Kapitel Acht

»Keiner entscheidet sich für das Böse, weil es böse ist … es wird nur mit Glück verwechselt, oder mit dem Guten, das man sucht

Mary Wollstonecraft Shelley

Die Autofahrt verlief schweigend – Griffin überließ mich meinen Gedanken, während ich aus dem Fenster starrte und mich fragte, wie alles so weit hatte kommen können.

Als er vor Lincolns Lagerhalle anhielt, räusperte er sich und riss mich dadurch aus meinen Gedanken. »Alles in Ordnung?«

Ich umklammerte meine Taschen. »Klar. Sag der Akademie, dass ich nur komme, wenn Dad mich begleiten darf.«

»Vielleicht lehnen sie das ab.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich auch nicht gehen. Sag ihnen, dass das meine Bedingung für eine Zusammenarbeit ist.«

Er nickte. »Okay. Das mache ich.«

Ich sah aus dem Fenster, und Griffin fing an, auf das Lenkrad zu trommeln. Es begann zu regnen.

»Violet, er hat es nicht so gemeint.«

Da war ich mir nicht so sicher. Dad war in vielerlei Hinsicht auf die Probe gestellt worden, und seine Loyalität Evelyn gegenüber hatte das alles überstrahlt. Ich schluckte. »War sie wirklich in der Hölle?«

»Ja«, sagte er mit einer Sicherheit, wie sie nur Griffin, der ein Wahrheitssucher war, vermitteln konnte.

»Warum hat sie das getan?«

»Sie ist eine Kriegerin. Sie wusste, was auf dem Spiel stand. Ich glaube, sie dachte, dass du die besten Chancen hättest, wenn sie die Angelegenheit auf diese Weise regelte.« Er zeigte auf Lincolns Haustür, die bereits offen war. Lincoln hatte offenbar gespürt, dass ich kam. »Ist das der beste Ort für dich?«

Ja. Nein. Vielleicht.

Weil ich die Antwort nicht kannte, öffnete ich die Autotür.

Griffin packte mich am Arm, bevor ich ausstieg, in seinen Augen lag ein Versprechen. »Danke, Violet. Ich weiß, dass du nur an die Akademie gehst, weil ich dich darum gebeten habe. Ich will, dass du weißt, dass du nicht allein bist. Du gehörst zu meiner Gruppe, und meine Grigori halten zusammen.«

Ich wusste, dass das stimmte. Eines musste man meinen Freunden lassen: Keiner von ihnen war ein Feigling.

»Danke, Griff«, sagte ich. Ich fühlte mich geehrt, wollte aber dennoch das Thema wechseln. »Glaubst du, dass Dapper alle Zutaten finden kann?«

Als wir Dappers Wohnung verließen, hatten wir unter den Hunderten von Büchern, die in seiner geheimen Bibliothek versteckt waren, das Buch gefunden, das uns seiner Meinung nach die richtige Richtung weisen konnte. Allerdings hielt er sich bedeckt in Bezug auf seine Theorie hinsichtlich der giftigen dreizehnten Zutat. Er hatte darauf bestanden, sich mit seinen Brüdern zu beraten, bevor er etwas verriet.

»Wenn es irgendjemand schafft, dann Dapper«, seufzte Griffin. Er war erschöpft. »Wir treffen uns morgen früh mit ihm und machen einen Plan.«

Ich nickte. »Frühstück im Hades?«

»Ja. Und dieses Mal bleiben wir unter uns«, sagte er und ließ mich damit wissen, dass ich Evelyn nicht würde sehen müssen.

Lincoln stand an der Tür, als ich die Treppe hinaufging, sein Blick ruhte auf meinen Taschen.

Ich straffte meine Schultern. »Ich ziehe bei dir ein«, sagte ich schlicht. »Jedenfalls für heute Nacht.« Doch als ich mit all meinem vorgetäuschten Mut an ihm vorbeiging – was er natürlich geradewegs durchschaute –, packte er mich an den Handgelenken und zog mich in eine Umarmung, in die ich mich hilflos sinken ließ. Er kannte mich nur allzu gut.

»Dad hat mich geschlagen«, sagte ich zu seiner Brust und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Lincoln spannte sich an, so wie er es immer tat, wenn er versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken.

»Und Evelyn hat offenbar die letzten siebzehn Jahre in der Hölle festgesteckt«, fügte ich hinzu.

Er drückte mich noch fester, und ich war betroffen, als ich merkte, dass er sich das bereits gedacht hatte.

Bin ich etwa die Einzige, die nicht dahintergekommen ist?

Und dann kam der Übelkeit erregende Gedanke … Hatte ich es tief in meinem Inneren auch gewusst?

»Kann ich bleiben?«, fragte ich, kurz davor, die Nerven zu verlieren.

