Kapitel Sechzehn
»Wer ehrlich prüft und wahrlich versteht, weiß, in keinem ist nur gut oder nur böse gesät …«
Theognis von Megara
Am nächsten Morgen stand ich mitten in einem der Sparring-Räume meinem Gegner gegenüber, der zufällig zu den Grigori der Akademie gehörte, die ich am meisten mochte.
»Morgan, ich möchte dir nicht wehtun«, sagte ich, nachdem ich sie – erneut – vom Boden hochgezogen hatte.
Morgan zuckte mit den Schultern. »Ich bin okay.«
Und das war sie auch. Morgan war eine großartige Kämpferin, aber ich war besser. Ich war ihr allein schon an natürlicher Stärke und Schnelligkeit überlegen. Darüber hinaus hatte mich Lincoln so trainiert, dass ich auch taktisch aggressiver war. Der Unterricht der Akademie basierte auf einem einzigen Lehrbuch, und es hatte nicht lange gedauert, bis ich das vorhersehbare Muster erkannte. Lincoln hingegen hatte sich von einer ganzen Reihe verschiedener Disziplinen inspirieren lassen – Kickboxen, Judo, militärische Kampfausbildung – und hatte das klare Ziel vor Augen, um jeden Preis zu siegen, was auch – wenn nötig – unsportliches Verhalten mit einschloss.
Das war ein Ansatz, dem ich voll und ganz zustimmte und den viele der Grigori, mit denen ich trainierte, zweifellos auch teilen würden, wenn sie erst mal den Zorn verbannter Engel richtig zu spüren bekamen.
Ich war einer Gruppe mittleren Niveaus zugeteilt worden, da ich – laut der Akademie – praktisch »untrainiert« war. Griffin hatte empfohlen, dass ich wie Zoe und Spence an der Kampfgruppe für Fortgeschrittene teilnehme, doch Josephine hatte ein Veto gegen diesen Vorschlag eingelegt. Schnell wurde mir klar, dass meine Gruppe zwar über natürliche Schnelligkeit und Stärke verfügte, dass sie allerdings keine Ahnung hatte, was sie mit ihrer Grigori-Kraft anfangen sollten.
Valerie leitete den Kurs und sie hatte mich gleich mitten hineingeworfen. Das war vor drei Stunden und fünf Gegnern. Eigentlich hatte sie wohl vorgehabt, mir eine Lektion zu erteilen und mich auf meinen Platz zu verweisen.
Das wird wohl kaum klappen.
Ich fand es zwar nicht in Ordnung, Leute niederzuschlagen, die bedeutend weniger trainiert waren als ich, doch die anderen Studenten schienen mich dadurch mehr zu akzeptieren. Die Akademie war ein Ort, an dem Stärke respektiert wurde.
Weil Stärke bedeutet, dass man sich nicht umbringen ließ. Oder zuließ, dass jemand anders umgebracht wurde.
»Noch mal!«, befahl Valerie.
Morgan stemmte sich nach oben. In ihrer Trainingskluft, die aus einer schwarzen Radlerhose und einem schwarzen Trägershirt bestand, waren die frischen Blutergüsse deutlich zu erkennen. Ich hatte es bereits geschafft, meine ersten drei Gegner so zuzurichten, dass sie auf die Krankenstation mussten, bevor ich einen Gang zurückschaltete. Ich war froh, dass Lincoln nicht da war. Wenn er mitgekriegt hätte, dass ich mich zurückhalte, wäre er durchgedreht.
Ich runzelte die Stirn, als ich an ihn dachte, weil ich wusste, dass er mit Griffin unterwegs war. Wir hatten uns am Vorabend beim Essen darauf geeinigt, dass Griffin und Lincoln losgehen und mehr Informationen über Lilith und Phoenix einholen würden, während ich mich beim Akademie-Training zeigen und einen guten Eindruck machen würde.
