Kapitel Sieben
»Das Schicksal begnügt sich nicht damit, nur einmal zuzuschlagen.«
Publilius Syrus
Salvatore und Steph verschwanden schnell, um »ein wenig allein zu sein«, nachdem wir Dappers Wohnung verlassen hatten. Zoe und Spence luden mich zu einem »Eis« ein, was ihrem nicht ganz so subtilen Zwinkern nach zu urteilen das Codewort für irgendeinen Unsinn war.
Ich beschloss, bei Dad zu bleiben. Er zitterte regelrecht unter der schieren Last seines neuen Wissens. Die Art von Erkenntnis, die nie für Menschen vorgesehen war.
Vor dem Hades hatte er gesehen, wie Steph ganz beiläufig Arm in Arm mit Salvatore davongegangen war, und er schüttelte den Kopf. »Wie kann sie das alles so locker wegstecken?«, fragte er. »Hat sie keine Angst?«
Bei meinen vielen Geständnissen gegenüber Dad hatte ich ihm auch erzählt, wie Steph von Phoenix gefangen gehalten worden war.
»Manchmal glaube ich, dass Steph mehr für diese Welt bestimmt ist als irgendeiner von uns. Sie mag zwar keine Grigori sein, doch sie hat sich dafür entschieden, ihren Part zu übernehmen. Das musste ich lernen zu akzeptieren, Dad.«
Dad schaute auf seine Füße, seine Schultern sackten nach vorne. »Ist das deine Art mir zu sagen, dass ich das auch tun soll – deinen Platz in dieser … Welt voller verbannter Engel zu akzeptieren?«
Ich legte ihm kurz die Hand auf den Arm und wünschte, ich wäre besser darin, Leute zu trösten. »Wenn du das könntest, würde es das Ganze einfacher für dich machen.«
Als Evelyn und Griffin zu uns traten, war ich unwillkürlich gereizt. Im Moment konnte ich überhaupt keine Zeit mit Dad allein verbringen. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, öffnete Lincoln die Beifahrertür seines Wagens. »Mr Eden, wie wäre es, wenn ich Sie und Violet nach Hause bringe? Griffin kann Evelyn mitnehmen – ich bin mir sicher, sie haben einiges zu besprechen.«
Dad blickte zwischen Evelyn und mir hin und her und ließ sich dann auf den Rücksitz gleiten.
Ich setzte mich neben Dad, und wenn meine Augen »Tausend Dank« ausdrücken konnten, dann taten sie das gerade Lincoln gegenüber.
Während wir fuhren beruhigte sich Dads unregelmäßige Atmung wieder und er entspannte sich so weit, dass er reden konnte.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass ich nie von all diesen Dingen wusste. Evelyn hat über zweihundert Jahre lang gelebt.« Er schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich das nicht merken?«
Ich legte meine Hand auf seine. »Dad, das konntest du auf keinen Fall merken. Bei allen Vorbehalten – sie ist eine Meisterin in dem, was sie tut.« Ich biss mir auf die Lippe und nahm verlegen meine Hand weg. »Sie manipuliert. Das Einzige, was wir möglicherweise sicher wissen, ist, dass sie entschieden hat, dich die ganze Zeit, in der ihr zusammen wart, zu belügen.«
»Das heißt aber nicht, dass alles eine Lüge war«, sagte Dad verteidigend.
»Nein, das heißt es nicht«, räumte ich ein. »Und ich bin mir sicher, dass ihre Gefühle für dich echt waren – es ist nur … Sie stellt ihren Grigori-Status über alles und jeden. Uns eingeschlossen.«
»Und du nicht?«
Unwillkürlich blickte ich nach vorne zu Lincoln. Sein Gesicht war ausdruckslos, während er nach vorne schaute, aber seine Hände hatten diesen verräterischen Weiße-Knöchel-Griff um das Lenkrad, der mir sagte, dass er aufmerksam zuhörte.
Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum und entschied mich für die Wahrheit. »Nein. Ich nicht. Es gibt Dinge, die wichtiger für mich sind.«
Dad ließ sich erschöpft in seinen Sitz zurückfallen. »Wird sie je altern?«
»Solange du lebst wahrscheinlich nicht.« Das war die bittere Wahrheit, aber er hatte das Recht darauf, es zu erfahren.
