Kapitel Fünfzehn
»Die reine und einfache Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.«
Oscar Wilde
Ich war im Hades. Ich konnte die Musik nicht hören, aber ich spürte, wie sie in meinem Körper vibrierte.
Ich wirbelte herum. Hinter mir stand Phoenix. Er sah … älter aus. Nein, ernster. Und deswegen irgendwie noch schöner. Er trug eine schwarze Hose und ein mitternachtsblaues tailliertes Hemd. Er rollte seinen rechten Ärmel hoch, damit er zum linken passte. Eine ganz einfache Handlung, und doch beanspruchte sie meine volle Aufmerksamkeit. Als würde jeder aufgerollte Ärmel für etwas Größeres stehen, und sein abgewandter Blick so viel mehr bedeuten. Und doch war da auch die Gefahr. Die stets präsente Gefahr, die in den Schatten lauerte und ihn begleitete.
»Was willst du, Phoenix?«, fragte ich und verschränkte die Arme.
Er sah mich mit geneigtem Kopf an und begann zu sprechen. Doch ich konnte ihn nicht hören.
Dann bemerkte ich, dass zwischen uns etwas war, das aussah, wie eine Wand aus Flüssigkeit. Sie war ganz um mich herum gebaut. Ich wusste nicht, ob sie mich gefangen halten oder ihn aussperren sollte. Auch wusste ich nicht, zu wem sie gehörte – zu mir, zu ihm oder zu jemand anderem.
Er merkte, was passierte, und studierte, was uns trennte. Er seufzte. Unter seinen Augen waren Ringe und ich spürte, wie unwillkürlich Sorge um ihn in mir aufkeimte, aber das genügte, um mich wieder zur Besinnung zu bringen. Ich schüttelte den Kopf und erinnerte mich an meine Auseinandersetzung mit Onyx.
Ich musste die Kontrolle behalten.
Phoenix drückte mit der Hand gegen den Schleier aus Flüssigkeit und zog die Augenbrauen zusammen, er wusste nicht, was er jetzt tun sollte.
Ich drückte meine Schultern nach hinten. »Geh, Phoenix«, sagte ich.
Er nickte traurig. Offenbar konnte er mich hören.
Langsam begann ich, mich von ihm und dem Traum zurückzuziehen. Die Vision löste sich allmählich auf.
»Geh nicht!«, sagte er so deutlich, dass ich es an seinen Lippen ablesen konnte.
Ich durfte ihn nicht in meine Gedanken lassen. Durfte nicht zulassen, dass er mich manipulierte, wie er es immer tat.
Ich zwang den Traum zu verschwinden.
Als ich aufwachte, war Lincoln bereits angezogen. Er war offenbar weg gewesen, um seine Sachen zu holen. Er hatte mich bis zum Hals zugedeckt und saß nun auf der Bettkante und beobachtete mich. Phoenix’ Besuch in meinem Traum spukte mir durch den Kopf. Ich war mir nicht sicher, ob die Trennwand von mir kam, aber ich hatte die Gewissheit, dass ich in Zukunft in der Lage war, mich aus gemeinsamen Traumwelten zu entfernen. Das war gut.
Warum hatte ich dann so Magenschmerzen?
Lincoln räusperte sich. Ich blinzelte und nahm das Glas Wasser, das er mir reichte.
»Bin ich zerzaust?«, fragte ich und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
»Extrem«, sagte er grinsend.
»Irgendwelche Besucher?«, fragte ich etwas besorgter.
Abgesehen von dem in meinem Traum.
»Nein. Ich war kurz weg, um Griff zu treffen. Er weiß, dass du dich ausruhst und hält den Mob fern.«
»Wie geht es dir?«, fuhr ich fort und beschloss, Lincoln nicht mit meinem Traum zu belasten. Er würde sich nur Sorgen machen.
»Ich fühle mich eigentlich fantastisch, und ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen deswegen«, sagte er und senkte den Blick.
