Kapitel Zwei
»Muss ich nach deinem Sinn dir Antwort geben?«
William Shakespeare
Die Dinge liefen nicht so, wie ich wollte.
Nachdem Evelyn wieder zu sich gekommen war, wurde sie zwischendurch immer wieder ohnmächtig, während wir versuchten, Dads zahlreiche Fragen zu beantworten. Nachdem sie zum vierten Mal das Bewusstsein verloren hatte, brachte Dad sie in sein Zimmer und befahl ihr, sich auszuruhen.
Das war vor drei Wochen gewesen.
Und jetzt war sie immer noch da.
Ich versuchte Dad alles zu erklären. Ich saß Nacht für Nacht mit ihm zusammen und führte ihm meine Kräfte vor, aber Logik erschwert die Akzeptanz dessen, was man sieht. Schließlich rief ich Griffin und Spence zu Hilfe. Griffin hatte die Fähigkeit, einem Menschen die Wahrheit einzuflößen, solange das, was er sagte, auch wirklich der Wahrheit entsprach. Nach ein paar ausgewählten Worten wurde es für Dad schwierig, ihn infrage zu stellen.
Spence setzte schließlich noch die letzten Zweifel außer Kraft, indem er seine Fähigkeiten demonstrierte und sich in eine ganze Reihe verschiedener Personen verwandelte. Er setzte noch eins drauf, indem er einfach seine Hand auf meine Schulter legte und uns beide unsichtbar machte. Bei dieser Vorführung musste ich feststellen, dass Spence’ Kräfte in den letzten paar Monaten beträchtlich gewachsen waren.
Schließlich kannte Dad die ganze Wahrheit.
Gleich nachdem er das alles akzeptiert hatte, wollte er Lincoln sehen.
Sie saßen sich am Esstisch gegenüber und Dad starrte Lincoln auf eine ganz neue – unfreundliche – Weise an.
»Ich habe dich in meinem Zuhause willkommen geheißen«, sagte Dad drohend. »Ich habe zugelassen, dass du trotz des Altersunterschieds Zeit mit meiner Tochter verbringst. Ich dachte, wir hätten eine Übereinkunft.«
»Dad«, stöhnte ich von der Küchenbank aus, aber es nutzte nichts.
Ich hatte erwartet, dass Lincoln nervös wäre oder zumindest vorsichtig. Aber ich hatte mich geirrt.
Er starrte Dad geradewegs ins Gesicht. »Mit allem gebührenden Respekt, Mr Eden, ich war oft hier und habe Sie nur sehr selten gesehen. In den ersten beiden Jahren, seit ich Violet kenne, waren wir einfach nur Freunde, die gemeinsam trainiert haben. Ich habe nie etwas getan, was … über eine Freundschaft hinausgeht.«
Leider wahr.
»Als ich sie kennenlernte, versuchte sie gerade, ihr Leben nach dem Übergriff wieder auf die Reihe zu bekommen, obwohl ich davon erst kürzlich erfahren habe. Ihre Welt war durch diesen Mistkerl völlig aus den Fugen geraten.« Seine Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten. »Kein Wunder, dass sie verzweifelt nach einem Weg suchte, ihr Leben unter Kontrolle zu bekommen. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dies zu erreichen.« Er sah mich an, während ich blass wurde und schon halb damit rechnete, dass Dad aufspringen und ihn schlagen würde. »Den Rest hat sie selber erledigt.«
Dad zuckte zusammen und warf einen Blick in den Flur hinaus, wo Evelyn lauschte. Sie sah nicht glücklich aus.
»Das ist zum Teil richtig«, gab Dad zu. »Aber ich habe dir in Bezug auf Violet vertraut und jetzt höre ich, dass du sie, ohne mit der Wimper zu zucken, mit nichts Geringerem als einem bösen Engel losgeschickt hast, damit sie von einem Felsen springt, um dir das Leben zu retten!«
Eins musste ich Dad lassen – er verstand es wirklich, die Dinge in einem ungünstigen Licht erscheinen zu lassen.
Lincoln ließ sich nicht provozieren. »Ich war bewusstlos und hatte keine Ahnung, was sie vorhatte. Ich wollte nie, dass sie ihre Entscheidung um meinetwillen trifft.« Seine nächsten Worte wogen schwer, als er langsam sagte: »Damit muss ich jetzt für den Rest meines Lebens zurechtkommen.«
Dad schüttelte den Kopf. »Und so sollte es auch sein.«
Ich wählte diesen Moment, um einen Schritt nach vorne zu treten. »Wäre es dir lieber, wenn ich anders wäre, Dad?«
Er unterbrach den Blickkontakt mit Lincoln, um mich anzuschauen.
»Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich ihn hätte sterben lassen? Wenn ich meiner Zukunft den Vorzug vor seinem Leben gegeben hätte?«
Dad schwieg.