Er seufzte und ich bemerkte die dunklen Ringe unter seinen Augen. »Es ist so seltsam. Ich sehe sie an, höre sie sprechen – ihre Eigenarten sind noch dieselben, und doch ist sie anders.«
Er fuhr sich mit zitternden Händen durchs Haar, und wieder wünschte ich, ich hätte einen besseren Draht zu ihm.
»Ich höre, wie sie sich nachts herumwälzt – was immer sie in ihren Träumen heimsucht … Es ist schrecklich, Vi.«
Schwer zu glauben.
Außerdem – vielleicht führte ja die Tatsache, dass sie aufwachte und entdeckte, dass sie wieder bei uns war, zu den Schreien. Das erweckte nicht gerade Sympathie.
»Dad, ich weiß, es ist hart, aber sie ist eine Lügnerin. Sie hat deine und meine Zukunft, unser Glück, gegen einen Platz im Himmel eingetauscht. Ich weiß nicht, warum sie zurückgekommen ist oder wie lange sie bleiben wird, aber du musst wohl damit rechnen, dass sie uns ohne nachzudenken im Stich lassen würde, wenn sich die Gelegenheit bietet, sich selbst zu helfen.«
Dad schwieg immer noch. Aber ich war die letzten siebzehn Jahre dabei gewesen und hatte gesehen, was die Tatsache, dass er sie verloren hatte, mit ihm angerichtet hatte. Ich konnte nicht zulassen, dass er das noch mal durchmachte.
Oder ich.
Nein, das Beste, was ich jetzt für Dad tun konnte, war, ihn auf ihren Weggang vorzubereiten.
»Dad, akzeptier es endlich. Sie benutzt dich nur.«
Ich schloss kurz die Augen, weil ich spürte, dass ihn das verletzte, aber ich musste mich um ihn kümmern. Er war mein Vater.
»Hast du mal mit Caroline gesprochen, seit Evelyn wieder da ist?«, fragte ich und erinnerte ihn an die guten Dinge, die er in letzter Zeit mit seiner Assistentin erlebt hatte. Schließlich schien es, als wäre er bereit für eine neue Beziehung gewesen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich … ich habe ihr gesagt, dass wir uns nicht mehr sehen können. Es hat sich einfach nicht richtig angefühlt, eine andere Erklärung hatte ich dafür nicht.«
Arme Caroline.
Ich war nicht gerade begeistert gewesen, als sie sich in die Beziehung zwischen Dad und mir eingemischt hatte, aber sie war in Ordnung und ich wusste, dass sie wirklich etwas für Dad empfand.
»Was hat sie gesagt?«
Seine Hände fuhren wieder durch seine Haare. »Sie hat sich damit abgefunden und gesagt, dass es dann wahrscheinlich besser so wäre.«
»Oh, Dad.«
Das machte mich so sauer. Dad stellte für Evelyn sein ganzes Leben auf den Kopf, und ich wusste, dass das nur böse enden konnte.
»Versprich mir einfach, dass du auf der Hut sein wirst«, drängte ich ihn.
Und als würde er die grausame Wahrheit erkennen, nickte er. »Ich … ich steh das nicht noch mal durch. Da hast du recht, Vi.«
Erleichtert atmete ich aus.
»Ich werde auf Abstand gehen. Aber was passiert jetzt? Ich kann dich nicht einfach gehen und allein dieser Akademie gegenübertreten lassen.«
»Sie wird nicht allein sein, Mr Eden«, sagte Lincoln.
