Kapitel Siebenundzwanzig
»Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist.«
Lukas 19, 10
Alles passierte so schnell.
Lincoln sprang von seinem Schaukelstuhl auf, machte einen Satz über das Geländer der Veranda und landete vor Phoenix auf dem Rasen. Schnell wie der Wind kam Phoenix näher.
Phoenix grinste Lincoln böse an und machte sich nicht die Mühe seinen Hass zu verbergen. »Kein Dolch. Ts, ts, wie nachlässig«, sagte er.
Inzwischen war ich auch auf dem Rasen und trat neben Lincoln. »Aber ich habe meinen«, sagte ich.
Phoenix wandte seine Aufmerksamkeit nicht von Lincoln ab, die beiden umkreisten einander.
»Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte von diesem Moment nicht geträumt – davon, dich ein für alle Mal auszuschalten«, sagte Phoenix höhnisch und bewegte sich in kurzen Windstößen.
Lincoln verfolgte ihn und holte ihn ein. »Lustig, du scheinst es nicht in meine Träume zu schaffen.«
»Das liegt daran, dass du von Dingen träumst, die ich schon hatte«, sagte Phoenix und deutete auf mich, wobei er Lincoln nicht aus den Augen ließ.
»Hör auf«, sagte ich warnend.
Phoenix lächelte Lincoln an. »Oh, und jetzt sind wir wohl aufgewacht.«
»Violet, geh ins Haus«, befahl Lincoln.
Das hat er gerade nicht wirklich gesagt.
»Du hast ihn gehört, Liebling. Er hat offenbar jede Menge Frustration angestaut.« Phoenix’ Lächeln wurde breiter. »Verständlich. Lass es ihn doch versuchen. Aber du solltest dabei sein, wenn er für seine Bemühungen verprügelt wird.«
Ich sah die beiden aus schmalen Augen an, dabei schob ich meine Sinne nach außen und suchte so weit ich konnte die Gegend ab. Es waren keine weiteren Verbannten in der Nähe.
Phoenix warf mir einen Blick zu, bevor er sich wieder Lincoln zuwandte. Der Hass, der zwischen ihnen loderte, lag schwer in der Nachtluft.
Mist.
»Ich habe ihn eingeladen!«, platzte ich heraus und bereute, dass ich Lincoln nicht früher erzählt hatte, was ich getan hatte. In Wahrheit hatte ich erwartet, dass Phoenix entweder sofort oder überhaupt nicht auftauchen würde. Als er nicht sofort gekommen war, hatte ich mich gefragt, ob ich mich in Bezug auf seine Absichten geirrt hatte.
Bei diesem Geständnis sah mich Lincoln ungläubig an. »Du hast ihn hierher geholt?«
Ich biss mir auf die Lippe.
Phoenix nutzte aus, dass Lincoln abgelenkt war, und stürzte sich auf ihn. Er warf seinen Erzfeind zu Boden und rammte ihm die Faust in den Kiefer. Ich war mir ziemlich sicher, dass etwas geknackt hatte. Lincoln reagierte auf ähnliche Weise – seine geballte Faust zielte auf Phoenix’ Gesicht. Die Wucht des Aufpralls betäubte ihn lange genug, dass Lincoln die Beine anziehen und Phoenix in die Luft schleudern konnte.
Phoenix landete auf seinen Füßen wie eine Katze.
Doch bevor Phoenix wieder in Reichweite gelangen und Lincoln aufstehen und sich bereit machen konnte, sprang ich dazwischen.
»Geh weg«, fuhr Lincoln mich an.
Ich ignorierte ihn und wandte mich Phoenix zu. Ich wusste, wer die echte Bedrohung darstellte.
»Liebling«, sagte Phoenix. Er tupfte mit dem Finger die Platzwunde über seinem Auge ab und demonstrierte damit, wie hart Lincoln zugeschlagen hatte. Einen Verbannten zum Bluten zu bringen war nicht so einfach. »Hab Geduld. Es wird nur einen Moment dauern, dann haben du und ich alle Zeit der Welt für …« – er warf Lincoln einen Blick zu – »für andere Dinge.«
»Halt die Klappe, Phoenix. Gott, ich habe die Nase so voll davon, dass du mich ›Liebling‹ nennst. Du hast mich um Hilfe gebeten. Das weiß ich. Ich habe meine Schutzschilde heruntergenommen, ich habe dir den Weg zu uns gezeigt, weil ich, so verrückt das auch ist, glaube, dass du vielleicht Lilith davon abhalten möchtest, diesen Kindern wehzutun.«
Phoenix’ Gesicht verzerrte sich, und unwillkürlich verspürte ich eine gewisse Befriedigung darüber, zu sehen, dass mein Geschimpfe Wirkung gezeigt hatte.