Ich blickte in Evelyns Richtung. »Damit hätte ich nicht leben können.« Ich ging zu Lincoln und stellte mich hinter ihn, eine symbolische Handlung, die niemandem entging. »Ich habe Entscheidungen getroffen. Manche bereue ich, einige werden mich für immer verfolgen. Aber von diesem Felsen zu springen, um zu werden, wozu ich bestimmt war, und um ihn zu retten – das ist eine Entscheidung, die ich niemals bereuen werde.«
Ich konnte Lincolns Gesicht nicht sehen, doch sein Körper war völlig regungslos.
Schließlich räusperte sich Dad und stand auf. Er war bei Weitem nicht bereit, zu vergeben und zu vergessen.
»Ich höre, was du sagst, Violet. Aber mir drängt sich der Verdacht auf, dass du aus den falschen Gründen in diese Welt gezwungen wurdest.« Er funkelte Lincoln an.
Lincoln stand auf. »Ich verstehe Ihre Gefühle, Mr Eden. Ich hoffe, Sie werden eines Tages Ihre Meinung über mich ändern. Doch bis dahin kann ich Ihnen nur mein Wort geben, dass ich Violet als Mensch und als Grigori wertschätzen werde. Und …«, er warf mir einen kurzen Blick zu, »ich würde alles für sie tun.« Und damit ging er zur Tür.
Ich folgte ihm hinaus zum Aufzug. Ich hatte erwartet, dass er sauer wäre, dass er toben und behaupten würde, Dad hätte den Verstand verloren. Aber er war still. Zu still.
Ich drückte auf den Aufzugsknopf. Lincoln sah mich nicht an.
»Er braucht nur jemanden, dem er die Schuld geben kann. Das wird nicht lange andauern«, sagte ich leise und wünschte, ich könnte so für ihn da sein, wie ich gern wollte.
Er versuchte, etwas zu sagen, doch er klappte den Mund wieder zu, als könnte er nicht sprechen, und schüttelte den Kopf.
»Linc?« Ich streckte die Hand nach ihm aus, meine Fingerspitzen strichen über seine. Der Kontakt entzündete wie immer qualvolle Seelenschmerzen.
Lincoln ergriff meine Hand, und plötzlich, ohne Vorwarnung, zog er mich an seine Brust und schlang seine Arme so fest um mich, als wollte er mich nie wieder loslassen.
Es war ein seltener Ausbruch seiner wahren Gefühle und ein noch seltenerer Ausdruck physischen Verlangens. Ich hielt ihn ebenso fest, keiner von uns sagte oder tat etwas. Wir hielten uns nur umschlungen. Ich atmete seinen Duft ein – Sonne und schmelzender Honig –, und meine Seele lechzte nur noch mehr nach ihm.
So standen wir da, bis die Aufzugstür aufging. Lincoln seufzte und ließ mich los, seine Hand wanderte dabei zu meiner Wange, sein Daumen strich in der Art und Weise über mein Haar, wie ich es so liebte, der Blick aus seinen smaragdgrünen Augen drang in mich. Wortlos betrat er den Aufzug.
In dem Moment, als sich die Türen schlossen, gaben meine Knie nach und ich fiel zu Boden, weil ich wahre Höllenqualen erlitt. Ich griff mir an Brust und Bauch, denn irgendwo dort drin wurde gerade der Zauber zerrissen, der unsere Seelen verband.
Ich hörte nicht einmal, wie die Tür hinter mir aufging, aber plötzlich war Evelyn da und kauerte sich neben mich. Ich spürte eine zaghafte Hand auf meinem Rücken, während ich versuchte, nicht vor Schmerzen zu weinen.
»Bist du verletzt?«, fragte sie rasch und scharf. Ich konnte ihre Anspannung fühlen, als sie sich nach einem Feind umschaute.
»Nein«, brachte ich heraus.
»Was dann?«, fragte sie und musterte mich von oben bis unten. »Ich verstehe nicht …« Sie unterbrach sich, sah zuerst mich an und dann den Aufzug. »Lincoln? Das ist …« Wieder hielt sie inne. Dann packte sie mich hart an den Schultern und zog mich auf die Füße.
»Sag mir jetzt nicht, dass es da etwas zwischen euch gibt!« Sie schüttelte mich. »Sag mir, dass du nicht in deinen Partner verliebt bist!«
Ich versuchte, den Schmerz hinunterzuschlucken, die Strafe dafür, dass ich ihn berührt hatte. Ich fing an zu zittern.
»Antworte mir sofort! Schläfst du mit ihm?«, fragte Evelyn und schüttelte mich noch einmal, wobei sie mich dazu zwang, den Kopf zu heben. Ihre Augen blitzten, als sie mich eindringlich ansah.
»Nein«, sagte ich. Tränen strömten aus meinen Augen, teils wegen der körperlichen Schmerzen, teils wegen meines Herzens. Ich wusste, weshalb sie fragte – es war Grigori-Partnern verboten, eine Beziehung miteinander zu haben, denn es löste eine Art negative Reaktion in unseren Engelbestandteilen aus, und das Resultat war gefährlich. Bestenfalls wurden die Grigori-Kräfte geschwächt, schlimmstenfalls gingen sie verloren. Doch Lincoln und ich waren so ziemlich das Gegenteil.
Wir waren Seelenverwandte.