Es ärgerte mich, dass ich deshalb keinen Beitrag dazu leisten konnte, aber sie hatten darauf bestanden, dass mich Josephine vielleicht nicht zu sehr überwachen würde, wenn ich mich auf das Training konzentrierte. Darüber hinaus war es Akademie-Mitgliedern in der Ausbildung nicht gestattet, die Gebäude zu verlassen, ohne vorher eine Genehmigung eingeholt zu haben – und es war wenig wahrscheinlich, dass irgendeiner der Lehrer mir erlauben würde, rauszugehen, bevor ich meine Prüfung bestanden hatte. Ich fügte meinen Hausarrest der langen Liste der Gründe zu, wegen denen ich diesen Ort hasste.
Morgan ging auf mich los. Sie hatte dazugelernt und mied mein rechtes Bein. Sie landete ein paar gute Treffer, und ich verlegte mich darauf, mich zu ducken, anstatt sie geradewegs auszuschalten. Als ich meine Chance gekommen sah, packte ich sie und warf sie mit so wenig Kraft wie möglich zu Boden. Doch in der letzten Sekunde, warf ich mich auf sie, damit ich das nicht noch einmal tun musste.
»Es wäre schön, wenn du mit einem Fünkchen Ehrgefühl kämpfen würdest. Neunzig Prozent deiner Schachzüge sind gegen die Regeln«, tadelte mich Valerie.
Ich stand auf, bot Morgan meine Hand an und half ihr auf. Ich warf Valerie einen Blick zu und bemerkte Rania, die an der Eingangstür des Raumes stand. Ich fragte mich, wie lange sie uns schon zuschaute.
Ich zuckte mit den Schultern und erklärte es: »Meiner Erfahrung nach scheren sich Verbannte nicht allzu sehr um Ehrgefühl, wenn sie mir den Kopf abreißen wollen. Wenn es um die Frage er oder ich geht, oder wenn ich versuche, einen Menschen zu verteidigen, tue ich alles, was ich kann, um den Verbannten auszuschalten und denke erst hinterher darüber nach, was für eine Art von Person das aus mir macht.«
»Das ist eine Art, das zu sehen. Die andere ist: Wenn du zu nahe am Abgrund agierst und ohne es zu wissen zulässt, dass die Linie zwischen dir und den Monstern verschwimmt, dann merkst du vielleicht irgendwann, dass du über Nacht zu dem geworden bist, was sie sind.«
Ungläubig starrte ich Valerie an, und sie machte eine Handbewegung zur Klasse hin.
»Genug für heute. Wir machen Schluss.«
Als Morgan mit mir hinausging, fing ich an, mich zu entschuldigen.
»Nicht«, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm. »Ich habe heute, als ich gegen dich gekämpft habe, mehr gelernt, als in der ganzen Zeit zuvor.«
Ich nickte und akzeptierte dieses Kompliment mit Stolz.
»Hat Valerie mich gerade als Monster bezeichnet?«, fragte ich.
Morgan wand sich. »Sie ist nicht so übel, wie sie rüberkommt. Ich glaube, sie war nur überrascht, dass du so stark bist.«
»Hast du dasselbe nicht auch über Josephine gesagt?«
Wieder wand sie sich. »Was soll ich sagen? Ich sehe einfach gern das Gute in den Leuten.«
Darüber konnte ich mich wohl kaum beklagen, denn ich war überglücklich, dass sie in mir auch das Gute sah. Freunde konnte ich nicht genug haben.
»Violet, hast du einen Moment Zeit?«, fragte Rania, als wir an ihr vorbeigingen.
Ich blieb stehen, während Morgan mit einer entschuldigenden Handbewegung weiterging. Sie dachte wohl, ich würde gleich Ärger bekommen.
Wahrscheinlich hatte sie recht.
Ich warf mir die Trainingstasche über die Schulter und folgte Rania ins Nebenzimmer. Der Raum lag in gedämpftem Licht, auf dunklen Holzregalen standen mehrere goldene Artefakte. Tatsächlich stand das Zimmer im Widerspruch zu dem hellen, modernen Ambiente der übrigen Akademie-Gebäude. Rania setzte sich hinter einen riesigen Mahagonischreibtisch.
Sie bedeutete mir, mich zu setzen.
»Ich lebe gerade Vollzeit hier. Da brauche ich zumindest einen Platz, an dem ich ganz ich selbst sein kann«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Ich legte mir die Tasche auf den Schoß und stützte mich darauf. Ich hatte stundenlang trainiert. Mein ganzer Körper schmerzte.