»Nun«, fuhr ich fort, die Hände in die Hüften gestemmt, »du kannst reinkommen und mit uns reden. Du wirst uns sagen, was wir wissen müssen und wie wir sie aufhalten können, oder du kannst gehen. Aber ihr« – ich blickte über die Schulter zu Lincoln, in dessen Augen noch immer der Zorn tobte –, »ihr zwei und eure männlichen Egos, werdet heute Abend nicht kämpfen, weil, lasst es mich mal so sagen« – ich sah wieder vom einen zum anderen –, »wenn einer von euch auch nur einen weiteren Schlag ausführt, dann ist dieses Gespräch beendet und diese Kinder werden sterben.«
Stille.
»Ich setze Wasser auf«, sagte ich, weil ich ihr Schweigen als Einwilligung deutete. Vorerst.
Wir saßen um den Küchentisch herum, jeder eine Tasse Kaffee in der Hand, und die Anspannung war zum Greifen. Plötzlich kam mir die Hütte sehr klein vor.
Lincoln und Phoenix saßen sich gegenüber, ihre Blicke brannten vor Bosheit.
Es war seltsam, sie beide zusammen zu sehen, und es bereitete mir ein unbehagliches Gefühl in der Magengegend.
Phoenix sah wie immer unglaublich aus. Er trug eine schmal geschnittene schwarze Hose und ein tailliertes schwarzes Hemd. Sein opalartiges Haar wellte sich und hatte einen überwältigenden Silberschein. Er war nichts weiter als eine Kreatur der Lust, rief ich mir ins Gedächtnis.
Ich konnte nicht leugnen, dass seine Nähe eine Wirkung auf mich hatte. Es war nicht dasselbe wie bei Lincoln, sondern roh und mit schlechtem Gewissen behaftet.
Weil ich wusste, dass es nicht echt war. Phoenix unterzog meine Gefühle einer kontrollierten Manipulation, aber ich sehnte mich trotzdem danach. Ich hatte Lincoln kurz zuvor erklärt, dass ich süchtig nach Phoenix’ Fähigkeiten wäre, und jetzt, wo ich ihn anschaute, wurde mir klar, dass es mehr war als das. Ich fühlte mich aufgrund unserer Verbindung und dem, was wir einst gemeinsam hatten, auf einer tieferen Ebene zu ihm hingezogen.
»Du hast uns in der U-Bahn geholfen und uns zu dem anderen Kind geführt«, sagte ich. Feststellung, keine Frage. Als Phoenix nichts darauf sagte, fuhr ich fort. »Du hast versucht, mich in meinen Träumen zu erreichen – nicht um mir etwas anzutun, sondern um uns zu helfen.«
Phoenix saß reglos wie eine Statue da.
Endlich rührte er sich. »Du hast mich ständig hinausgedrängt, und als du erst mal hinter den Schutzschilden der Akademie verschwunden warst, wurde es unmöglich.«
»Hast du schon immer gewusst, dass ich deine Gefühle besser wahrnehmen kann als andere?«, fragte ich, wobei ich ignorierte, dass Lincoln schweigend vor sich hinbrütete. Aber ich musste es wissen. Was ich von Phoenix fühlte, war mehr als nur seine emotionalen Ausströmungen, und es war anders als alles, was ich bei anderen empfand.
Phoenix zuckte zusammen. Ihm war klar, was ich wissen wollte. »Seit ich dich geheilt habe, ist die Verbindung da.«
»Ich glaube, ich kann einige von Phoenix’ Gefühlen wahrnehmen, auch wenn er das gar nicht will«, erklärte ich Lincoln.
»Großartig«, sagte Lincoln trocken.