Ich streckte mich aus und deutete auf mein Oberteil, das jetzt am Fußende des Bettes hing. Als Lincoln die Hand ausstreckte, um es mir zu reichen, sagte ich: »Das brauchst du nicht. Ich fühle mich auch gut. Wenn wir auf diese Weise gemeinsam heilen, sind wir so viel stärker. Das scheint uns immer beide aufzuladen. Als würde man Starthilfe kriegen.«
Er nickte, wollte das Thema aber nicht weiter verfolgen. »Fühlst du dich fit genug zum Rausgehen?«
»Klar. Warum?«
Er stand auf und drehte mir höflich den Rücken zu, als ich mich aufsetzte. »Zuerst essen wir etwas und dann bringe ich dich zu deinem Zimmer. Zoe hat dafür gesorgt, dass alle deine Sachen dorthin gebracht wurden.«
»Und dann?«, fragte ich, während ich mein Oberteil anzog und mir weiterhin mit den Fingern die Haare kämmte.
»Josephine will dich in ihrem Büro sehen.«
Ich Glückspilz.
»Gibt es etwas Neues über Lilith oder Phoenix?«
Er zuckte mit der Schulter. »Das werden wir hoffentlich bald herausfinden.«
Mein Zimmer war nicht annähernd so beeindruckend wie Lincolns. Und es musste für Zoe und mich reichen.
»Das ist unfair«, brummte ich Zoe zu, während ich ein paar Kleider auf das Bett warf. Ich suchte nach einem passenden Outfit, nachdem ich in der winzigen Nasszelle von einem Bad eine Dusche genommen hatte.
»Ja, na ja, du solltest erst mal die Einzelzimmer sehen. Wenigstens können wir ausgestreckt in unseren Betten liegen«, erwiderte sie, während sie Poster aus ihrer unteren Schublade nahm und an die kahle, graue Wand über ihrem Bett hängte.
»Mit wem hast du bisher das Zimmer geteilt?«, fragte ich und entschied mich für eine schwarze Jeans und einen leichten roten Pulli.
»Mit einem Mädchen namens Eleanor. Sie hat vor ein paar Monaten ihren Abschluss gemacht. Sie und ihr Partner sind jetzt in Deutschland, glaube ich«, sagte sie schulterzuckend. »Wir standen uns nie besonders nahe.«
»Wie kommt es, dass Lincoln so ein schickes Zimmer bekommen hat?«
Zoe kickte ihre Taschen unter das Bett und klopfte sich den Staub von den Händen. »Weiß nicht. Er hat eine der besten Suiten bekommen. Abgesehen von Grigori-Anführern bekommt diese Zimmer sonst niemand. Jemand hält ihn offenbar für sehr wichtig.«
Das war interessant.
Zoes Blick blieb an mir hängen, und schließlich verdrehte sie die Augen. »Wirst du mir jetzt sagen, was passiert ist? Alle reden darüber.«
Ich seufzte. Ich war noch nicht bereit, meine Vorstellung im Rat noch einmal zu durchleben. »Später?«, bat ich sie.
Sie zögerte und ich dachte schon, sie würde widersprechen, aber stattdessen nickte sie. »Gut. Aber dann will ich alle Details hören.«
Nachdem wir uns fertig eingerichtet hatten, führte mich Zoe durch die Korridore und den unsichtbaren Tunnel zwischen den Gebäuden, den Skywalk, zurück in das Glasgebäude, das offenbar als »Kommandozentrale« bekannt war. Dort befanden sich alle Trainingsräume und offiziellen Ratsräume. Zoe erklärte, dass es insgesamt fünf Gebäude gab. Gebäude B, wo sich unsere Zimmer befanden, und Gebäude C bestanden aus Unterkünften. Gebäude A beherbergte Sporthallen und Entspannungsbereiche sowie eine riesige Kantine und eine weitere große Cafeteria. Gebäude D war für den Unterricht der Akademie. Alle neuen Grigori durften sich am Anfang ihrer Ausbildung nur in diesem Gebäude aufhalten.
Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass das nicht auch für mich galt.
