Kapitel Achtunddreissig
»Die Traurigkeit wird niemals enden.«
Vincent van Gogh
Es war still. Früh am Morgen war es immer am ruhigsten.
Ich schlief kaum noch. Träume brachten wenig Erholung. Ich saß auf dem Bett, schaute aus dem Fenster unserer Wohnung im zwölften Stock. Dort unten bewegte sich die Welt weiter, fürs Erste war sie sicher.
Drei Wochen waren seit der Nacht auf dem Anwesen vergangen. Wir waren als die Sieger aus der Schlacht gegangen. Komisch, dass wir uns nicht darüber gefreut hatten.
Ich sah mich in meinem Zimmer um. Es war einst mein Zuhause gewesen. Jetzt erinnerte es mich nur noch an das, was ich nicht mehr war. Ich stand auf. Ich war wieder stark. Sie hatten mich erst nach einer Woche wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Geheilt war ich natürlich innerhalb von Tagen gewesen – eine Tatsache, die die Grigori-Ärzte geheim gehalten hatten – aber sie hatten darauf bestanden, mich noch dazubehalten, unter Beruhigungsmitteln. Sie sagten mir nicht, warum, aber ich wusste, dass alle Angst hatten, ich könnte mir selbst etwas antun.
Jeden Tag saßen Dad oder Evelyn an meinem Bett. Schließlich waren auch andere Besucher zugelassen. Steph war die Erste gewesen. Sie weinte und erzählte mir alles, was geschehen war. Sie sagte mir, wie leid es ihr tat. Ich versuchte, zuzuhören, aber als sie anfing, über Lincoln zu reden, hielt ich sie davon ab.
Danach kamen andere, aber ich sprach nie mit ihnen, selbst als Josephine auftauchte und verkündete, dass sie immer noch Fragen hatte. Ein Teil von mir hatte den Verdacht, dass sie mich und Evelyn wieder einsperren wollte, aber nach allem, was passiert war, konnte sie das unmöglich tun, ohne das Gesicht zu verlieren. Auf einer anderen, großzügigeren Ebene begriff ich, dass Josephine eine echte Kämpferin war. Und wenn sie mich jetzt ansah, war es anders. Sie wusste, dass ich Verbannte vernichten konnte, dadurch war ich in ihren Augen wertvoll.
Sie teilte mir mit, dass die Grigori-Schrift jetzt in ihrem Besitz war, und versicherte mir, dass sie nie wieder in die Hände des Feindes gelangen würde. Ehrlich gesagt schien es schon gefährlich genug zu sein, dass sie in ihren Händen war.
Zum Abschied sagte sie: »Deine Grigori-Prüfung ist noch einmal ausgewertet worden, sie wurde einstimmig anerkannt.«
Ich reagierte nicht.
Jetzt, zwei Wochen nachdem Griffin meine Entlassung aus dem Krankenhaus und die Abreise aus New York veranlasst hatte, war ich wieder zu Hause, und ich war stärker denn je wegen der Kraft des Engels, der mich gemacht hatte, und weil mich jetzt Phoenix’ Essenz durchströmte.
Lincoln hatte ich nicht gesehen. Ich hatte nicht von ihm gesprochen, außer dass ich Griffin die Anweisung gegeben hatte, dass wir ihn mit nach Hause nehmen sollten. Hin und wieder erwähnte ihn jemand. Ich hörte nicht zu, sondern legte einfach den Schalter um und blendete es aus.
Selbst als mir der Engel, der mich gemacht hatte, im Traum erschien, entdeckte ich, dass ich meinen neuen Schalter drücken und ihn ausblenden konnte, als er sagte, wir müssten reden. Nacht für Nacht schickte ich ihn weg. Er war weise genug, sich nicht über meinen Willen hinwegzusetzen. Bis jetzt.