»Hast du meine Notiz erhalten?«, fragte sie.
»Ja, danke. Ich … Ähm …« Ich wusste nicht, wie ich mit ihr – oder sonst jemandem – über Nyla reden sollte.
Sie schüttelte wieder den Kopf, als wüsste sie genau, was ich dachte. »Lass dir Zeit. Sie geht so schnell nirgendwohin, aber ich glaube, es besteht noch Hoffnung. Wenn ich das nicht glauben würde«, sie warf mir wieder einen Blick aus ihren kriegerischen Augen zu, »dann würde ich die Sache selbst beenden.«
Ich bewunderte ihren Optimismus, aber … ich war dabei, als Nylas Seele zerbrach. Sie würde nicht zurückkommen.
Rania sprach weiter. »Ich wollte dich fragen, ob du über mein Angebot, deine Mentorin zu sein, nachgedacht hast?«
Ich hatte gestern Abend mit Griffin darüber diskutiert und wir waren übereingekommen, dass das sehr großzügig von Rania war und ich mir diese Chance nicht entgehen lassen sollte, aber nach dem Unterricht, den ich gerade hinter mich gebracht hatte …
»Ich scheine nicht nach den Akademie-Standards zu kämpfen. Und ich habe auch nicht vor, das zu ändern.«
Sie zog eine Augenbraue nach oben.
Raffiniert.
»Hat sich Seth etwa an das Akademie-Protokoll gehalten, als er gestern deinen Partner erledigt hat?«
»Nein.«
»Ich nehme an, Nyla und Rudyard haben auch mit dir trainiert, als sie bei euch waren, oder?«
Ich nickte und erinnerte mich daran, was für eine starke Kämpferin Nyla gewesen war.
»Eben. Bei Valerie dreht sich alles um Gesetze und Regeln. Das muss so sein, damit sie die Akademie wirksam leiten kann, aber versteh das nicht falsch – wenn du vor einem Raum voller älterer Grigori und Ratsmitgliedern deine Abschlussprüfung ablegst, dann zählt nur eins.«
»Was?«
»Dass du gewinnst.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum. »Und du kannst mir helfen, das zu erreichen?«
»Ja.«
Ich musste ihr Selbstvertrauen einfach bewundern angesichts der Tatsache, dass wir beide wussten, dass eine ganze Reihe von Grigori, darunter Drenson und Josephine, nichts lieber wollten, als mich ein für alle Mal aus der Akademie zu werfen.
»Also gut. Wann fangen wir an?«
»Morgen. Wir trainieren jeden Tag vor deinem Unterricht und direkt danach. Komm vorbereitet – ich habe vor, hart mit dir zu arbeiten.«
Ich war so froh gewesen, eine Verbündete als Mentorin zu haben, dass mir wohl entgangen war, dass Rania mir den Teil mit der harten Arbeit erklärt hatte.
Zwei Wochen, nachdem wir mit unserem Programm begonnen hatten, fühlte ich mich wie eine lebende Tote. Vom ersten Tag unseres Training holte sie mich um fünf Uhr morgens ab und brachte mich erst wieder gegen acht Uhr abends, nach unserer abendlichen Trainingsstunde, zu meinem Zimmer zurück.
Wegen meines heftigen Stundenplans sah ich Spence und Zoe nur im Unterricht. Und aufgrund der Tatsache, dass mir mehr als nur ein Augenpaar ständig auf die Finger schaute, hätte ich Lincoln gar nicht mehr gesehen, wenn er sich nicht angewöhnt hätte, mir abends heimlich etwas zu essen aufs Zimmer zu schmuggeln. Gegessen hätte ich sonst auch nichts mehr.
Glücklicherweise wussten wir beide, dass es keine gute Idee war, zu lange getrennt voneinander zu sein. Irgendwie schienen wir eine Art Kompromiss für unsere Seelen gefunden zu haben. Es war nicht perfekt, und auch wenn der körperliche Schmerz – ganz zu schweigen von der seelischen Pein – immer konstant war, egal ob wir voneinander getrennt oder zusammen waren, so intensivierte er sich doch immer in längeren Zeiten der Trennung.
