Kapitel Zwölf
»Liebe ist die stärkste aller
Leidenschaften,
denn sie befällt gleichzeitig Kopf, Herz und Verstand.«
Laotse
Ich stieg aus der Limousine, die uns vom Flughafen abgeholt hatte. Ich wusste nicht, wie viele Grigori dort auf uns gewartet hatten – ich war mir jedoch sicher, dass eine ganze Menge von ihnen in den Schatten lauerten und ihre Wächterfähigkeiten dazu benutzten, uns zu folgen. Zum ersten Mal war ich mir nicht sicher, ob sie uns schützen oder überwachen sollten.
Die New Yorker Luft war dick, angefüllt mit einer Energie, wie ich sie noch nie erlebt hatte. In einem konstanten Strom wälzten sich Menschenmassen über die Gehwege.
So. Viele. Menschen.
Die Autos fuhren erstaunlich schnell, dafür dass es so unglaublich viele waren. Vorherrschend waren dabei die gelben Taxis, die man aus wirklich jedem New-York-Film kannte, den die Menschheit je gedreht hat.
»Willkommen in Manhattan«, sagte Griffin, der neben mir stand.
Er war mit mir, Lincoln, Zoe und Spence gefahren. Im Auto vor uns saßen Dad und Evelyn sowie die vier Wachen, die Evelyn am Flughafen in Gewahrsam genommen hatten. Und es gab noch zwei weitere Fahrzeuge …, von denen ich wusste. Ich persönlich fand, dass das zu viel des Guten war. Wir hatten uns bereits einverstanden erklärt, nach New York zu kommen – da war es wenig wahrscheinlich, dass wir die ganze Reise auf uns nehmen würden, um dann am Flughafen zu verschwinden. Andererseits war das Josephines Terrain.
»Cool, nicht wahr?«, sagte Zoe stolz. Sie glühte, als würde sie dadurch, dass sie in New York war, irgendwie neu aufgeladen.
»Bist du hier aufgewachsen?«, fragte ich.
Sie nickte. »Geboren und aufgewachsen. Warte nur, bis ich dich zu einem Spiel der Yankees mitnehme.«
Ich wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich meine Engelsinne einsetzten. Der vertraute Apfelgeschmack spülte meinen Mund, die Geräusche der Autos wurden überlagert vom Krachen von Zweigen und hektischem Flügelschlagen. Meine Sicht verschwamm, als Bilder aus reinem Licht auf tiefste Finsternis folgten und Morgen und Abend vor mir aufblitzten.
»Verbannte«, stieß ich hervor, weil ich den anderen verzweifelt eine Art Warnung zukommen lassen wollte, auch wenn mich Blumenduft überwältigte und mein Körper wegen der Energie, die durch ihn hindurchströmte, anfing zu zittern. Knochen aus Eis, Blut aus Feuer.
Lincoln schlang seine Arme um mich und neigte mein Gesicht nach oben zu seinem. »Konzentrier dich, Vi. Steuere deine Sinne«, murmelte er, während er meine Sinneswahrnehmungen umging und mich fand. Aber es waren so viele, so viele. Ich versuchte, ihm zu sagen, dass er fliehen sollte, doch ich konnte nicht sprechen.
Ich sah, dass er wieder etwas sagte, aber ich konnte es wegen des Geräusches schlagender Flügel nicht hören.
Ich fing an zu zittern.
Zu viele.
Wir konnten unmöglich gegen alle kämpfen. Hatte Lilith eine Armee geschickt, um uns zu empfangen?
Zu viele. Zu viele.
Lincoln küsste mich.
Seine Lippen waren weich, warm und fühlten sich überwältigend richtig auf meinen an. Ich ließ mich hineinfallen und vergaß alles, außer der Sicherheit in seiner Berührung. Eine Sinneswahrnehmung nach der anderen floss aus mir heraus, als er sie von mir wegzog und freiließ. Das musste ihm Schmerzen bereitet haben. Mir taten die Sinneswahrnehmungen höllisch weh.
Aber er zögerte nicht, mir das abzunehmen, was ich nicht selbst bewältigen konnte. Er war mein Partner, mein Seelenverwandter. Als mein Körper anfing zu schwächeln, schlang er wieder die Arme um mich und stützte mich. Er blieb konzentriert, bis die letzte der Sinneswahrnehmungen von mir zu ihm geflossen waren, und dann waren nur noch wir da – und der Kuss, für den wir einige extra Sekunden stahlen. Beide wussten wir, dass das falsch war – aber es schien unmöglich, sich voneinander zu lösen.