Lincoln strich mir über das Haar. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass du hier immer ein Zuhause hast.«

Er nahm mir die Taschen ab, schob mich in Richtung Espressomaschine und brachte meine Sachen geradewegs in sein Zimmer.

»Wo ist Spence?«, fragte ich, als er zurückkam.

»Er übernachtet bei Zoe und Salvatore«, antwortete er. »Willst du was essen?«

Verlegen lächelte ich. »Ich bin am Verhungern.«

Es war fast zwei Uhr morgens, und es war ein langer Abend gewesen, aber Lincoln machte Pizza und wir setzten uns aufs Sofa, schauten uns einen Actionfilm an und lachten mit dem Mund voll heißer käselastiger Pizza über all die Spezialeffekte.

Die Dinge, die passiert waren, erwähnten wir mit keinem Wort, auch nicht das, was uns bevorstand. Es schien, als wären wir noch immer bei unserem »Spaß-Abend« und ich war dankbar für die Verschnaufpause. Wir taten, als wären wir ganz normal, und einige Zeit später, nachdem wir unser Schokosplitter-Eis verputzt hatten, schliefen wir auf dem Sofa ein – sein Arm um meinen Körper, um mich vor der Welt zu beschützen. Es tat weh – diese seelentiefen Schmerzen, die an die Oberfläche drängten. Aber das war es wert.

»Es wird immer schwieriger, dich aufzuspüren, Liebling«, sagte Phoenix.

Erschrocken sah ich mich um. »Wie … ich verstehe nicht «, stotterte ich.

Wir standen in dem Café, das er früher »unser Café« nannte, dem Dough to Bread. Es war leer. Kein Personal, keine Gäste, nur ein Tisch und zwei Stühle. Ich saß auf dem einen, Phoenix auf dem anderen.

Er trommelte mit den Fingerspitzen einen nicht existierenden Rhythmus auf die Tischplatte. »Die Dinge laufen nicht so, wie ich geplant habe«, sagte er.

Ich betrachtete noch immer die Umgebung, dann sprang ich abrupt auf. »Du hast mich in deine Traumlandschaft gezogen!«, schrie ich.

Das letzte Mal, als mir das jemand angetan hatte, der nicht der Engel war, der mich gemacht hat, war ich aufgewacht und stand mit Blut an den Händen über einem toten Menschen. Ich rannte zur Tür des Cafés, aber als ich sie aufmachte, schnappte ich nach Luft. Außerhalb des Cafés war nichts. Leerer Raum. Ein Strudel.

Phoenix stand hinter mir.

»Wir müssen reden. Und das war die einzige Möglichkeit. Es hat mich bereits Wochen gekostet, bis ich deine Schutzschilder durchbrechen konnte. Du hattest wohl einen schlechten Tag

Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme ging mir auf die Nerven. Es machte mich wütend, dass er einfach in meine Gefühle eintauchen konnte, um an mich heranzukommen. Ich schlug die Tür zu und wirbelte zu ihm herum. Er war so nah. Instinktiv holte ich aus und schlug ihm ins Gesicht.

Er taumelte nach hinten. Ich bewegte mich vorwärts und nutzte meinen kleinen Vorteil aus. »Schick mich zurück!«, verlangte ich. Alles, woran ich denken konnte, war das letzte Mal, als ich im Traum in der Macht eines Verbannten gewesen war … Ich musste die Kontrolle erlangen.

Phoenix grinste und wischte sich den Blutstropfen ab, der von seiner Nase lief. »Träume tun weh«, sagte er schulterzuckend, bevor sein Blick wieder zu mir zurückkehrte. »Eigentlich nichts Neues

Ich sah ihn aus schmalen Augen an, und er ging blitzschnell in die Hocke, sein Bein schoss nach vorne und riss meine Füße unter mir weg. Ich landete auf dem Rücken.

Er hatte recht. Träume taten weh.

Er stürzte sich auf mich und drückte mich nach unten. »Ich habe doch gesagt, wir müssen reden, Liebling. Ich habe beträchtliche Mühen in Kauf genommen, um das zu ermöglichen

Erst da bemerkte ich seinen angestrengten Gesichtsausdruck. Es fehlte nicht viel, und er hätte gezittert.

»Du kannst mich nicht festhalten«, sagte ich.

Er lächelte. »Du wirst stärker, das muss ich zugeben Er beugte sich näher zu mir. Seine Kraft hielt mich am Boden, doch selbst wenn das nicht so gewesen wäre, hätte ich mich in diesem Moment nicht bewegen können, weil ich unter dem Blick aus seinen schokoladenbraunen Augen machtlos war.

»Ich könnte es tun, das weißt du. Selbst hier, in unseren Träumen, könnte ich dir alles geben, was du ersehnst, und alles wegnehmen, was du nicht willst«, sagte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Murmeln, als er mich mit der Aussicht auf seine empathischen Fähigkeiten reizte. Genau die Fähigkeiten, gegen deren Erinnerung ich so erbittert kämpfte, aber nie siegte. Phoenix konnte reine Glückseligkeit vermitteln, wenn er wollte.