Deshalb mein abendlicher Zimmerservice.
»Ich werde mit ihr reden«, sagte er, während wir auf dem Boden saßen und kalte Pasta aßen. Na ja, Lincoln aß sie – ich inhalierte sie praktisch. Ich hatte wieder mal das Mittagessen verpasst.
Ich hatte immer gedacht, Lincoln sei ein harter Trainer, aber Rania brachte das Training auf eine ganz neue Ebene. Wenn ich nicht gerade Runden in der riesigen, mit einer Glaskuppel versehenen Sporthalle auf dem Dach lief, machte ich strenge Drills durch, stemmte Gewichte, trainierte mit Waffen oder wurde ins Gesicht geschlagen. Von Rania. Sie schlug auch alle anderen Körperteile, aber sie konzentrierte sich auf mein Gesicht – wobei sie mir versicherte, dass wir meine Fortschritte immer daran messen konnten, wie oft ich es ihr erlaubte, mir die Fresse zu polieren.
Ich versuchte zu erklären, dass ich überhaupt nichts erlaubte.
Sie war anderer Meinung.
Ich sah Lincoln an und schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du nicht.« Das Letzte, was ich wollte, war, dass er zu meiner Rettung geeilt kam. »Nur noch zwei Wochen, und ich lerne eine ganze Menge.«
Zum Beispiel, wie der Boden von Nahem aussieht.
Er nickte, konzentrierte sich aber weiterhin aufs Essen, das er überhaupt nicht genoss, wie ich feststellte. Für mich war ein Abendessen aus der Mikrowelle in Ordnung, aber Lincoln war der Typ, der frisch Gekochtes bevorzugte.
»Hält sich Zoe je hier auf?«, fragte er und warf einen Blick auf ihr unordentliches Bett. Er wollte das Thema wechseln.
Ich nahm einen weiteren riesigen Mund voll Spaghetti. »Normalerweise hängt sie mit Spence und den anderen Studenten herum.« Ihr spätabendliches Herumstolpern in unserem Zimmer verhieß nichts Gutes – anders gesagt … sie hatte eine Menge Spaß. Aber ich war immer zu müde, mitzugehen und herauszufinden, was sie wirklich machten.
»Ich habe heute versucht, Steph zu erreichen, aber ich komme nie durch. Hat Griff etwas von ihr gehört?«
Lincoln nickte. »Heute, aber nur kurz. Nichts Neues. Sie sind immer noch dran«, sagte er diskret, weil er innerhalb der Akademie nicht ins Detail gehen wollte. »Griffin hat heute deine Eltern gesehen«, fügte er hinzu, wobei er sich anstrengte, locker zu klingen.
Wir hatten schon mal darüber geredet. »Ich besuche sie bald. Ich habe im Moment nicht gerade viel Freizeit.«
»Das ist nicht der Grund, und das weißt du genau.«
Stimmt. Das hatte eher mit der Tatsache zu tun, dass ich immer noch nicht wusste, was ich zu Dad sagen sollte, und mit meiner Unfähigkeit, die Tatsache zu verarbeiten, dass ich Evelyn so lange gehasst hatte – weil sie mich meiner Meinung nach zu ihrem eigenen Vorteil eingetauscht hatte –, dass ich ihr jetzt nicht mehr in die Augen sehen konnte. Ich hatte sie so schlecht behandelt, und jetzt wusste ich nicht, wie ich das wieder in Ordnung bringen konnte. Und … ich hatte so das Gefühl, dass sich die beiden … näherkamen, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
»Wird sie immer noch dauernd ohnmächtig?«, fragte ich.
»Nein, sie haben ihr etwas als Starthilfe für ihre inneren Organe gegeben, und es scheint zu wirken. Sie glauben, es hatte damit zu tun, dass sich ihr Körper wieder an seine irdische Form gewöhnen musste.«
Das klang logisch. Griffin hatte so etwas auch gesagt.
Wir saßen eine Weile schweigend da.
»Was glaubst du, wie es für sie gewesen ist?«, fragte ich leise.