»So meine ich das nicht«, sagte ich und wurde rot. »Aber ich glaube, das hilft mir manchmal, ihn zu verstehen.«
»Und sie scheint jeden einzelnen Zentimeter von mir zu kennen«, stichelte Phoenix.
»Was willst du hier, Phoenix?« Lincoln knirschte bei jedem Wort mit den Zähnen.
Phoenix’ Fassade bröckelte – nur ein paar Sekunden lang –, aber ich sah es: Die dunklen Ringe unter seinen Augen, die Verzweiflung, die ich in den Tunnels wahrgenommen hatte. Ich spürte seine Müdigkeit.
Er legte seine Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch und wog seine Worte sorgfältig ab. »Ich habe keine Lösung. Ich kann nur bestätigen, dass wir alle wahrscheinlich sehr bald sterben werden. Nichts, was ich tun kann, wird das ändern, aber anders als andere …« – er sah mich eindringlich an – »bin ich nicht bereit, all meine Sünden zu beichten und Absolution zu erhalten.«
»Als könntest du je Absolution erhalten!«, knurrte Lincoln.
»Richtig«, stimmte Phoenix zu.
Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum. Das lief nicht gut.
»Warum bist du dann hergekommen?«, hakte Lincoln nach. Ich sah, dass sich seine Hände auf seinen Schenkeln zu Fäusten geballt hatten. Ich konnte nur erahnen, wie wütend er auf mich sein würde, wenn Phoenix wieder weg wäre.
Phoenix zuckte mit den Schultern und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Doch seine scheinbare Offenheit konnte mich nicht täuschen. Er war höchst angespannt. »Ich töte keine Kinder. Ich bin hier, um euch zu helfen, sie zu retten. Und die Vereinbarung zu treffen, dass wir die Schrift entweder zerstören oder an euch zurückgeben, je nach dem wofür wir als Erstes die Gelegenheit bekommen.«
»Du meinst die Schrift, die Lilith nicht mal hätte, wenn du nicht gewesen wärst!«, tobte Lincoln. »Das riecht nach einer Falle, und das weißt du.«
Phoenix neigte den Kopf ein wenig. »Denk, was du willst, aber ich habe ihr nie von der Schrift erzählt. Es ist nicht meine Schuld, dass jeder verdammte Verbannte da draußen Bescheid wusste. Ich habe euch die Gelegenheit gegeben, sie zurückzubekommen, aber ihr habt mich in die Ecke gedrängt.« Seine Stimme hatte sich in einem seltenen Anflug von Zorn gehoben. »Innerhalb von Stunden nach ihrer Ankunft hat Lilith von der Schrift erfahren. Ich habe sie versteckt, so lang ich konnte, aber ich konnte sie wohl kaum für immer zurückhalten!«
Lincoln lachte, und zwar nicht auf angenehme Weise. »Natürlich nicht! Das hätte ja erfordert, dass du das Richtige tust.«
»Warum arbeitest du mit jedem – wie du sagst – ›verdammten‹ Verbannten zusammen, wenn du sie offenbar doch so sehr hasst?«, fragte ich, weil ich das verstehen wollte.
Phoenix presste den Kiefer zusammen. »Wir alle sind, was wir sind«, war alles, was er sagte.
Mir wurde schwer ums Herz.
Drohend zeigte er mit dem Finger auf mich. »Oh bitte, verschone mich damit.«
Ich versuchte, meine Gefühle nach innen zu ziehen. »Was schlägst du vor?«, fragte ich.
»Folgendes«, sagte Phoenix. »Lilith lädt dich morgen Abend zu sich ein. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich dich finden und zu ihr bringen soll. Sie hat Evelyn …« Seine Augen wurden für einen Moment sanfter, als er mich ansah, und ich hörte, wie sich Lincoln neben mir bewegte.
»Sie lebt noch.« Er schluckte und holte tief Luft. »Lilith bietet euch die Gelegenheit zur Kapitulation. Sie hat euch beide zum Tod verurteilt, aber als Belohnung für eure Unterwerfung schenkt sie euch die Leben so vieler Kinder, wie ihr retten könnt.«
Mein Mund wurde trocken. Eine Million Gedanken schossen mir durch den Kopf, und trotzdem war er irgendwie gleichzeitig absolut leer.
»Und wie wird entschieden, wie viele Kinder wir retten können?«, fragte ich.