Jetzt wo ich ein paarmal den Skywalk benutzt hatte, konnte ich den leichten goldenen Schimmer an den Rändern sehen, von dem Morgan erzählt hatte.
»Das ist wirklich erstaunlich«, sagte ich, während wir ihn durchquerten.
Zoe nickte. »Ein absoluter Publikumsliebling.«
Ich hüpfte auf dem unsichtbaren Boden auf und ab. Er war vollkommen fest. »Aus was besteht er?«
»Aus verstärktem Glas«, sagte sie, während sie eine Packung M&Ms herauszog. Sie musste wirklich eine Art unerschöpflichen Vorrat davon haben. »Valerie und Hakon haben ihn mit einer sehr starken Blendung versehen.«
Ich war völlig fasziniert davon. »Fliegen keine Vögel dagegen? Oder Flugzeuge?« Wenn niemand den Skywalk sehen konnte, stellte er doch bestimmt eine Gefahr dar.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns in einer strikten Flugverbotszone, und die Blendung beinhaltet irgendwas, das Vögel abwehrt.«
Ich konnte das immer noch nicht begreifen. »Was ist, wenn es regnet – sieht man dann nicht, wie das Wasser dagegen spritzt?«
»Nein. Wenn man von der Straße nach oben schaut, spiegelt die Blendung einfach das Bild über dem Skywalk wider, deshalb sieht man, wenn es regnet, einfach nur den Regen, der über dem Tunnel fällt.«
»Wow.«
»Ja«, sagte sie und schob sich einige M&Ms in den Mund.
Am Anfang eines langen Korridors blieb sie stehen und deutete auf die Doppeltür an seinem Ende. »Josephines Büro ist hinter dieser Tür. Ich bin jetzt mit Spence verabredet. Er hat sein Disziplinarverfahren hinter sich. Valerie lässt ihn heute Abend wieder mit dem Training anfangen. Ich habe versprochen, gegen ihn anzutreten.« Sie warf sich ein paar weitere M&Ms ein. »Ich werde ihn in den Hintern treten.« Sie ließ die Augenbrauen auf und ab tanzen.
Armer Spence. Zoe kämpfte wie eine Katze – eine Katze mit besonders scharfen Krallen. »Bis dann«, sagte sie, als sie mich verließ, damit ich den Rest des Weges allein ging.
Josephines Tür stand ein wenig offen, und ich konnte ihre Stimme von draußen hören. Ich wusste, dass sie wohl mit Lincoln sprach, den sie kurz vor mir zu sich bestellt hatte.
»Du hattest schon immer großes Potenzial, Lincoln. Ich hatte große Hoffnung in dich gesetzt. Ich muss sagen, als du heute Morgen gegen Seth angetreten bist, haben sich meine Vermutungen noch bestätigt, dass du eines Tages für einen Platz im Rat geeignet sein könntest. Damit wärst du der erste Grigori von einem der Herrschaften, der so hoch aufgestiegen ist.«
»Ein Sitz im Rat wäre eine große Ehre für mich«, sagte Lincoln.
»Das wäre es in der Tat. Aber ich will ehrlich mit dir sein – wenn du deinen Weg so weitergehst wie bisher, sehe ich das nicht vor mir. Deine Verbindung zu diesem Mädchen vernebelt dein Urteilsvermögen. Du stellst sie über deine Pflichten dem Rat gegenüber.«
Als nichts als Stille folgte, hörte ich Josephine seufzen.
»Lincoln, sie ist keine von uns – ich habe einen Blick für diese Dinge. Du fühlst dich ihr moralisch verpflichtet, was bewundernswert ist, aber du musst darüber hinausschauen und das Gesamtbild sehen.« Wieder stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Ich finde, du solltest in Betracht ziehen, einen Ersatzpartner zu beantragen. Griffin und ich sind beide in der Lage, uns in deinem Auftrag an die Seraphim-Anführer zu wenden.«
Ich hatte die Nase voll davon, Gespräche von der anderen Seite der Tür mitzuhören. Ich hatte die Nase voll davon, von Leuten im Stich gelassen zu werden und nur durch Lauschen herauszufinden, was wirklich in der Welt vor sich geht.