Ich war mir seines Körpers, wie er auf meinem lag, nur allzu bewusst und hasste es, dass sich bei der Vorstellung, mich seiner Macht zu fügen, etwas in mir rührte. Ich knirschte mit den Zähnen, um der Versuchung zu widerstehen.

»Warum tust du es dann nicht?«, sagte ich herausfordernd.

Er beugte sich näher, seine Lippen waren so nah, dass sie meine streiften, als er sprach. »Ich werde dich nicht zwingen, Liebling. Egal, was du von mir denkst, trotz meiner früheren … Ausrutscher – so ein Mensch bin ich nicht

Ich drehte den Kopf zur Seite und fing an, mich auf meinen Willen zu konzentrieren, auf die eine Sache, von der ich wusste, dass sie mich aus diesem Traum herausholen würde.

»Ich dachte, du wärst gar kein Mensch. Du hast doch gesagt, du wärst jetzt ganz Verbannter Ich versuchte, meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Wenn ich mich nicht selbst unter Kontrolle hatte, dann hatte ich keine Chance, da wieder rauszukommen.

»Lilith wird jeden Tag stärker«, sagte er.

Ich hatte keine Lust, mir anzuhören, wie er sich damit brüstete, dass sie bald allmächtig sein würden.

»Bald wird keiner von deinen Grigori mehr in der Lage sein, sie aufzuhalten«, fuhr er fort.

Ich spürte eine Kraftwelle in mir, als ich handgreiflich wurde, um von ihm loszukommen. Plötzlich waren wir beide wieder auf den Füßen und standen auf gegenüberliegenden Seiten des Cafés. Zu jeder anderen Zeit wäre das cool gewesen, aber nicht jetzt.

Phoenix’ Augen wurden groß und er streckte die Hand aus. »Nein, Violet, bitte! Wir müssen reden

Ich schüttelte den Kopf, endlich hatte ich mich wieder unter Kontrolle. »Damit du mir sagen kannst, wie wir alle sterben werden? Das glaube ich kaum Ich trat einen Schritt zurück und die Wand hinter mir verschlang mich.

Phoenix schrie. »Warte! Ich brauche dich!«

Mit einem Ruck wachte ich auf und schnappte keuchend nach Luft.

Oh, Gott. Oh, Gott.

Ich fuhr mir mit den Händen durch das feuchte Haar. Lincoln schlief immer noch auf dem Sofa. Ich überlegte, ob ich ihn aufwecken sollte, aber er schlummerte so friedlich, dass ich es einfach nicht übers Herz brachte.

Warum ist er zu mir gekommen? Nur um mich zu quälen?

Meine Hände zitterten und meine Gedanken rasten.

Warum gingen mir seine letzten Worte nicht mehr aus dem Kopf? Und dieser Blick in seinen Augen

Da ich unmöglich weiterschlafen konnte, stand ich auf und zog das Laken an der Wand zurück, die Lincoln freigelassen hatte, damit ich sie bemalen konnte.

Irgendwie spürte ich, dass ich an einem Abgrund stand, dass dies einer dieser Jetzt-oder-nie-Momente war. Lange hatte ich Lincoln damit genervt, mir diese leere Fläche zu überlassen. Jetzt lag sie vor mir und zeigte nichts als eine einzige weiße Lilie. Nun wusste ich zum ersten Mal, was auf dieser Wand abgebildet sein sollte.

Es war bereits Morgen, als ich mit Malen fertig war. Heute würden wir nach New York aufbrechen und niemand wusste, was uns erwarten würde. Ich ließ das Laken wieder darüber fallen und räumte auf.

Kurz danach wachte Lincoln auf. »Es riecht nach Farbe«, sagte er, als er sich streckte. Ich versuchte, den dadurch freigelegten Streifen Haut zwischen seinem T-Shirt und seiner Jogginghose nicht anzuschauen, und wurde rot, als er mich dabei ertappte, dass ich doch hinschaute.

»Alles okay?«, fragte er vorsichtig.

»Kaffee?«, fragte ich und reichte ihm eine Tasse. »Griffin will, dass wir ihn in einer halben Stunde im Hades treffen.«

Er stöhnte, nahm dankbar einen Schluck und warf einen Blick auf die inzwischen wieder verhüllte Wand. »Darf ich es sehen?«

»Erst wenn das alles vorbei ist, okay?«

Er machte den Mund auf, um zu protestieren, sah dann wohl aber die Bitte in meinen Augen und nickte einfach.

Habe ich schon erwähnt, dass ich dich liebe?

Ich stellte meine leere Tasse ab und setzte mich ganz zwanglos neben ihn.

»Ach übrigens, heute Nacht hat mich Phoenix besucht.«