Immer schön praktisch denken, so bin ich eben.
Phoenix ließ seine Maske fallen und enthüllte den wahren, bleichen Schrecken, der jetzt kommen würde. »Genau wie ich hasst Lilith die Cherubim.« Er lächelte schief. »Das ist das Einzige, was wir je gemeinsam hatten. Aber während ich sie einfach nur gern vernichte, zeigt sie sich kreativer und benutzt moderne Darstellungen dieses Ranges – was die Cherubim hassen –, um sie herabzusetzen und ihnen ihre unredlichen Botschaften zu schicken.«
Ich musste ein für alle Mal wissen, warum er die Cherubim so sehr hasste, deshalb fragte ich ihn.
»Sie haben sie aus dem Garten Eden ausgesperrt, nachdem sie geflohen war. Sie zogen ihre flammenden Schwerter und bewachten den Garten, sodass sie nie wieder zurückkehren konnte. Engel mögen viele Stärken haben, aber Vergebung gehört selten dazu. Ich habe sogar den Verdacht, dass Lilith Adam liebte – soweit sie fähig war, jemanden zu lieben. Ich habe nie begriffen, wie Liebe und Hass gleichzeitig so stark sein konnten. Das verstehe ich erst seit Kurzem.«
Seine Worte versetzten mir einen Stich.
Er fuhr fort. »Als die Seraphim beschlossen, dass ich nicht Engel genug wäre, und mich als einen Abgründigen brandmarkten – der nirgends hingehört und keinen Daseinszweck hat –, nahmen sie mir alles, was ich war, und trampelten darauf herum, als wäre ich nichts weiter als ein Stück Dreck unter ihren mächtigen Füßen. Die Cherubim des Lichts und der Finsternis waren auch nicht tatenlos. Sie verstießen mich aus dem Reich und schlossen mich mit dem Siegel der ihnen verliehenen Macht aus. Sie hassten mich wegen Lilith.«
Ich konnte den Schmerz in seinen Worten spüren. Er hatte mir andere Versionen von dieser Verstoßung erzählt, wie er in seinem Leben immer und immer wieder zurückgewiesen wurde. Die erste Zurückweisung war von Lilith selbst gekommen.
War ich wirklich so schrecklich gewesen? Hatte ich ihn wirklich dahin zurückgebracht, wo alles anfing, wo er zum ersten Mal zurückgewiesen wurde?
»Es tut mir leid, Phoenix«, sagte ich und meinte es auch so. Meine Entschuldigung war so vielschichtig, dass ich sie nicht in Worte fassen konnte, deshalb ließ ich sie einfach von mir zu ihm fließen.
Er umklammerte die Tischkante und nahm seine ganze Kraft zusammen, als er spürte, wie meine Reue in ihn hineinströmte. Rasch verbarg er es, richtete sich auf und unterbrach den Strom der Emotionen.
»Zurück zu dem Teil, in dem wir alle sterben«, sagte Lincoln, unbeeindruckt von dem, was gerade geschehen war. »Wie wird das geschehen?«
Ich dachte darüber nach, was Phoenix gesagt hatte. In modernen Darstellungen, war ein Cherub ein Wesen der Liebe – kleine, fette geflügelte Babys, die herumflogen und ihre Pfeile der Leidenschaft abschossen.
»Pfeile«, flüsterte ich.
Phoenix nickte und schloss kurz die Augen. »Violet wird aufgehängt, und fingerlange Pfeile werden auf sie abgeschossen. Für jeden Pfeil, den sie überlebt, wird ein Kind freigelassen, bis sie es nicht mehr aushält.«
»Du meinst, bis ich tot bin?«
»Bis du tot bist.«
Ich ignorierte mein Unterbewusstsein, die endgültige Erkenntnis, dass der Tod jetzt an meine Tür klopfte. Unbarmherziger, unwandelbarer, sicherer Tod. Ich blickte Phoenix an, weil ich Lincoln, der neben mir saß, nicht ansehen konnte.
»Und was ist mit Lincoln?«, hörte ich mich sagen.
»Er muss dich begleiten. Er wird gezwungen zuzusehen.«
»Aber er muss nicht mitkommen?«, fragte ich.