Lincoln fing an zu zittern – seine Finger gruben sich in meine Seite und hielten sich an mir, an uns, fest, gleichzeitig versuchte er wegzugehen. Ich wollte ihn nie wieder loslassen, sondern ihn noch näher zu mir ziehen. Das forderte meine Seele von mir. Es war gleichgültig, dass wir hier draußen im Freien waren, mitten auf dem Gehweg.
Doch er machte bereits wieder zu – der Honig seiner Macht umkreiste mich, während er die Mauern zwischen uns wieder errichtete – und ich wusste, dass ich das Gleiche tun musste.
»Linc«, flüsterte ich, während ich versuchte, mich zusammenzureißen.
Er legte seine Stirn an meine. »Schon okay. Alles in Ordnung.«
Er holte ein paarmal tief Luft. Meine Sinneswahrnehmungen zu kanalisieren forderte von ihm immer einen heftigen Tribut.
Ich umarmte ihn. »Ich weiß.«
Wir blieben noch einige Sekunden so, bis er sich löste und die Beherrschung wiedererlangte, die wir uns beide so sehr anstrengten zu wahren.
Ich wünschte, ich hätte seine Stärke.
»Lass uns hineingehen«, sagte er mit heiserer Stimme.
Erst da schaute ich mich um und sah, dass die Insassen beider Autos, einschließlich Dad und Evelyn, uns anstarrten. Zoe fächelte sich Luft zu.
»Verbannte«, platzte ich heraus. »Sie sind … sie sind überall. Die Sinneswahrnehmungen hätten mich fast erstickt!«
»Wir sind in New York, Violet«, sagte Griffin mit einem Grinsen auf den Lippen. »Allein auf den siebenundachtzig Quadratkilometern, aus denen Manhattan besteht, leben über anderthalb Millionen Menschen. Und hier lebt die weltweit größte Bevölkerung von Verbannten. Klar, dass du hier von deinen Sinneswahrnehmungen bombardiert wirst.«
»Wie soll ich denn dann hierbleiben?«, fragte ich, und meine Panik stieg.
Lincoln, der sich jetzt ein paar Schritte von mir entfernt hatte, erwiderte: »Du wirst dich daran gewöhnen. Und innerhalb der Akademie wird es einfacher sein.«
»Warum?«
Er lächelte finster – er hatte sich noch immer nicht von dem Energieverlust erholt – und zeigte an dem Wolkenkratzer hinauf, vor dem wir standen. »Weil sie starke Schutzschilde haben und den gesamten obersten Stock einnehmen. Du kannst sicher sein, dass sich keine Verbannten in einem von ihren Gebäuden befinden.«
Sagte er gerade Gebäude? Im Plural?
Die Grigori in den schwarzen Anzügen, die uns vom Flughafen abgeholt hatten, hielten die riesigen Glastüren des Gebäudes auf.
Ich holte tief Luft und schloss die Augen. Dabei konzentrierte ich mich auf meine Sinneswahrnehmungen, ließ sie zu mir kommen, aber zu meinen Bedingungen. Ich musste das hinkriegen. Wenn ich wieder von den Sinneswahrnehmungen bombardiert würde und dies während eines Kampfes geschah, musste ich in der Lage sein, sie zu steuern.
Ich spürte, wie die Sinneswahrnehmungen zu mir kamen. Da waren so viele Verbannte, und sie waren ganz nah. Der Begriff Angst erreichte hier ein ganz neues Niveau. Die Sinneswahrnehmungen bauten sich in mir auf und wurden unerträglich, doch indem ich tief und gleichmäßig durchatmete, konnte ich sie dieses Mal in den Hintergrund schieben. Sie waren zwar immer noch da, aber vorerst würde es so gehen müssen.
Ich sah Lincoln an, der auf mich wartete, und nickte. Er lächelte. Es war die Art von Lächeln, die er mir schenkte, wenn ich im Training erfolgreich war.
Während wir durch die Türen gingen, ignorierte ich Dads strengen Blick und ging einfach weiter. Er hatte nicht mitbekommen, dass Lincoln mir gerade geholfen hatte, aber jetzt war nicht die Zeit für Erklärungen. Ich war mir ziemlich sicher, dass Evelyn genau verstanden hatte, was passiert war, denn sie hatte Dad fest am Arm gepackt und lenkte ihn von uns weg.
Dankbar nickte ich ihr zu.
Sie ignorierte mich auf diese, für sie typische, nervige Art.
Sobald sich im obersten Stock die Aufzugstür öffnete, spülte eine weitere Woge der Sinneswahrnehmungen über mich hinweg, aber sie waren anders – dezent und tröstlich –, weil sie die Anwesenheit meiner eigenen Leute signalisierten.