Lincolns Kraft streichelte mich zart und sandte einen warmen Schauder durch meinen Körper. Ich lächelte, als mir klar wurde, dass er mich damit daran erinnerte, dass er mich auch über größere Entfernungen noch spüren konnte, genau wie ich ihn.
»Ich werde darüber nachdenken, Josephine«, sagte er, seine Reaktion war so unverbindlich, dass ich fast losgelacht hätte.
Ihre Stimme wurde eine Spur leiser. »Warum bin ich dann so sicher, dass du es nicht tun wirst?«
»Weil sie meine Partnerin ist«, sagte er, als würde das alle Fragen beantworten. »Soll ich sie jetzt hereinholen?«, fügte er hinzu, womit er Josephine nicht allzu diskret mitteilte, dass ich direkt vor ihrer halb offenen Tür stand.
Ein Punkt für uns!
Die Tür schwang auf, Lincoln stand davor und winkte mich mit einem Zwinkern herein. Wie es aussah, war Josephine nicht die Einzige, die in Wortgefechten triumphieren konnte.
Josephine hatte eine lange Liste mir Dos und Don’ts, die sie unbedingt mit mir durchgehen wollte. Ich achtete nur auf die Überschriften. Ab morgen wurde von mir erwartet, dass ich am Akademie-Training teilnahm. Wie Spence würde ich nicht am normalen Unterricht teilnehmen müssen, aber es würden spezielle Theoriesitzungen stattfinden, um mich in Grigori-Geschichte auf den neuesten Stand zu bringen. Sehr zu Josephines Überraschung war ich froh, das zu hören.
Der Teil, der mich nicht so begeisterte, war, dass ich die Akademie erst wieder verlassen durfte, wenn ich meine Prüfung in drei Wochen abgelegt hatte. Außerdem musste ich mir einen älteren Grigori von der Akademie als Mentor aussuchen, der mich darauf vorbereiten sollte. Bis zum Abend des nächsten Tages sollte ich jemanden nennen.
Ich erklärte mich mit allem einverstanden, dann fragte ich: »Wo sind meine Eltern?« Ich konnte mich gerade noch bremsen hinzuzufügen: »Und wann kann ich sie sehen?« Um ehrlich zu sein war ich mir nicht sicher, ob ich dazu schon bereit war.
Josephine schürzte die Lippen. »Sie sind in der Arrestzelle im Stockwerk unter uns. Sie werden dort bleiben, bis uns Evelyn einen vollständigen Bericht geliefert hat. Da es dein Vater jedoch verlangt hat, werde ich arrangieren, dass du zu gegebener Zeit Zugang zu ihm bekommst, aber die Besuche finden unter Aufsicht statt.«
Ich starrte sie kühl an. »Dir ist schon klar, dass es nichts bringt, sie einzusperren. Sie ist eine Grigori, genau wie du. Alles, was sie will, ist, Lilith aufhalten, mehr hat sie nie gewollt.«
»Wir haben unsere Gründe. Es ist nicht an dir, sie zu hinterfragen, Violet.«
Josephine lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und machte ein arrogantes Gesicht.
Sie führte etwas im Schilde. Warum war es ihr so wichtig, Evelyn wegzusperren? Was konnte sie gewinnen, wenn sie sie hier festhielt? Mich? Nein, es war mehr als das. Alles, was Josephine tat, war voller Berechnung. Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke: »Willst du, dass Lilith hierher kommt, um sie sich zu holen?«
Lincoln richtete sich auf seinem Stuhl auf, als Josephine das nicht sofort bestritt.
»Du hast sie eingesperrt, damit sie wehrlos ist, weil du glaubst, dass Lilith verrückt genug ist, in die Akademie einzubrechen, nur um sie umzubringen!«, schrie ich und sprang auf die Füße.
Josephine erwiderte immer noch nichts.
