich blickte zu Lincoln, meiner Liebe. Er weinte, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Vier Verbannte hielten ihn zurück.
Ich ließ ihn die Wahrheit sehen. Es war an der Zeit. Er schrie, bis er keine Luft mehr hatte.
Phoenix drehte sich zu Lincoln um. Dann wieder zu mir. Lincoln fing an, ihn anzuschreien: »Nein! Nein! Genug! Phoenix, genug!«
Phoenix legte einen Pfeil an.
Ich hielt durch. Er schoss.
Noch ein Kind.
Jeder Atemzug wurde flacher, gebrochener. Ich hatte Angst.
Ich weigerte mich weiterhin, die Augen zu schließen, und fing in Gedanken an, Abschied zu nehmen, zuerst von Dad, dann von Evelyn. Ich dachte an Steph und Spence, Griffin und Onyx, Dapper, Zoe und Salvatore. Meine Familie.
Ich blickte Phoenix an und schickte ihm meine Entschuldigung, und auch meine Vergebung. Er blockierte mich und lud nach. Aber das war in Ordnung. Jeder Pfeil bedeutete ein Leben mehr.
Schließlich schaute ich wieder zu Lincoln und ließ mein Herz zu ihm gehen. Mit dem Letzten, was ich noch hatte, flüsterte ich: »Ich liebe dich.«
Ein weiterer Pfeil erschütterte meinen Körper.
Gut. Noch ein Leben.
Lincoln drängte sich gegen die Verbannten, die ihn festhielten und schrie: »Ich gehöre dir! Für immer und ewig!«
Dann schickte er mir alles, was er hatte. Ich sah, wie er zu Boden stürzte, als er den Rest seiner Kraft in mich strömen ließ und mir half, noch ein paar Pfeile mehr zu überleben.
Pfeil vierundsechzig traf.
Pfeil fünfundsechzig.
Pfeil sechsundsechzig.
Evelyn schrie auf.
Pfeil siebenundsechzig.
Ich versank.
Endlich ließ ich mich an diesen Ort gehen. Ich zwang meine Augen, offen zu bleiben, aber ich kapselte mich selbst ab und ging zu dem Ort, den ich mich selbst gelehrt hatte zu finden. Der Ort, der den Rest der Welt ausschloss, der Ort, der die Regeln aufstellte.
Ich werde nicht vor dir weglaufen. Ich werde mich nicht vor dir verstecken. Ich werde alles ertragen, was du mir auferlegst. Ich glaube nicht an Happy Ends. Ich werde stehen bleiben und kämpfen. Ich werde … Ich werde … Ich werde …
Pfeil …
Pfeil …
Ich wusste nicht, ob meine Augen noch offen waren. Das war gleichgültig. Endlich gab es nur noch Dunkelheit.
Kein Tunnel.
Kein Licht.
Nur die Verheißung auf Nichts.
Und doch – plötzlich, in diesen letzten Momenten, erhob sich eine Woge der Furcht und durchdrang jeden Teil von mir. Ich war mir sicher – sicherer, als ich es jemals in meinem Leben gewesen war –, dass mich etwas wirklich Entsetzliches erwartete. Aber es gab nichts, was ich tun konnte.