Kapitel Vierunddreissig

»Oh, lass mich nicht zurück mit schmerzerfülltem Sinn. Nähm dich der Tod hinfort, wüsst ich nicht mehr wohin.«

John Keats

Meine Lungen schnappten gierig nach Luft. Es tat weh. Jeder Atemzug war schärfer und schneller als der letzte und versuchte, meinen nach Sauerstoff lechzenden Körper zu sättigen.

Jemand war bei mir, redete mir gut zu. Eine tiefe Stimme, die mich rief. Eine Hand berührte mich.

So vertraut.

Zitternd strich mir die Hand die Haare aus dem Gesicht. Die Stimme murmelte weiter, in bebendem, stockendem Keuchen, als ob sie weinte.

Phoenix.

Mein Körper kam zurück ins Leben. Ich wollte gerade die Augen aufmachen, aber dabei spürte ich ein schreckliches – ein entscheidendes – Knacken.

Der Schrei, der über meine Lippen kam, war gellend.

Es fühlte sich an, als würde – als könnte ich nie wieder aufhören zu schreien. Der Schmerz ging über das Körperliche hinaus, er ging über alles hinaus, was ich je erlebt hatte. Lieber hätte ich eine Ewigkeit aus fliegenden Pfeilen ertragen, als eine weitere Sekunde dieser Qual.

Ich war verloren. Weggenommen.

»Atme. Du musst atmen, Violet. Bitte, Gott, lass sie doch atmen!«, rief Phoenix. Er schüttelte mich.

Was passiert mit mir?

Es gelang mir, die Augen aufzuschlagen. Phoenix’ Körper sackte in sich zusammen. »Danke, Gott«, flüsterte er. Bevor ich wieder schreien, bevor ich weinen oder aus dem, was da gerade geschah, schlau werden konnte, wanderten seine Hände zu meiner Brust. Die Wirkung war wie ein Blitzschlag.

Ich zog scharf die Luft ein, mein Kopf und mein Körper erfuhren eine extreme Überlastung.

Kein Tod sollte so lange dauern. Sicher war das Ende schon nah.

Doch was ich sah, war nicht das Ende. Es war etwas ganz Neues. Phoenix’ Kraft schimmerte um ihn herum. Ich hatte schon immer die beweglichen Schatten gesehen, die ihm folgten, oft waren sie von goldenen Wirbeln durchwirkt gewesen, wie marmorierter Karamell. Er hatte mir einmal erzählt, dass er sie von seiner Mutter geerbt hatte – aber das hier war anders. Die Schatten waren verschwunden.

Was jetzt von ihm kam, sah wie ein schwarzes Kristallfeuer aus. Dunkel, aber schön, mit markanten Linien und Spiegelungen, es sah aus, wie sehnsüchtig erwartete Mitternacht. Und in den Flammen explodierten silberne Strähnen wie ein Feuerwerk.

Sie kreisten uns ein, verbanden uns. Verließen ihn langsam.

Und kamen zu mir.

Im Auge von Phoenix’ Kraft-Orkan schimmerte etwas, das mich an die Spiegelungen erinnerte, die ich immer im Engelreich sah – wenn das überhaupt noch die richtige Bezeichnung dafür war.

Phoenix strengte sich über mir an, er war ungewöhnlich geschwächt und sah aus, als hätte er alles, was er hatte, in diese außergewöhnliche Lightshow gesteckt. Er taumelte zurück.

Dabei … fiel es mir wieder ein.

»Du hast mich umgebracht«, flüsterte ich. Der Schmerz, den ich fühlte, seit ich aufgewacht war, wurde weiterhin stärker. Er war unerträglich.

»Ich sterbe wieder«, stöhnte ich. Ich wollte, dass es schnell ging, dass diese Qual endete.

»Entspann dich«, sagte er.