»Ich kann es mir nicht vorstellen. Und laut ihrem offiziellen Bericht hat sie keine Erinnerung daran, in der Hölle gewesen zu sein. Nur, dass sie dort war.«
Doch ich wusste es besser. Sie hatte zu mir gesagt, dass ich sie niemals danach fragen soll, und zwar nicht, weil sie sich nicht mehr daran erinnert – sondern gerade weil sie sich erinnerte. Ich hatte den Verdacht, dass Lincoln das auch wusste.
»Sie ist deine Mum, Vi. Sie hat ihre ersten siebzehn Jahre mit dir aufgegeben, aber jetzt ist sie da. Ich …« Er stellte sein Abendessen ab, das er kaum angerührt hatte. »Ich war so wütend auf meine Mum, nachdem sie gestorben war. Ich war wütend auf sie, weil sie krank geworden ist – ich dachte, sie wäre zu schwach gewesen und hätte es Nahilius leicht gemacht, sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen.«
»Das ist nicht wahr.«
Er lächelte halb. »Ich weiß, aber so habe ich eine Zeit lang empfunden. Ich glaube, das war meine Art, mit der Sache umzugehen, bis ich in der Lage war, die Wahrheit zu erkennen – dass ich sie einfach vermisste.«
Ich lehnte meinen Kopf an das Bett. »Ich werde darüber nachdenken.«
Er nickte und reichte mir ein Schälchen geschmolzenes Schokoladeneis.
Mmh, lecker.
Ich aß, während er mich auf den neuesten Stand brachte. Es gab noch mehr vermisste Kinder. Phoenix war an einigen Orten gesichtet worden, mehrmals im Gebiet New York. Lilith war nicht gesehen worden, aber die Verbannten in der Gegend schienen sich zusammenzurotten. Es war klar, dass Lilith sie ausschickte, um die Drecksarbeit für sie zu erledigen – und logischerweise war die Verlockung der Grigori-Schrift die einzige Erklärung dafür, dass Verbannte des Lichts und Verbannte der Finsternis weiterhin zusammenarbeiteten.
»Ich hasse es, hier festzusitzen. Ich habe das Gefühl, dass ich lieber da draußen sein sollte, um zu jagen.«
»Im Moment glaube ich, dass das der beste Platz für dich ist. Wenn du da draußen wärst, würden sie sich vielleicht auf dich stürzen. Wenigstens trainierst du auf diese Weise und wirst stärker. Weltweit suchen Grigori nach ihr, und alle älteren Grigori in New York jagen nach ihr. Wir werden sie finden.«
Das Problem war – ich fühlte mich nicht stärker. Ich war erschöpft. Ich ließ mich noch weiter nach hinten sinken. Lincoln lächelte und stand auf, wobei er die Tabletts mit dem Essen aufhob.
»Ich gehe jetzt, damit du dich ausruhen kannst.« An der Tür blieb er stehen. »Du weißt, ich bin wirklich … Du machst das großartig. Die Prüfung wird ein Klacks werden. Ich weiß, es ist nicht einfach, und eingesperrt zu sein ist hart, aber ich bin wirklich … stolz darauf, dein Partner zu sein.«
Ich schluckte schwer über so viel Lob. Lincoln redete als mein Trainer mit mir, und es war eine große Sache für ihn, mir ein solches Kompliment zu machen.
»Danke«, sagte ich und wünschte, er würde nicht gehen, aber ich wusste, dass ich ihn nicht darum bitten konnte zu bleiben.
Er nickte. »Wir sehen uns morgen.«
Nachdem er gegangen war, rief ich Steph an. Wir hatten bisher nicht viel Glück gehabt, wenn es darum gegangen war, uns gegenseitig zu erreichen. Entweder sie war unterwegs, um nach Zutaten für den Qeres zu suchen, oder ich war im Training. Heute Abend war es nicht anders, ich wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet. Ich hinterließ ihr eine Nachricht, in der ich ihr mitteilte, dass ich versuchen würde, ihr zu mailen, aber wir wussten beide – wie auch immer wir Kontakt aufnahmen, weder Telefon noch E-Mail waren sicher, deshalb würde sie mir nicht viel erzählen können.