»Wie viele Grigori gibt es hier?«, flüsterte ich Griffin zu.
»Um die hundert Schüler plus etwa hundert ältere Grigori halten sich hier normalerweise auf.«
»Wow.« Das erklärte den Zustrom an Sinneswahrnehmungen.
Acht stille, schwer bewaffnete Grigori, die vollkommen schwarz gekleidet waren, brachten Evelyn zu ihren für sie bestimmten Zimmern. Griffin hatte uns schon darauf vorbereitet, aber Dad musste sich anstrengen, cool zu bleiben, als sie in Fesseln abgeführt wurde.
Das Wartezimmer, in das wir Übrigen geführt wurden, war riesig und ultramodern. Die Wände des Gebäudes bestanden aus Glas und boten einen herrlichen Blick über Manhattan. Es war einzigartig schön, und ein wenig fühlte man sich wie in einem Goldfischglas.
»Komm mit«, sagte Lincoln leise und ging zu einer Seite des Raumes. Ich folgte ihm zu den Fenstern.
»Was?«, fragte ich.
Er zeigte hinaus, und dann sah ich es.
Nichts hätte mich auf den Anblick vor mir vorbereiten können. Und als er seinen ausgestreckten Arm nach rechts schwenkte, schnappte ich nach Luft.
»Wie … wie? Das ist doch nicht … Fliegen sie?« Was meine Augen da sahen, ergab keinen Sinn. Leute liefen buchstäblich in der Luft herum. Nichts unter ihnen, nichts über ihnen, und doch machten sie den Eindruck, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Ich blickte auf die Straße hinunter – dort wehte der Wind und die Bäume schwankten –, doch als ich wieder zu den Leuten sah, die da am Himmel herumwanderten, schien das keinen von ihnen zu stören.
Lincoln grinste. »Die Akademie besitzt mehrere Gebäude. Zwischen ihnen gibt es Fußwege.«
Ich konnte meine Augen nicht von den Leuten am Himmel abwenden. »Da laufen Leute am Himmel herum, Linc. Erklär mir das.«
Er stieß sein leises, geheimnisvolles Lachen aus, das in meinem ganzen Körper nachhallte. Ein Lachen, von dem ich irgendwie wusste, dass es für niemand anderen auf der Welt reserviert war als für mich. Das Lachen, das mir das Herz brach.
Atme.
»Ich freue mich ja, dass du mich amüsant findest. Aber mir wäre es lieber, du würdest weniger lachen und mehr erzählen!«
Er lachte wieder, und ich war kurz davor, ihn entweder zu boxen oder mich in seine Arme zu werfen, als eine Frauenstimme unsere Aufmerksamkeit erregte.
»Wie ich sehe, haben wir es geschafft«, sagte Josephine, ihr überlegener Tonfall durchdrang alle anderen Geräusche.
Aufrecht und förmlich stand sie da, sie trug einen taillierten dunkelblauen Anzug, ihr Haar war zu einem Dutt zusammengefasst. Sie war auf eine strenge Art attraktiv. Abschätzig musterte Josephine einen nach dem anderen, und hätte uns genauso gut ins Gesicht sagen können, dass sie uns ihrer nicht würdig hielt.
Sie nickte Zoe und Spence zu. »Willkommen zu Hause. Ihr werdet dieselben Zimmer bekommen wie vor eurem Weggang. Ich nehme an, ihr wisst noch, wo sie sind. Wenn du nichts dagegen hast, Zoe« – sie verdrehte tatsächlich die Augen –, »aber das hast du ja bestimmt nicht, dann teilst du das Zimmer mit Violet.«
»Gut«, sagte Zoe, wobei sie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Spence, du wirst heute Nachmittag vor ein Disziplinarverfahren gestellt, bevor du wieder mit dem Unterricht anfängst«, sagte sie mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete.
Himmel. Sie ist wirklich Furcht einflößend.
Spence nahm natürlich die Herausforderung an. »Tatsächlich habe ich gerade die Highschool abgeschlossen. Eine Kopie meiner Zeugnisse habe ich mitgebracht. Allerdings würde ich sehr gern am Kampftraining und dem zusätzlichen Sportunterricht teilnehmen, weil ich bestimmt einiges verpasst habe, während ich weg war.«
Er lächelte nicht einmal dabei, das musste man ihm lassen. Er hielt seine vorbereitete Rede mit so aufrichtiger Miene, dass sogar Josephine nichts entgegenhalten konnte.
Wie lange er das wohl schon übt?