Unsere Kräfte würden größer werden, wenn wir zusammen wären … Doch es würde andere verlustreiche Konsequenzen haben, die keiner von uns hervorrufen wollte.
Ihr Blick ruhte auf mir, während ich versuchte, mich in den Griff zu bekommen. »Aber irgendetwas läuft da, oder? Zwischen euch beiden, etwas, das du mir nicht sagst.«
Ihre Frage war genau das, was ich brauchte, um mich zusammenzureißen und mich aus ihrem Griff zu lösen.
»Weißt du was, Mum, wenn du so clever bist, dann finde es doch selbst raus!« Und damit stürmte ich an ihr vorbei in die Wohnung.
Evelyn richtete sich bei uns zu Hause gemütlich ein. Dad schlief jetzt im Wohnzimmer, und trotz meiner Bemühungen schien sie nicht weggehen zu wollen.
Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass sich Dad wieder total in sie verliebte. Ich versuchte, ihm begreiflich zu machen, wie schrecklich sie war – und er stimmte dem, was ich sagte, auch zu, teilweise zumindest. Evelyn hatte ihn während ihrer ganzen Beziehung angelogen, und das hatte er nicht vergessen. Trotzdem folgte er ihr dauernd mit Blicken durch die ganze Wohnung.
Am Morgen nach Lincolns Besuch mied ich mein Zuhause und versuchte, dem übrigen Seelenschmerz davonzulaufen, den seine Berührung hinterlassen hatte. Nach einem straffen Workout fühlte ich mich besser.
Als ich nach Hause kam, schnappte ich mir in der Küche eine Flasche Wasser und bemerkte die Fetzen einer weiteren zerschnittenen Zeitung auf der Küchenbank. Ich hielt sie Dad hin und fuchtelte damit herum.
»Hat sie schon erklärt, weshalb sie dauernd die Zeitung massakriert?« Täglich zerstörte sie all unsere Zeitungen, und im Mülleimer fand ich auch internationale Blätter.
»Ich glaube nicht, dass das noch lange so weitergeht«, sagte Dad mit einem Lächeln, das nichts Gutes verhieß. »Ich habe ihr gezeigt, wie man das Internet benutzt.«
Großartig, das erklärt, warum ich meinen Laptop nicht finden kann.
»Wir sollten sie einfach in ein Hotel schicken oder so. Griffin könnte das arrangieren.« Ich hatte diese Lösung schon ein paarmal vergeblich vorgeschlagen, aber ich war entschlossen nicht aufzugeben.
Dad schüttelte nur den Kopf und gab mir seine übliche Antwort. »Sie ist zu schwach. Was immer ihr bei ihrem Übergang hierher zurück zugestoßen ist … sie kann nicht allein sein.«
Ich ließ mich auf die Kissen zurücksinken. »Wahrscheinlich täuscht sie diese Ohnmachtsanfälle nur vor. Sie gehört nicht hierher, Dad.«
Er seufzte und legte mir den Arm um die Schulter zu einer unserer traditionell peinlichen Umarmungen.
»Vi, ich weiß, was du sagen willst. Sie hat Entscheidungen getroffen, die wir nicht verstehen oder die wir nicht akzeptieren, aber ich finde, wir sollten ihr die Chance geben, sich zu erholen. Wenn es ihr erst mal besser geht, dann … werden wir ja sehen, was zu tun ist.«
Ja, klar.
Ich löste mich von ihm. »Ich muss duschen«, sagte ich und stand auf.
»Ich hatte gehofft, dich heute Abend in deinem Kleid zu sehen. Weißt du, für ein gemeinsames Foto oder so.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich mache mich mit Steph fertig«, sagte ich, wobei ich verschwieg, dass wir uns im Hades treffen würden.
»Sie hätte zu uns kommen können. Eine Zeit lang war sie mehr hier als bei sich zu Hause.«
Ich nahm einen letzten Schluck Wasser und machte die Flasche wieder zu. »Hier ist es inzwischen ein bisschen zu voll.«
Dad stand auf, nahm meine Hände in seine und schaute auf die Armbänder hinunter, die meine Male verbargen. »Irgendwas Neues?«
Ich schüttelte den Kopf. »Griffin hat täglich Kontakt zur Akademie. Sie wurden mehrmals gesichtet, aber nichts Konkretes.«
Tatsächlich war es, als wären Phoenix und Lilith von der Erdoberfläche verschwunden. Doch gleichzeitig wusste ich, dass sie das nicht waren. Etwas braute sich zusammen. Das spürte ich – und es war kein schönes Gefühl.
»Du gehst heute nicht ›jagen‹, oder?« Das war weniger eine Frage als eine Forderung.
Ich lächelte. »Heute nicht.« Ich hatte heute frei für unseren Abschlussball.
Er küsste mich auf den Scheitel. Er roch nach Dad – Rasiercreme und Aftershave.
»Weißt du, sie ist wach, falls du Tschüss sagen möchtest, bevor du gehst.«
Er ging zum Esstisch, wo er sich ein provisorisches Büro eingerichtet hatte.
Ich lachte. »Mal sehen.«