Nach allem, was Griffin aus Dapper herausbekommen hatte, hatten sie bereits neun der Inhaltsstoffe, die sie brauchten, gefunden, und Dapper hatte ein paar alte Freunde seiner Familie herangezogen, die ihnen dabei halfen, sich versteckt zu halten. Wir wussten nicht genau, was das bedeutete, aber er versicherte uns, dass sie alle sicher und zusammen waren. Die letzten drei Zutaten erwiesen sich als schwieriger zu finden – einer der Inhaltsstoffe schien ausgestorben zu sein. Wenn es sein musste, konnten wir eine minderwertigere Mutation des Krautes verwenden, aber Dapper hatte das Gefühl, dass es sich lohnen könnte, weiter zu suchen, und da wir an unserem Ende auch noch nicht weitergekommen waren, erklärte sich Griffin damit einverstanden. Niemand schien sich mit dem ungelösten Problem des engelhaften dreizehnten Inhaltsstoffs beschäftigen zu wollen.
In einer der wenigen SMS, die ich von Steph erhalten hatte, beklagte sie sich vor allem darüber, dass sie und Sal keine Zeit für sich allein hatten, bis sie mir vor ein paar Tagen einfach nur einen Smiley schickte, was wohl bedeuten sollte, dass sie schließlich doch einen Weg gefunden hatte, dieses Problem zu beseitigen.
Ich nahm eine Dusche und wusch mir das Blut von der abendlichen Trainingseinheit mit Rania ab. Als ich in mein Handtuch gewickelt aus dem winzigen Badezimmer kam, tat jeder Muskel extrem weh, und als ich gerade darüber nachdachte, mich selbst kurz mal rundum zu heilen, entdeckte ich Zoe und Spence, die auf dem Bett saßen.
»Hey«, sagte ich. Dann sah ich die Kleider – nicht meine eigenen –, die auf meinem Bett ausgebreitet waren.
»Was geht hier vor?«
Meine Verwirrung hielt nicht lang an, als ich sah, dass beide breit lächelten.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sie lächelten weiter und saßen mit der Art von Kleidung da, die geradezu »Ganz schlechter Plan« schrie.
»Nein«, beharrte ich. »Ich kann mich kaum bewegen, und Rania wird in« – ich sah auf meine Uhr – »sechs Stunden wieder an meine Tür klopfen.
»Ach, komm schon, Vi. Du warst doch immer für jeden Spaß zu haben. Wir sehen dich kaum noch und einige unserer Klassenkameraden reden schon …« Spence verstummte.
»Worüber reden sie?«
»Sie glauben, du hältst dich für was Besseres. Ich meine, du tauchst noch nicht mal zu den Mahlzeiten auf.«
Ich wusste, dass an dem, was er sagte, wahrscheinlich etwas Wahres dran war. Ich war wegen meines Trainings nirgends mehr aufgetaucht, aber das hieß nicht, dass die Leute das nicht auch anders auffassen konnten. Ich wollte keine Außenseiterin sein.
»Ein paar von ihnen gehen heute Abend aus, und wenn du mitkommst, können sie morgen beim Frühstück mal über etwas anderes reden.« Spence’ Augen leuchteten. Ich wusste, er wollte mich ködern und mich zum Nachgeben bewegen.
Ich biss mir auf die Lippe.
»Komm schon«, schaltete sich Zoe ein. »Ich habe sogar schon ein schickes Outfit für dich herausgelegt, damit du nicht darüber nachzudenken brauchst. Und tu nicht so, als könntest du nicht ein wenig von deiner Kraft für dich selbst aufwenden, um dich zu heilen. Wir wissen alle, dass du das kannst.«
Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. »Nur für den Fall, dass du es vergessen hast, ich habe nicht die Erlaubnis, die Gebäude zu verlassen.«
Spence verdrehte die Augen. »Genau genommen hat die keiner von uns, aber für den Fall, dass du es vergessen hast – wir haben gewisse Talente, wenn es darum geht, aus Hochhäusern herauszukommen.«
Daraufhin konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken.