Die Kälte war zurückgekehrt. Sie sickerte in meine Knochen, sodass ich die ganze Zeit wie eingefroren war. Das einzig andere, dem ich nicht Einhalt gebieten konnte, waren meine Gedanken – trotz meiner Taubheit. Wieder und wieder durchlebte ich die Ereignisse dieser letzten Tage und Nächte – all die Entscheidungen, die von so vielen Menschen getroffen worden waren und das aus mir gemacht hatten, was ich jetzt war.
Eine gebrochene Person.
Ich zog meine Wanderschuhe an. Es wurde Zeit. Dad wartete auf mich und ich konnte es nicht mehr länger hinauszögern. Ich ging in die Küche. Evelyn war da. Sie bereitete Frühstück zu. Dad lungerte auf dem Sofa herum und las Zeitung. Sie waren auf ihre Weise glücklich, gleichzeitig lag aber auch Traurigkeit in der Luft.
Fast achtzehn Jahre ihrer gemeinsamen Zeit hatte man ihnen geraubt. Dad wurde älter, während Evelyn so jung aussah, dass man sie für meine Schwester halten konnte. Und es würde noch schlimmer werden.
Evelyn kam mit einem Teller Essen zu mir. Sie trug eine cremefarbene Hose und ein T-Shirt aus Seide und hatte sich eine neue Frisur machen lassen, mit der sie älter aussah. Sie hielt mir einen Teller Rührei hin. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab.
Unsere Beziehung hatte sich verändert. Aus irgendwelchen Gründen »verstanden« mich meine Eltern im Moment besser als alle anderen. Vielleicht weil sie wussten, was Verlust bedeutete, der Schmerz, den man nicht verstehen kann, bis man den Riss, der dabei durch Körper und Seele geht, gespürt hat. Aber selbst als Evelyn den Teller abstellte – der mich nur an Lincoln erinnerte – und ihre Arme um mich schlang, konnte ich ihre Umarmung nicht erwidern. Mitfühlend zog sie sich zurück, und ich war dankbar darüber. Sie wusste, dass ich noch nicht bereit war, und das war okay.
Dad hielt vor Lincolns Lagerhalle an.
»Ich kann dich begleiten«, sagte er wieder.
Ich schüttelte den Kopf.
Er seufzte. »Okay. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
»Danke«, sagte ich.
Es fühlte sich so vertraut an, die Stufen hinaufzugehen. Ein paar Sekunden lang tat ich so, als wäre alles wie immer. Dass ich an die Tür klopfen würde. Dass er aufmachen würde.
Ich schaltete das ab.
Es war ein warmer Tag, aber ich trug mehrere Schichten, wickelte sie eng um mich herum, versuchte, der Kälte Herr zu werden. Es war sinnlos. Die Kälte kam von innen.
Ich stand auf der Schwelle. Ich spürte die Leute dort drinnen. Es dauerte lange, bis ich klopfte.
Griffin machte die Tür auf. Er hatte nicht gewusst, dass ich kommen würde, und man merkte ihm seine Überraschung an. Er hielt die Tür auf und ich ging langsam hinein, wobei ich mich anstrengte zu verhindern, dass meine Beine unter mir einknickten. Steph und Salvatore waren in der Küche. Sie hörten auf, sich zu unterhalten, als sie mich sahen.
Steph kam automatisch auf mich zu, blieb aber stehen, als sie meine verschlossene Miene sah. Ich war noch nicht fähig gewesen, überhaupt mit ihr zu sprechen. Oder mit sonst jemandem, aber besonders nicht mit ihr. Ich wusste, dass sie vor allen anderen diejenige war, die ich auf Armeslänge von mir fernhalten musste. Ich merkte, dass sie das verletzte, aber ich glaube, sie verstand es.
Spence kam aus seinem Zimmer, er trug eine alte Jeans und ein ebenso verwaschenes rotes T-Shirt und blieb im Flur stehen.
»Eden«, sagte er, als ich an ihm vorbeiging.
Ich antwortete nicht. Er blieb stehen.
