Kapitel Dreiunddreissig
»Hattet ihr denn keine Einsicht? Das ist die Hölle, die euch angedroht ward.«
Koran 36, 62–63
Zuerst brachen gegensätzliche Gerüche über mich herein. Etwas Feuchtes, Stechendes – wie Desinfektionsmittel. Dann salziger Schweiß und Hitze. Aber vor allem der strenge Geruch von frischem Blut, vermischt mit dem faulen Gestank von getrocknetem.
Als Nächstes kamen die Schmerzen. Von der Stirn bis zum Nacken, meine Schultern, Arme und von dort aus abwärts. Überall. Es fühlte sich an, als stünde mein ganzer Körper in Flammen.
Ich rang nach Atem. Meine Kehle war rau, beim Einatmen fühlte es sich jedes Mal an, als würden Messer in eine offene Wunde stechen. In gewisser Weise fühlte es sich so an, als würde es vom vielen Schreien kommen, aber der Gedanke war zu kompliziert, um ihn zu behalten.
»Sie kommt zu sich«, sagte eine Stimme.
Schritte erklangen, kamen näher. »Hey, Dapper hat gerade angerufen. Sie sind fast da.« Andere Stimme.
Wer ist das? War das … Spence?
»Gut. Geh zurück nach draußen und halt Wache.«
Pause. Dann Schritte, die sich entfernten.
»Hol ihr etwas Wasser«, sagte dieselbe Stimme.
»Ich lasse sie nicht allein«, antwortete eine Frauenstimme.
»Sie kann kaum atmen, hol Wasser«, knurrte die erste Stimme.
»Ich traue dir in Bezug auf sie nicht.«
»Ich habe sie hierher gebracht, oder?«
Wieder Pause. Es folgten schlurfende Schritte.
Weiter weg schrie jemand auf. Mehr Geräusche, dann ein lauter Knall, gefolgt von einem Klicken.
Mein Gehirn funktionierte nicht richtig. Ich versuchte, die Augen zu öffnen. Allmählich keimte Panik in mir auf, weil ich mich fragte, wo ich war und was passiert war. Wo war ich? War ich irgendwo, wo ich schon einmal gewesen war? Plötzlich sah ich zuckende Lichter. Etwas schoss durch die Luft auf mich zu.
Pfeil.
Eine Hand strich mir mit einem feuchten Tuch beruhigend über die Stirn. Es linderte die Schmerzen nicht. In der Nähe hörte man lautes Krachen.
»Violet?«, sagte die Stimme. »Du musst versuchen, aufzuwachen.«
Ich begriff nicht, warum. Nichts ergab einen Sinn. Ich sah noch mehr Blitze.
Erinnerungen kamen zu mir zurück. Mein Körper zuckte. Starke Hände hielten mich unten. Mir fiel Lilith ein. Ich erinnerte mich wieder an die Kinder – Simon, Katie, Tom. Ich erinnerte mich an die Pfeile.
So. Viele. Pfeile.
Ich versuchte, etwas zu sagen, doch es kamen keine Worte heraus.
»Versuch nicht zu sprechen«, sagte die Stimme. »Du musst dich darauf konzentrieren aufzuwachen. Wenn du richtig zu dir gekommen bist, kannst du dich selbst heilen.«
Aber warum?
Ich sollte doch tot sein. Ich hatte doch gefühlt, wie ich davongeglitten war.
Ein Anflug von Ironie überkam mich. Ich hatte eigentlich gedacht, dass alle Schmerzen weg sein würden, wenn ich gestorben war.
Mein verdammtes Pech, dass es nicht so funktioniert hat.
Aber wer würde mit mir sprechen, wenn ich tot war? Und warum klang er so vertraut?
Gott?
Wenn ja, dann würde er sicherlich keinen Hausbesuch bei mir machen, ich hatte nie an ihn geglaubt.
»Violet, ich will dich nicht schlagen müssen. Mach deine verdammten Augen auf!«
Definitiv nicht Gott.
Meine Augenlider flatterten.
Das Licht war gedämpft und mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es schlimm angeschwollen. Allmählich wurde die Person, die über mir stand, deutlicher.
Wieder krachte es, dieses Mal lauter. Ich kam nicht dahinter, ob das in meinem Kopf stattfand.
»Phoenix?«, krächzte ich.
»Konzentrier dich«, sagte er. »Das ist sehr wichtig. Kannst du mich verstehen?«
Ich versuchte zu nicken. Ich war am Leben.
»Gut. Gut«, sagte er beruhigend, als wollte er uns beiden Mut machen. »Violet, du musst dich selbst heilen. Dapper schafft es nicht mit seinen Fähigkeiten, und ich kann dir erst helfen, wenn du stärker bist. Himmel noch mal«, seufzte er. »Wir müssen das jetzt tun, oder ich werde es nie tun. Hörst du mich?«
»Kin-der?«, flüsterte ich, während ich mich durch die extremen Schmerzen hindurch einfach aufs Atmen konzentrierte. Mit dem Sterben zurechtzukommen, war eine Sache, zu wissen, dass ich alles, was passiert war, immer wieder würde durchleben müssen, sobald ich mich erholt hatte – angesichts dieses Schreckens mit dem Überleben zurechtzukommen war … erschütternd.
Phoenix’ Gesicht wurde sanfter.