Dad warf einen zweifelnden Blick in seine Richtung. »Wenn ihr irgendetwas zustößt …«
»Ich passe auf sie auf«, sprang Lincoln ein. »Ich würde nie zulassen, dass ihr etwas zustößt.«
Ich verdrehte die Augen. »Wenn ihr zwei dann fertig seid …« Ich zeigte aus dem Fenster. »Wir sind da.«
Lincoln stieg nicht aus. Bevor ich die Autotür zumachte, sah ich mich noch mal nach ihm um, während Dad schon über die Straße ging. »Danke für den höllisch spaßigen Abend.«
Er zwinkerte. »War mir ein Vergnügen.«
»Dann müssen wir wohl mal neu definieren, was du so unter Vergnügen verstehst.« Sein Lächeln und die hochgezogene Augenbraue ließen meine Wangen erröten. »Ähm … ich meine …«
»Gute Nacht, Vi.«
Ich biss mir auf die Lippe. »Gute Nacht, Linc.«
Dad und ich fuhren zusammen im Aufzug nach oben und gingen Hand in Hand zu unserer Wohnung. Zum ersten Mal, seit Evelyn aufgetaucht war, hatte ich das Gefühl, dass wir wieder auf dem richtigen Weg waren. Die Wohnungstür war offen. Drinnen konnte ich die anderen bereits wahrnehmen. Griffin und Evelyn waren offenbar vor uns angekommen. Vor der Tür zögerte Dad und zog mich in eine Umarmung. »Ich liebe dich, Vi.«
»Ich dich auch, Dad.«
Doch als wir uns voneinander lösten und ich gerade die Tür aufstoßen wollte, hörten wir drinnen Griffins Stimme. Es gibt Momente, in denen man einfach erstarrt – Momente, in denen man irgendwie weiß, dass das, was man gerade sieht oder hört, wichtig ist.
»Zurück auf die Erde gezerrt zu werden in einer solchen Zeremonie – ich habe es aus jedem Blickwinkel heraus betrachtet, und ich habe dafür nur eine Erklärung.«
Lange herrschte Schweigen, bevor Evelyn etwas sagte: »Tu das nicht, Griffin.«
»Ihr habt euch geeinigt, nicht wahr? Als Violet geboren wurde?«
Ich kannte diesen Tonfall. Griffin hatte eine Mission.
Ich sah Dad an. Er hörte aufmerksam zu.
Warum klopft mein Herz so?
Wieder zögerte Evelyn mit ihrer Antwort. Wir hörten beide ihren tiefen Seufzer.
»Es war die einzige Möglichkeit, sie zu schützen. Lilith ist unsterblich. Sie wird immer einen Weg finden zurückzukehren. Schon immer wusste ich, dass Violet ihr vielleicht gegenübertreten muss. Ich war diejenige, die Lilith in die Hölle geschickt hat, und sie will Rache. Sie wird kommen und sich Violet holen.«
»Wolltest du deshalb, dass Violet eine Grigori wird? Damit sie eine Chance hat, sich zu wehren?«
»Nein«, erwiderte sie scharf. »Niemals. Ich hätte James und sie weit weg gebracht, wenn das eine Option gewesen wäre. Ich hätte sie selbst beschützt, aber … Sie haben sie gebraucht.«
Ich schluckte schwer.
»Du hast mit den Engeln eine Vereinbarung getroffen?«, hakte Griffin nach.
»Zwei Dinge. Dass Violet die Partnerin von einem Grigori wird, der von den Herrschaften abstammt, und dass Lilith zu Violets Lebzeiten zurückkehrt, damit ich mit ihr zusammen zurückkehren kann.«
Meine Augen wurden groß, und ich merkte, wie ich über diese Enthüllungen den Kopf schüttelte, weil ich nicht wollte, dass mich diese Worte erreichten. Man konnte ihr nicht trauen.
»Und der Preis?«
»Das ist jetzt nicht die Zeit dafür«, erwiderte Evelyn. Ihr Tonfall war eindeutig warnend.
»Also ich finde, dafür ist es höchste Zeit. Wo genau bist du in den letzten siebzehn Jahren gewesen, Evelyn?«
Dad stand wie gelähmt da, seine Hand lag flach auf der Tür.
»Nicht jetzt«, beharrte sie, doch ich wusste, dass Griffin nicht nachgeben würde. Mich befiel eine schreckliche Vorahnung.
»Wenn die Vereinbarung darin bestand, dass du gleichzeitig mit ihr auferstehst, dann musstest du mit ihrer Lebenskraft verbunden sein. Das ist die einzige Möglichkeit, und das wissen wir beide. Evelyn, sag mir jetzt nicht, dass du die letzten siebzehn Jahre in den feurigen Gruben der Hölle gefangen warst.«
Man hörte Bewegung und ich vermutete, dass sie jetzt auf und ab ging. Das half Dads Wimmern zu übertönen.
»Es ist sinnlos, dich anzulügen. Du kennst die Wahrheit bereits«, sagte Evelyn.
Ich hörte praktisch auf zu atmen. Griffin würde es wissen, falls sie log, doch ich konnte es nicht akzeptieren. Es konnte nicht wahr sein. Es konnte einfach nicht.
Sie hat mich eingetauscht, mich weggegeben. Nicht … das. Nein. Nein!