In Lincolns Schlafzimmer hörte ich jemanden sprechen. Ich stand in der offenen Tür. Ich schaute nicht zum Bett. Stattdessen konzentrierte ich mich auf Dapper, der neben dem Bett saß. Er las aus einem Buch vor.
Als er mich sah, hörte er auf zu lesen. Ich sagte nichts, deshalb klappte er einfach das Buch zu, legte es auf den Nachttisch, stand auf und verließ den Raum. Im Vorbeigehen strich er mit der Hand über meine Schulter.
Ich ging hinein und machte die Tür hinter mir zu.
Ich bewegte mich aufs Bett zu, jeder Schritt zittriger als der letzte. Ich blickte auf ihn hinunter, schließlich sahen ihn meine Augen. Die Luft wich aus meiner Lunge und jeder Muskel in meinem Gesicht schmerzte.
Eine Tropfinfusion führte zu seiner Hand. Er war still, als würde er schlafen, aber … er wirkte nicht friedlich. Er war eigentlich überhaupt nicht da.
Ich weinte nicht.
Ich kroch aufs Bett und legte mich neben ihn. Ich rollte mich zusammen und legte den Arm um ihn. So blieb ich für den Rest des Tages, völlig reglos.
Als die Sonne allmählich unterging und es dunkel im Zimmer wurde, stand ich schließlich wieder auf und stellte mich ans Fußende des Bettes.
»Ich weiß, du hast Phoenix darum gebeten, dich zu töten«, sagte ich. Bei jedem Wort brach mir die Stimme. »Ich weiß, dass ihr beide eure Abmachungen getroffen habt, aber Phoenix ist nicht mehr da.« Ich schüttelte den Kopf und machte mich auf den Weg zur Tür. Bevor ich sie öffnete, blickte ich noch einmal zu ihm zurück. »Dachtest du wirklich, das wäre so einfach?«
Ich ging.
Alle waren noch da und beobachteten mich, als ich zurück ins Wohnzimmer ging und Lincolns Autoschlüssel nahm. Ich spürte, wie alle den Atem anhielten und darauf warteten, dass ich es ihnen sagte. Ich wusste, dass sie alle dachten, ich wäre gekommen, um ihn zu töten. Als seine Partnerin lag diese Entscheidung in meinen Händen.
Ich sah Griffin an. »Niemand rührt ihn an, bis ich wieder da bin.«
Griffin stand auf. »Wohin gehst du?«, fragte er.
»Ich stelle jetzt einen Engel vor die Wahl.«
Spence war genau in dem Moment an der Fahrertür, in dem ich sie aufschloss.
Ich sah ihn mir leeren Augen an.
Er streckte mir die Hand hin und starrte zurück. »Vergiss es. Du kannst mich jetzt windelweich prügeln, wenn du willst, aber du gehst nicht allein.« Er streckte seine Handfläche noch weiter zu mir. »Schlüssel.«
»Wo ich hingehe, kannst du nicht mitkommen«, erwiderte ich steif.
»Dann komme ich mit, soweit ich kann. Du weißt genauso gut wie ich, dass es so am besten ist. Ich gebe eine gute Unterstützung ab. Außerdem …« – er sah das Auto an – »fährst du einfach beschissen.«
Ich schluckte. Er war wirklich eine gute Unterstützung. Und ich fuhr wirklich beschissen.
»Ich kann nicht … reden.«
Er lächelte ein wenig. »Hab mich ohnehin nie besonders gern mit dir unterhalten.«
Ich verdrehte die Augen und drückte ihm die Schlüssel in die Hand.
»Siehst du, Eden. Du kannst mir nicht widerstehen. Keine Frau kann das«, sagte er lächelnd, während er ins Auto einstieg.
Ich ignorierte ihn und zog die Wegbeschreibung heraus, die ich zusammengestellt hatte.
»Wohin soll es gehen?«, fragte er, während er den Wagen anließ, der nach Lincoln roch.
Ich kurbelte das Fenster herunter. »Zu einem Felsen.«