»Stimmt das?«, fragte Lincoln.
Endlich winkte Josephine verächtlich ab. »Selbst wenn das passieren sollte, wovon ich nicht sage, dass es unsere Absicht ist – deine Eltern werden gut bewacht und befinden sich innerhalb der Schutzvorrichtungen der Akademie. Kein Verbannter, absolut niemand könnte ihnen jemals zu nahe kommen.« Sie lächelte schmal. »Evelyn wird ohne meine Erlaubnis nirgendwohin gehen.«
Bevor ich widersprechen konnte, stand Lincoln auf und legte mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Sind inzwischen weitere Hinweise auf Liliths Verbleib zu dir durchgekommen?«, fragte er.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit ihren perfekt manikürten Fingernägeln zu. »Noch nicht, aber das kommt noch. Griffin hat eure Theorien bezüglich der vermissten Kinder an uns weitergegeben. Wir müssen uns darüber noch eine Meinung bilden, aber wir untersuchen das.«
Ich bemühte mich sehr, nicht die Augen zu verdrehen. Sie wusste genauso gut wie wir, dass diese vermissten Kinder kein Zufall waren. Und sie hatte offensichtlich nicht vor, uns irgendwelche Informationen mitzuteilen.
Als Lincoln mich zurück auf mein Zimmer brachte, kamen wir auf dem Flur an Mia und Hiro vorbei.
»Hey«, sagte Hiro. Er trug seine Wächteruniform, die ausschließlich schwarz war.
Lincoln und ich nickten ihm zu.
»Hi, Mia«, sagte Lincoln. »Schön, dich zu sehen.«
Mia nickte knapp. »Gleichfalls.« Sie würdigte mich kaum eines Blickes. »Violet.«
»Hi«, sagte ich und fragte mich, warum sie so distanziert war. Ich dachte, wir wären seit Santorin alle irgendwie befreundet, weil wir gemeinsam eine Schlacht geschlagen hatten.
»Wir sind im Dienst«, sagte sie.
»Klar«, sagte Lincoln. »Wir sehen uns später.«
Sie nickte, und die beiden gingen weiter.
»War das jetzt nicht seltsam?«, fragte ich Lincoln, sobald wir außer Hörweite waren.
»Nein. Sie konzentriert sich nur auf ihre Arbeit. So war sie schon immer.«
»Anzunehmen …«
Lincoln setzte mich in meinem Zimmer ab und versprach, später wieder zu kommen. Wir hatten vor, mit Griffin, Spence und Zoe zu Abend zu essen. Sie wollten mir noch genau sagen, was ich zu erwarten hatte, wenn morgen mein Unterricht beginnen sollte. Dem Grinsen auf Lincolns Gesicht nach freute er sich wohl schon darauf, wie ich die Praxis absolvierte. Ich beschloss, dafür zu sorgen, dass er stolz auf mich sein konnte. Als mein wichtigster Lehrer nahm er meine Leistungen sehr persönlich.
In meinem Zimmer fand ich eine Notiz auf dem Bett.
Liebe Violet,
ich freue mich, dass Du hier bist.
Meine Einladung steht noch – Du kannst Nyla jederzeit besuchen, wenn Du möchtest.
Ich habe die Wachen an der Tür darauf hingewiesen, dass Du eine zugelassene Besucherin bist.
Darüber hinaus wollte ich Dir meine Dienste als potenzielle Mentorin für Deine Vorbereitungen auf die Abschlussprüfungen anbieten. Das wäre eine große Ehre für mich.
Rania
Ich steckte den Zettel in meine Tasche und lächelte. Ich hatte soeben eine Mentorin gefunden.
Nach dem Duschen kam ich aus dem Badezimmer und traf auf Zoe, die auf dem Bett saß und viel zu selbstzufrieden wirkte.
»Du hast Spence wohl geschlagen?«, sagte ich, und fragte mich, wie schlecht seine Stimmung beim Abendessen sein würde.