Ich sah Dad an. Ich hatte ihn noch nie so sprachlos, so leer gesehen. Unsere Blicke trafen sich und ich schüttelte den Kopf.
»Sie lügt«, flüsterte ich. »Sie lügt!«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, seine Augen füllten sich mit Tränen, und als er mich ansah, lag in seinem Blick etwas Neues – eine Finsternis voller Furcht und Zorn. Nein … voller Vorwürfe.
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Man kann ihr nicht trauen«, hörte ich mich selbst verzweifelt sagen. Und dann passierte es.
Wut überkam ihn, und er schlug mir ins Gesicht.
Ich hatte es kommen sehen. Ich hatte gewusst, was er tun würde. Und ich kam überhaupt nicht auf den Gedanken, ihm auszuweichen. Seine Hand erwischte mich oben an der Wange – es tat mehr weh als alle Schläge, die ich je hatte einstecken müssen.
Dad schnappte nach Luft, er ließ seine Hand in die andere fallen, als wollte er sie zurückhalten, schockiert sah er mich an.
Ich taumelte zurück an die Wand, meine eine Hand bedeckte die brennende Wange.
Wir mussten laut gewesen sein, denn die Wohnungstür wurde aufgerissen.
»James!«, rief Evelyn, ihr Blick wanderte zwischen uns hin und her. »Oh, Gott, ihr habt es gehört.«
Ich starrte auf meine Füße – unfähig, einen von ihnen anzuschauen – und spürte, wie mir die Tränen kamen.
Nicht jetzt, nicht jetzt. Nicht weinen.
»Violet?« Beim Klang von Griffins Stimme blickte ich auf.
Eine Ohrfeige ist für einen Grigori nicht mehr als ein Kitzeln. Griffin selbst hatte mir unzählige spielerische Schläge verpasst, um mich abzuhärten. Doch was Dad getan hatte, das Gefühl und der Vorsatz, der dahintersteckte … traf mich auf so viele schmerzhafte Weisen. Griffin musste das alles in meinen Augen gesehen haben. Und was noch schlimmer war – in seinen Augen erkannte ich Mitleid.
Schluck es einfach, Vi.
Ich stand auf, blinzelte die Tränen weg und räusperte mich. Ich würde nicht schwach sein.
»Griff, wartest du kurz? Ich komme mit dir.«
Als ich gerade dabei war, den Reißverschluss an meiner Tasche zuzumachen, betrat Evelyn mein Zimmer.
»Nicht«, sagte ich und hielt die Hand hoch, damit sie, was immer sie gerade sagen wollte, für sich behielt. »Lass es einfach.« Ich warf mir meine eine Reisetasche über die Schulter und schnappte mir die andere, wobei ich nicht anhielt, um sie anzuschauen, als ich zur Wohnungstür ging, wo sich Griffin und Dad unterhielten.
Dad hatte sich erholt und seine Stimme wiedergefunden. »Ich komme mit nach New York«, sagte er.
Griffin versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich verstehe, wie du dich fühlst, aber sie werden es nicht zulassen, James. Die Akademie lässt keine Nicht-Grigori zu.«
»Das ist mir gleichgültig. Ich gehe mit ihr«, sagte Dad erbittert.
Ich wusste, dass er mit »ihr« nicht mich meinte.
Ich ging zu ihnen. »Schon gut, Griff. Wir werden einen Weg finden.« Ich warf Dad einen ausdruckslosen Blick zu. »Du wirst mit ihr gehen können, dafür werde ich sorgen.« Dann wandte ich mich an Griffin und nickte, um ihm mitzuteilen, dass ich bereit war zu gehen.
»Violet, warte!«, sagte Dad.
Mit gesenktem Kopf blieb ich stehen.
»Ich … es tut mir so leid. Ich habe den Kopf verloren. Ich weiß nicht, was da gerade passiert ist – ich habe einfach durchgedreht. Die Vorstellung, dass sie … All diese Zeit. Bitte verzeih mir.«
Doch das konnte ich nicht. Ich wusste zwar ebenfalls nicht, was da gerade passiert war, doch meine Reaktion darauf bestand jedenfalls nicht darin, ihm die Schuld dafür zu geben. Deshalb schüttelte ich den Kopf, ignorierte die Tränen in meinen Augen und ging zum Aufzug.