Phoenix schüttelte den Kopf. »Doch, er muss. Sie will ihn sehen. Ohne ihn ist der Deal geplatzt.«
»Wird er am Leben gelassen?«
Phoenix senkte den Blick. Ich schloss die Augen.
Sie würden Lincoln hinrichten, nachdem er mir beim Sterben zugeschaut hatte.
Lincolns Lachen war bitter. »Lilith erwartet also, dass ich daneben stehe und zuschaue, wie Violet gefoltert wird?« Er schüttelte den Kopf und beugte sich vor. »Nie und nimmer. Sag deinem Psycho-Miststück von Mutter, sie kann sich ihren Deal sonst wohin schieben.«
Phoenix sagte nichts zu Liliths Verteidigung, er überbrachte nur finster und entschlossen die Botschaft – wie ein Arzt, der Dinge aussprach, die kein Patient hören wollte, sich aber trotzdem anhören musste. »Ich kann helfen, aber … Es gibt nicht viel, was ich tun kann. Es gibt keine Möglichkeit, sie aufzuhalten, aber ich kann dir mein Wort geben, dass ich danach deine Mutter da raushole, Violet. Sie wird sie am Leben halten, bis …«
»Ich tot bin.«
»Da ist noch etwas.« Er sah jetzt Lincoln an, als würde er ihm etwas sagen wollen. Aber Lincoln schäumte so sehr vor Wut, dass er bestimmt nur rot sah. »Sie weiß, dass wir miteinander verbunden sind. Sie hat die Verbindung an mir wahrgenommen, und Olivier hat dies nur allzu gern bestätigt. Sie wird mir auftragen, deine Wunden wieder aufzureißen, wenn du zu stark bist. Sie wird zu ihrem Wort stehen und die Kinder freilassen, aber sie wird nicht zu viele verlieren wollen.«
Er blickte zwischen Lincoln und mir hin und her und seufzte, weil er offenbar einen Entschluss gefasst hatte. »Am besten …« Er schluckte, als käme ihm das nur schwer über die Lippen. »Am besten, du ziehst jede Möglichkeit in Betracht, bis dahin so stark wie möglich zu werden.«
Lincoln schleuderte seine Tasse an die Wand. Sie zersprang in tausend Stücke, und Kaffee lief an der weißen Wand herunter.
»Das ist doch krank. Vi, das kannst du dir doch unmöglich anhören«, sagte Lincoln, doch er wusste genauso gut wie ich, dass es zwar krank war, aber trotzdem der Wahrheit entsprach.
»Und wenn du dich weigerst, mich zu verletzen?«, fragte ich Phoenix.
»Ich bin von ihrem Blut. Sie kann mich dazu zwingen.« Er blickte zu Boden. »Sie weiß, dass ich … Lincoln wird nicht der Einzige sein, der zuschauen muss.«
Mir fiel ein, wie viel Macht Irin über seine Nephlim-Kinder zu haben schien. Ich fragte mich, ob Lilith ähnliche Macht über ihn hatte.
Lincoln stand auf, sein Stuhl schrammte über den Fußboden. »Das ist echt unglaublich! Du sagst uns also, wir sollen uns Lilith ergeben. Im Gegenzug versicherst du uns, dass du ihre Mutter befreien wirst, wenn wir beide tot sind. Und dann sollen wir auch noch darauf hoffen, dass du Violet so lange wie möglich am Leben hältst, damit ihr Tod langsamer und schmerzhafter wird! Du bist doch krank! Genauso gut können wir es darauf ankommen lassen und dich umbringen!«
Ich hörte Lincolns Worte, das verzweifelte Flehen darin, dass das alles nicht wahr war. Aber wir wussten beide, dass er die eine Sache außer Acht gelassen hatte, auf die es ankommen würde. Dass wir im Austausch für all das die Chance bekommen würden, diese unschuldigen Kinder zu retten.
Phoenix zuckte einfach nur mit den Schultern. »Wir alle wissen, dass diese Lösung auch Komplikationen birgt.«
Ich sah Lincoln an, Schmerz durchzuckte seine Gesichtszüge. »Er hat recht«, sagte ich leise. »Und das weißt du.«
Der Tod kommt mir rasender Geschwindigkeit auf mich zu.