»Das besprechen wir später noch«, zischte Josephine. »Ihr beide könnt jetzt die Taschen in eure Zimmer bringen und euch einrichten.« Sie entließ ihn und Zoe, indem sie mit der Hand wedelte.
Warum ist sie so scharf darauf, Zoe und Spence loszuwerden?
Ich warf Lincoln einen Seitenblick zu, aber er schüttelte den Kopf – eine diskrete Bitte an mich, es gut sein zu lassen. Ich gehorchte.
Josephine nahm sich Zeit, mir ihre Geringschätzung deutlich zu zeigen, bevor sie sich Griffin und Lincoln zuwandte und sie mit scheinheiligen Küssen bedeckte. Ihre Theatralik erinnerte mich an Onyx.
Gleiches Drama. Anderer Sendekanal.
»Und Sie sind wohl der Mensch …«, sagte sie, und wandte ihre Aufmerksamkeit endlich Dad zu. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Abneigung zu verbergen. Das erinnerte mich auf seltsame Weise an den Ekel, den Verbannte uns gegenüber an den Tag legten.
Dad nickte. »James Eden«, sagte er und streckte seine Hand aus. Josephine ignorierte sie.
»James, entschuldigen Sie bitte, wenn ich nicht so tue, als wäre ich froh, Sie an meiner Akademie zu haben. Innerhalb dieser Mauern herrschen gewisse Regeln, und indem Sie darauf bestanden haben, hierher zu kommen, haben Sie diese Regeln verletzt. Draußen auf der Straße dulde ich Menschen – ich habe mein ganzes Leben eurem Überleben gewidmet –, aber ich bin jetzt schon so lange eine Grigori, dass ich die Gesellschaft der Meinen bevorzuge, es sei denn, es dient dem Allgemeinwohl.«
»Und ich bin nur ein Mensch«, erwiderte Dad.
»Genau«, bestätigte Josephine, ohne sich zu schämen.
»Er ist mein Vater, Josephine«, sagte ich und trat vor, aber Dad hob die Hand, um mich aufzuhalten.
»Schon gut. Ich selbst habe auch nichts für Heucheleien übrig. Ich glaube, Ihnen wurde erklärt, Josephine, dass ich als Evelyns Begleiter hier bin, und ich erwarte, dass ich jederzeit bei ihr sein kann.«
Josephine lachte. »Und was vermittelte Ihnen den Eindruck, ich würde das erlauben?«
Dad wurde wütend. »Sie werden mich jetzt zu Evelyn bringen. Wenn sie eingesperrt ist, erteile ich Ihnen die Erlaubnis, mich mit ihr einzusperren, unter der Bedingung, dass meine Tochter Zugang zu mir hat …« Er warf mir einen Blick zu. »Wenn sie mich sehen möchte. Und Sie werden aus demselben Grund für diese Dinge sorgen, aus dem Sie mich in ihre kostbare Akademie gelassen haben. Sie wollen Evelyn, Sie brauchen Violet und ohne mich können Sie nicht sicher sein, auch nur eine von beiden zu kriegen.«
Josephine machte große Augen und räusperte sich.
Ein Punkt für den Menschen.
Schließlich gab sie dem Wächter, der still an der Eingangstür stand, ein Zeichen. »Bring ihn hinunter zu den Arrestzellen.«
»Dad?«, begann ich, als sie kamen, um ihm Handschellen anzulegen.
Er schüttelte den Kopf. »Schon gut, Liebes. Tu, was du tun musst, und besuch mich mal … wenn du bereit dafür bist.« Dann heftete er seinen Blick auf Lincoln. »Ich vertraue darauf, dass du auf sie aufpasst.«
Lincoln nickte. »Das werde ich.« Er sagte das, als würde er einen Eid ablegen, und das machte mich nervös.
Als die Wachen Dad weggeführt hatten, wandte sich Josephine wieder an uns. »Dann waren es nur noch drei«, sagte sie, und als sie meine Haltung sah – Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf gesenkt, als wollte ich sie gleich anfallen –, kicherte sie ein wenig. »Spar dir deine Vorführungen für ein ordentliches Publikum. Es wäre doch schade, wenn du schon erschöpft wärst, bevor die Hauptvorstellung losgeht.« Sie streckte ihre perfekt manikürte Hand aus. »Der Rat erwartet euch.«
»Der ganze Rat?«, fragte Griffin.
Josephine lächelte wissend und antwortete langsam. »Bis hin zum letzten Mitglied.«
Griffin wurde blass. Lincoln blickte weg.
Oh, das bedeutet nichts Gutes.