Bevor ich ihm erklären konnte, dass das unmöglich war, überkam mich die Realität dessen, was er mir angetan hatte. Eine neue, eine seltsame Präsenz durchströmte mich. Sie war fremd, und mein Körper wurde plötzlich von heftigen Krämpfen geschüttelt, als er versuchte, sie abzuwehren, aber mein anderer Teil, mein Engel-Teil, machte Platz und zog sie zu sich.

Ich konnte die Kraft spüren, die mir angeboten wurde. Und noch mehr. Es fühlte sich an wie etwas, was ich bislang nur mit einer einzigen anderen Person erlebt hatte. Ich konnte Phoenix auf eine Art und Weise spüren wie nie zuvor. Mein Herz brach für ihn. So viel Zeit. So viel Schmerz. Zu viel Ablehnung.

Ich wusste, was er getan hatte.

Ich packte ihn am Arm.

»Neuer Tod?«, keuchte ich, weil ich endlich den unerträglichen, stetig wachsenden Schmerz verstand.

Kälte breitete sich in mir aus wie brennendes Eis.

Er lächelte traurig. »Und neues Leben«, flüsterte er.

Tränen rollten mir übers Gesicht. »Du hast mir deine Essenz gegeben.«

»Ssh«, beruhigte er mich. »Es war die einzige Möglichkeit, dich aus unserer Verbindung zu befreien. Wir haben zwar noch immer eine, aber sie ist jetzt anders. Sie kann dich nicht umbringen. Du bist frei.«

Ich schloss die Augen. Mein Körper bäumte sich auf. Etwas war falsch. Sehr, sehr falsch. Phoenix’ Essenz veränderte mich, aber das war es nicht, was diesen zerrüttenden Schmerz in mir auslöste, der mich aufzufressen drohte.

Ich hörte das Krachen wieder, aber dieses Mal kam es von oben. Sie brachen durch die Decke.

Phoenix sah frustriert nach oben. »Das ist ein Tresorraum!«, schrie er.

»Lass uns rein, du Mistkerl!«, brüllte Steph.

»Eden, bist du okay?«, folgte Spence’ Stimme.

Ich begann überall zu zittern. »Mir ist kalt«, sagte ich.

Phoenix wandte sich wieder mir zu und versuchte, mich unten zu halten, aber es wurde nur schlimmer. Mein Körper verkrampfte sich, als würde er sich gegen meine bloße Existenz wehren.

Ich riss die Augen auf.

Oh. Mein. Gott.

Ich griff nach meiner Brust. An mein Herz. Ich krallte mich hinein, weil es sich anfühlte, als wäre es zu Nichts verbrannt.

»Ich bin gestorben!«, keuchte ich. Mit weit aufgerissenen Augen wandte ich mich Phoenix zu. »Ich bin gestorben!«, schrie ich, der Schmerz und die Wahrheit brachen über mich herein.

Phoenix war sprachlos.

»Nein! Sag mir, dass es nicht stimmt!«, flehte ich.

Kein Wort. Er starrte mich nur an.

»Nein!«, brüllte ich.

Doch Phoenix brauchte es nicht zu sagen.

Ich schob meine Kraft nach außen, suchte überall nach der Verbindung. Ich lockte meine Seele und schrie nach seiner. Ich bettelte, flehte, weinte.

Nichts.

Nichts als eine wogende Kälte, die mich vernichtete, die mich bis ins Innerste erfrieren ließ.

Ich rollte von dem Tisch, auf dem ich gelegen hatte, und fiel zu Boden. Ich würgte, weil ich nicht wollte, dass mich die Luft, die weiterhin in meine Lungen strömte, mit meinem Leben folterte.

»Nein«, würgte ich. »Nein, nein, nein!« Ich schüttelte den Kopf hin und her in dem Versuch, es wahr werden zu lassen. »Nein, nein, nein!«, keuchte ich wieder und wieder. »Nein!«

Aber es gab nur eine Antwort für mich.

Doch.

Die Verbindung war verschwunden.

Ich war gestorben …

Lincolns Seele war zerbrochen.

Er war weg.