Lincoln erwiderte nichts. Stattdessen starrte er Phoenix an, und Phoenix starrte zurück. Ihr Hass aufeinander schien sich in Verbitterung, gemeinsame Verzweiflung und sogar Herzschmerz zu verwandeln. Schließlich ließ sich Lincoln wieder auf seinen Stuhl fallen.
»Gibt es einen anderen Weg?«, fragte er.
»Wenn es einen gäbe, hätte ich ihn gefunden«, erwiderte Phoenix.
Und ich glaubte ihm.
Bevor mich die Realität dessen, worüber wir gerade sprachen, einholen konnte, redete ich weiter: »Wo stehst du bei alldem, Phoenix? Was wird passieren – Lincoln und ich sterben und du gehst mit Lilith fröhlich diesen Weg weiter und lässt zu, dass sie alles und jeden tötet, der ihr über den Weg läuft?«
Lincoln knirschte mit den Zähnen und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Himmel Herrgott! Wir werden dieses Gespräch nicht weiterführen. Sie wird da nicht hingehen, um gefoltert zu werden!«
Ich zuckte zusammen und ignorierte seinen Ausbruch dann. Phoenix schüttelte den Kopf, als er sah, dass ich immer noch auf seine Antwort wartete.
»Sobald Lilith herausfindet, was ich getan habe, wird sie mich umbringen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sie mitzunehmen. Das schwöre ich. Ich dachte …« Seine Augen waren voller Reue. »Ich habe nicht erwartet, dass das passiert … Das habe ich nicht gewollt.« Er fuhr sich mit der Hand um den Nacken und ließ sie wieder zurück auf den Tisch fallen. »Ich habe mit Kollateralschäden gerechnet und mir eingeredet, das würde nichts ausmachen.« Er schnaubte. »Ich habe dich sogar glauben gemacht, ich hätte euren Freund umbringen lassen.«
Er meinte Rudyard. Lincoln und ich richteten uns beide auf, als er ihn erwähnte.
»Das habe ich aber nicht«, fügte Phoenix hinzu.
»Aber du hast Lilith zurückgeholt«, sagte Lincoln.
Phoenix nickte. »Aber Kinder umzubringen hatte nie dazugehört. Nicht für mich. Ich bin bereit, mein ewiges Leben aufzugeben, um sie wieder zurück unter die Erde zu bringen.«
Lincoln schaute auf die Uhr. Es war schon fast zwei Stunden her, seit einer von uns den Rundgang gemacht hatte.
»Ich gehe«, bot ich ihm an.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Sein Blick schoss zu Phoenix. »Ich kann nicht mit ihm allein sein. Ich werde gehen.« Er stand auf, schnallte sich seinen Dolch um und ging nach draußen. Ich folgte ihm auf die Veranda.
»Linc?«, sagte ich hinter ihm. Er blieb stehen und zog mich zu sich, seine Arme schlangen sich fest um mich.
»Bitte mich nicht darum, dich ihr auszuliefern. Das kann ich nicht«, flehte er.
Ich antwortete nicht. Und wir wussten beide, warum. Ebenso schnell, wie er mich in den Arm genommen hatte, ließ er mich wieder los.
»Ich mache jetzt mal besser diese Patrouille. Ich bin bald wieder zurück.«
Er machte sich auf den Weg zu den Bäumen.
Ich setzte mich auf die Stufen, die zum Rasen hinunterführten, und starrte über den Fluss. Phoenix näherte sich von hinten und setzte sich zu mir.
»Ich habe gehört, was du gesagt hast. Dass du mich nie geliebt hast.«
»Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du es hörst.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist ja nicht so, dass das etwas Neues wäre. Aber ich habe genug von dir wahrgenommen, um zu wissen, dass du mich hättest lieben können, dass du mir vielleicht näher gekommen wärst. Vielleicht wenn ich nicht alles zerstört hätte … Wenn du mir vielleicht eine Chance gegeben hättest, alles zu erklären …«
»Wusstest du, was passieren würde, nachdem wir zusammen waren?«, fragte ich, weil ich nun endlich bereit war, es zu hören, bereit zu erfahren, ob er alles geplant hatte – mit mir zu schlafen und die Verbindung herzustellen, die dazu geführt hatte, dass Joel und Onyx mich angriffen.