»So könnte man es auch sagen«, sagte sie. »Das war der größte Spaß seit Tagen.«
Ich lachte. »Du bist echt fies.«
»Ja, aber ich betrachte meine Fiesheit als Dienst am Gemeinwohl. Letztendlich wird meine Überlegenheit Spence zu einem besseren Kämpfer machen.«
Wir lachten beide.
Als wir uns wieder beruhigt und uns auf unserem jeweiligen Bett zurückgelehnt hatten, wälzte sich Zoe auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen.
»Also?«
»Also was?«, sagte ich und fuhr mir mit der Bürste durch das Haar.
Erwartungsvoll zog sie die Augenbrauen nach oben. »Wirst du mir jetzt davon erzählen?«
Ich fragte mich, ob mein Treffen mit dem Rat wohl geheim gehalten werden sollte, aber niemand hatte was davon gesagt. Und Zoe war unglaublich geduldig gewesen.
Deshalb erzählte ich alles – wie ich den Rat kennengelernt hatte, von Lincolns Kampf mit Seth und von Drensons Kraftprobe. Zoe setzte sich mit großen Augen auf ihrem Bett auf.
»Dann brachten wir Lincoln zurück in sein Zimmer und ich … weißt du …«
Sie zog ihre Augenbrauen nach oben. »Violet, warum wirst du rot?«
Da Steph in der nächsten Zeit abwesend sein würde, war Zoe gerade meine engste Freundin. Und ich musste mit jemandem über diese Dinge reden können.
Ich stöhnte. »Ich habe ihn geküsst.«
Zoe zwinkerte. »Oh, da wirst du mir jetzt noch viel mehr Einzelheiten erzählen müssen!«
»Das hilft mir beim Heilen – unsere Kräfte verschmelzen leichter, und wir werden beide dadurch wirklich stark.« Ich verzog das Gesicht, weil ich merkte, dass ich nicht vollkommen ehrlich war. »Okay, ich muss es eigentlich nicht mehr auf diese Weise machen, aber seine Schulter war ausgerenkt und ich dachte, die Ablenkung wäre … weißt du, sie würde helfen …«
Zoe bewahrte ihren ernsten Gesichtsausdruck und nickte. »Praktisch und bequem.«
Ich verdrehte die Augen.
»Und?«, drängte Zoe.
»Und … Es hat funktioniert. Ich habe seine Schulter eingerenkt und ihn geheilt, aber … Wir küssten uns immer noch und ich … ich glaube, ich war geschwächt, weil ich bereits so viel Kraft verbraucht hatte und irgendwie …«
»Irgendwie?«, sagte Zoe.
»Und ich habe mich irgendwie gehen lassen«, gab ich zu.
Als Zoe endlich aufgehört hatte zu lachen, sagte sie mir, was sie dachte. »Zunächst mal ist Lincoln fabelhaft und er liebt dich genauso sehr wie du ihn. Die Tatsache, dass ihr beide nicht zusammen sein könnt, ist der Inbegriff der Tragödie. Du brauchst dich deswegen nicht zu geißeln – wenn ich halb nackt auf ihm liegen würde, würde ich mich auch total gehen lassen!« Als sie sah, dass ich schmale Augen machte, fügte sie rasch hinzu: »Rein hypothetisch natürlich.«
Nachdem ich meinen Kopf wieder auf das Kopfkissen gelegt hatte, fuhr Zoe fort. »Die Frage, die ich mir stelle, ist folgende: Du sagtest, wenn Lincoln und du euch gegenseitig heilt, dann stärkt euch das beide, verjüngt euch oder was auch immer, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Dann … Wenn ihr es so schwer findet, euch voneinander fernzuhalten, und die Anstrengung euch erschöpft und schwach macht, wie du gesagt hast, würde es dann nicht mehr Sinn ergeben, wenn ihr doch zusammenkommen würdet, wenn ihr doch beide dann am stärksten seid?«
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen. Klappte ihn aber wieder zu.
Stille.
Mein Kopf wurde leer.
Was zum Teufel soll ich denn jetzt damit anfangen?