Fünfzehn Minuten später hatte ich Zoes Lieblingshose aus schwarzem Leder, hochhackige Stiefel und ein mit goldenen Perlen besetztes Oberteil mit Nackenträger an. Alles an dem Outfit schrie danach, tanzen zu gehen.
Zoe zerrte meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz, während ich mir etwas Eyeliner und eine Schicht Wimperntusche ins Gesicht schmierte.
Spence streckte den Kopf wieder zur Tür herein. »Die Luft ist rein. Mission Brücke kann starten.«
Mission Brücke?
Zoe packte mich an der Hand und zog mich den Flur entlang.
Es wurde allmählich spät, deshalb waren kaum Leute auf den Gängen. Wir blieben dicht beisammen, während wir durch drei Gebäude und über zwei Skywalks gingen. Immer wenn die Gefahr bestand, gesehen zu werden, versah uns Spence mit einer Blendung. Auf dem untersten der Akademie-Stockwerke in Gebäude D blieben Spence und Zoe schließlich vor einem Lastenaufzug stehen.
»Zoe, du stehst Schmiere«, sagte Spence.
Sie nickte und behielt den Flur im Auge, während Spence anfing, die Türen aufzubrechen.
»Werden wir bei dem Versuch, hinauszugelangen, umkommen?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht«, sagte er, während er die Türen auseinanderzog. »Zoe, los jetzt!«, zischte er.
Sie rannte geradewegs auf den Aufzug zu und … sprang.
»Um Himmels willen«, keuchte ich. Dann schaute ich über die Kante und sah, dass sie sich an einer Leiter auf der gegenüberliegenden Seite des Aufzugsschachts festhielt.
Spence gluckste. »Nach dir, Sonnenschein.«
Ich lächelte. Das würde bestimmt lustig werden.
Ich folgte Zoe mit einem Sprung in den Aufzugsschacht, landete ohne Schwierigkeiten auf der Leiter und folgte ihr nach unten. Spence war direkt hinter mir.
Als wir den zweiten Stock erreichten, kletterte Zoe nicht weiter, sondern stemmte dort die Aufzugstüren auf. Als wir hinausgeklettert waren, führte sie uns durch einen Notausgang auf einen Balkon.
»Warum gehen wir hier lang? Warum nicht einfach durch den Vordereingang?«
»Bewegungsmelder«, erwiderte Spence. »Selbst wenn ich uns mit einer Blendung versehe, schlagen sie an.«
»Wie oft macht ihr das?«
Spence zuckte mit den Schultern. »Der Lastenaufzug ist wie … wie ein Initiationsritus. Wir saßen beide fast ein Jahr lang in diesen Gebäuden fest – du kannst es dir ausmalen.«
»Klar.«
Wir gingen zur Balkonbrüstung und sprangen trotz der Höhe von zwei Stockwerken einfach hinunter, landeten leichtfüßig und winkten einem gelben Taxi.
»Schau mal nach oben«, sagte Zoe.
Ich sah sie skeptisch an, folgte dann aber ihrem Blick.
»Oh mein Gott«, flüsterte ich.
Zum ersten Mal sah ich, wie die Skywalks die Akademie-Gebäude verbanden, wie sie sich zwischen ihnen schlängelten. Jetzt, wo ich wusste, dass sie da waren, schimmerten sie in hellem Gold.
»Ist das …?«, ich konnte die absurde Frage nicht zu Ende aussprechen.
Bestimmt nicht.
»Ja«, sagte Zoe. »Josephine hat einen Heiligenschein über der Stadt errichtet.«
Ich folgte meinen Freunden in das wartende Taxi, noch immer erstaunt darüber, dass Josephine New York einen Heiligenschein verpasst hatte.
»Brooklyn Bridge«, sagte Spence zum Fahrer.
Ich kurbelte das Fenster herunter und sog die Luft ein, die vorübergehende Freiheit verhieß. Eigentlich war die Luft eher stickig, aber als ich Zoe und Spence ansah, die beide vor Adrenalin vibrierten, kam ich nicht gegen ein Lächeln an, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete. »Mission Brücke?«, fragte ich.
Beide nickten.
»Zeit, dir unser New York zu zeigen.«