»Nein. Und ja. Ich spürte, wie es passierte, als wir zusammen waren. Ich hätte aufhören können, aber … ich schaffte es nicht. Ein Teil von mir besteht aus Finsternis, das ist mir angeboren und ein wesentlicher Teil meiner Existenz – das kann ich nicht abstreiten. Als ich dich kennenlernte, habe ich es versucht.« In Erinnerungen versunken schüttelte er den Kopf. »So. Verdammt. Schwer. Ich wollte alles sein, was du verdient hast, und für mich wollte ich das auch. Aber als wir in jener Nacht zusammen waren, war ich so trunken von dir … Ich wusste, was das Richtige gewesen wäre, aber ich ließ zu, dass die Finsternis das Kommando übernahm. Das soll keine Entschuldigung sein, aber du musst verstehen …«
Ich schnitt ihm das Wort ab. »Es liegt in deiner Natur.«
Traurig nickte er seine Zustimmung. »Ich habe am nächsten Tag versucht, es zu erklären, aber ich habe die grenzenlose Liebe in deinen Augen gesehen, als du Lincoln heiltest, und die Versuchung, die neue Macht einzusetzen, die ich über dich hatte, war einfach zu groß, um ihr zu widerstehen. Ich dachte, wenn ich dich nur ein wenig beeinflussen könnte, Feindseligkeit ihm gegenüber und Liebe zu mir entfachen … Aber als alles herauskam und ich dich geheilt hatte … da hatte ich dich bereits verloren.«
Ich schüttelte den Kopf. Als ich das alles so hörte, schenkte ich ihm Glauben. »Weißt du, du hast recht. Ich hätte dich bestimmt lieben können, aber sogar nach allem, was passiert ist – das war nicht der Grund, weshalb wir letztendlich nicht zusammenkamen.«
Er sah zu den Bäumen hinüber. »Er«, sagte er.
»Er«, bestätigte ich.
Er lächelte reumütig. »Das ist es immer. Ich hätte es natürlich besser wissen müssen. Ich hätte viele Dinge besser wissen müssen. Jetzt ist es zu spät, sie wiedergutzumachen.«
»Ich dachte, du würdest dich nicht entschuldigen?«
Sein Lächeln wurde ein wenig spielerisch und erinnerte mich an den Phoenix, mit dem ich mich damals angefreundet hatte.
»Tue ich auch nicht. Aber wenn ich es wiedergutmachen kann … dann tue ich es. Diese ganze Sache ist meine Schuld. Ich bin dafür verantwortlich, nicht du.«
Ich beugte mich vor und stützte mich auf meine Ellenbogen. »Deinetwegen habe ich meine Mutter zurückbekommen. Ohne dich wäre dieser Vulkan wohl nicht ausgebrochen, aber ohne dich wären all diese Menschen auf Santorin ums Leben gekommen. Deinetwegen … bin ich noch am Leben.« Ich stieß ein zynisches Lachen aus. »Vielleicht nicht mehr lange, aber trotzdem: Ich lebe noch.«
Er schaute weg und ich sah, wie seine Hand zu seinem Gesicht wanderte. Ich fragte mich, ob sie dort eine Träne abwischte.
»Es wäre leichter, wenn ich dich nicht lieben würde. Dass du solche Dinge sagst, nach allem, was ich getan habe.« Er lachte halb. »Du zerstörst mich. Du richtest mich absolut und vollständig zugrunde.«
Wir schwiegen eine Zeit lang, jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Wolltest du wirklich nicht, dass Rudyard stirbt?«, fragte ich nach einer Weile.
Er hielt meinem Blick stand und öffnete den Kanal zu seinen Gefühlen. Er zeigte mir sein Bedauern. Er hatte sich für so clever gehalten, als er die Verbannten unter sein Kommando brachte, um zu bekommen, was er wollte. Der Tod war für Phoenix trotz all seiner Drohungen nicht das Ziel gewesen.
»Aber es waren meine Entscheidungen, die dazu geführt haben. Deshalb ist es trotzdem meine Schuld«, gestand er.
Das war nicht zu leugnen.
In diesem Moment kam Lincoln zurück. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Schutzbarrieren waren hochgezogen und verhinderten, dass ich irgendwelche Einblicke bekam. Ich verstand.
»Die Grenzen sind sauber.« Er sah Phoenix an – seine grünen Augen waren wie Stahl, seine Stimme triefte vor Verachtung. »Violet und ich müssen reden. Du kannst morgen Abend zurückkommen und uns abholen. Wenn wir da sind, sind wir da. Wenn nicht, hast du deine Antwort, und viel Glück dabei, sie je wieder zu finden.«
Ich widersprach nicht. Fürs Erste.
Phoenix nickte und wir standen beide auf und strichen uns dabei den Staub von den Kleidern.
»In Ordnung«, sagte Phoenix. Und nach einer kurzen Pause: »Ihr könnt mich nicht zufällig in die nächste Stadt fahren? Ich möchte meine Kräfte hier nicht mehr als unbedingt notwendig einsetzen – ich bin für Lilith wie ein Peilsender.«
Das war das erste Mal, dass ich von einer solchen Fähigkeit hörte. Lincolns skeptischem Blick und seinen verschränkten Armen nach ging es ihm genauso, aber dann schienen sie wieder etwas zwischen sich auszutauschen, und Lincoln nickte und sah mich an.
»Kommst du zurecht?«
Ich zog die Augenbrauen nach oben. Die beiden würden für die nächsten zwanzig Minuten gemeinsam in einem Fahrzeug eingepfercht sein, und er fragte mich, ob ich zurechtkam?
»Wirst du zurechtkommen?«, fragte ich.
Er nickte feierlich und ging noch mal ins Haus.
Als ich mich mit skeptischem Blick zu Phoenix umdrehte, schien sein Haar im spätnachmittäglichen Sonnenlicht zu funkeln. Vor dem Hintergrund des Flusses sah er hinreißend aus, und mir stockte der Atem. Ohne eine weitere Erklärung blickte Phoenix über das Wasser. Von diesem Moment überwältigt überraschte ich uns beide und legte den Abstand zwischen uns zurück. Er wappnete sich für einen Schlag, aber nichts hätte ihn härter treffen können als meine Umarmung.
Vorsichtig erwiderten seine Arme die Geste. Er atmete aus, als wäre ein sehr schweres Gewicht langsam von ihm genommen worden, und zog mich an sich.
Dieses eine Mal versuchte Phoenix nicht, mit meinen Gefühlen zu spielen. Stattdessen war er gespenstisch still, sowohl körperlich als auch emotional.
»Wir haben alle Fehler gemacht«, sagte ich leise. »Furchtbare Fehler. Wir haben alle einen Teil zu unserer jetzigen Situation beigetragen – du trägst das nicht allein. Du wirst das auch nicht allein zu Ende bringen. Das verspreche ich.« Ich erzählte ihm nichts von dem Zaubertrank, an dem Steph und Dapper arbeiteten, aber ich würde sicherstellen, dass er es verstand, wenn ich weg war. Ich hielt ihn einfach nur fest und er mich ebenfalls, seine Wange ruhte oben auf meinem Kopf.
»Ich habe mich nie … Die Art und Weise, wie du an mich herankommst.« Er atmete schwer. »Ich weiß, was ich getan habe, aber ich schwöre dir … Wenn es einen Weg gibt, dich zu retten, dann werde ich ihn finden.«
»Ich weiß.« Und ich wusste es wirklich.
Er lehnte sich nach hinten und umfasste sanft mein Gesicht. »Das nächste Mal, wenn ich dich sehe, wirst du für immer für mich verloren sein.«
Ich starrte in seine traurigen Augen und war ganz in seinem Bann.
Was meinte er damit?
Lincoln stand im Türrahmen und räusperte sich. »Himmel noch mal, wenn du endlich fertig bist, sie zu begrabschen, können wir dann gehen?«
Phoenix’ Brust bebte, als er anfing zu kichern. Ich ertappte mich dabei, wie ich die stille Reaktion nachahmte. Immerhin hätte ein solcher Kommentar von Lincoln vor ein paar Stunden noch eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den beiden garantiert.
Als Phoenix zurücktrat, waren seine Augen anders. Irgendwie schienen sie erfrischt zu sein und etwas von seinem alten Selbst widerzuspiegeln, was mich zum Lächeln brachte. Ich fragte mich flüchtig, ob wir drei zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort Freunde hätten sein können.
Wahrscheinlich nicht.