»Du hast einundsiebzig gerettet.« In seiner Stimme lag eine seltsame Fassungslosigkeit. »Dapper und Onyx sorgen dafür, dass sie sicher in die Akademie gebracht werden. Ich … ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber du bist die ganze Zeit bei Bewusstsein geblieben. Ich habe die ganze Zeit deinen Herzschlag überwacht und darauf gewartet, dass du ohnmächtig wirst, aber du hast einfach weitergemacht. Als du schließlich die Augen geschlossen hast, war sich Lilith sicher, dass du tot bist, aber ich habe deine Wunden geheilt und Lincoln hat dir seine letzte Kraft geschickt. Das war genug, um dich am Atmen zu halten. Sie zwang mich, noch mehr Pfeile auf dich abzuschießen, aber du hast nicht aufgehört zu atmen und sie weigerte sich, dir einen Tod zu gönnen, den du nicht bewusst erlebst. Deshalb hat sie dich weggeschickt, bis du zu ihr zurückgebracht werden kannst, damit sie dich selbst töten kann. Ich habe dich da rausgeholt, aber wir haben nicht viel Zeit. Violet, du musst mir helfen.«
Ich war verwirrt und versuchte zu verarbeiten, was ich gerade gehört hatte. Und das Krachen wurde hartnäckiger. »Was … ist das?«, fragte ich.
Phoenix schüttelte eindringlich den Kopf. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Wir müssen das jetzt tun!«
»Was … tun?«
Noch immer konnte ich nicht glauben, dass ich noch lebte.
Wie habe ich einundsiebzig Pfeile überlebt?
Allein der Gedanke daran brachte die Schmerzen zurück – Schmerzen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass ich mich je an sie erinnern müsste.
»Konzentrier dich«, verlangte Phoenix. »Du musst deine Wunden heilen. Ich brauche dich so stark wie möglich, sonst kann ich dir nicht helfen.«
»Ich … verstehe nicht«, sagte ich. Das Sprechen strengte mich an.
Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich werde dir später alles erklären. Du musst mir vertrauen.«
Das Krachen hielt an und ich hörte jetzt, dass da noch andere Geräusche waren. In der Ferne hörte man Leute herumschreien – Leute, die ich kannte.
Mir fiel Lincolns Bitte wieder ein. Trotz meiner Schwäche – und seiner – spürte ich ihn durch unser Band. Er war noch am Leben. Ich spürte das zarte Flattern in unserer Verbindung – er wusste, dass ich an ihn dachte. Er machte mir Mut. Mir fiel wieder ein, dass ich ihm versprochen hatte, Phoenix zu vertrauen.
Ich nickte und schloss die Augen, konzentrierte mich auf meine Fähigkeiten und beschwor sie herauf. Sie waren schwerfällig und müde, aber meine Kraft baute sich langsam auf und arbeitete sich durch meinen Körper, wobei sie die schlimmsten meiner Verletzungen heilte. Ich spürte, wie Lincoln seine Kraft hinzufügte und versuchte, ihn zu blockieren, damit er behielt, was er – wie ich wusste – brauchte, aber es dauerte eine Weile, bis ich stark genug war, ihn wirksam wegzuschieben.
Schließlich schlug ich die Augen wieder auf. »In Ordnung«, sagte ich. »Allmählich fühle ich mich besser.«
Phoenix nickte, seine Miene war jetzt verschlossen.
»Was jetzt?«, fragte ich und blickte um mich. Wir waren wieder in Evelyns Hütte, im Keller. »Wo ist Lincoln?«
»Er ist noch dort.«
»Und Evelyn?«
Phoenix nickte nur.
Ich seufzte. »Was ist mit den Kindern?«
»Sie hat Onyx die einundsiebzig mitnehmen lassen, aber sie hat immer noch fast dreißig eingesperrt und hat vor, sich noch mehr zu holen.«
»Wer ist noch hier?«, fragte ich, als ich deutlicher sehen konnte. Das Krachen, das ich gehört hatte, war von der anderen Seite der Kellertür gekommen.
Er zuckte mit den Schultern. »Inzwischen wohl die ganze verdammte Truppe. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bis sie zu uns durchkommen.«
Warum sperrt er sie aus?
»Wir gehen also zurück, nicht wahr? Wir müssen diese Kinder da rausholen«, sagte ich.
Phoenix schüttelte langsam den Kopf. »Zuerst müssen wir etwas anderes tun.«
»Was?«
Was um alles in der Welt konnte denn wichtiger sein?
»Besser, du fragst nicht.«
Bei seinen letzten Worten war Phoenix plötzlich über mir, setzte sich rittlings auf mich und drückte mich nach unten. Ich war wehrlos und konnte ihn nicht aufhalten, meine Stärke reichte nicht an seine heran. Meine Augen wurden groß, als sich seine Hand über meinen Mund und meine Nase schloss.
Ich trat nach ihm und wölbte mich unter ihm, aber es war sinnlos. Er war zu stark. Jede meiner Bewegungen wurde mit Leichtigkeit ausgebremst, und ich bekam keine Luft mehr, weil Phoenix mich erstickte.
Die solide Tür blockierte den Weg für die Helfer. Sie konnten nicht rechtzeitig durchbrechen.
Ich spürte, wie Phoenix über mir bebte, und sein quälender Blick durchdrang mich, eine Million Worte lagen darin, aber ich konnte nicht eines davon herauspflücken.
War dies die Art und Weise, wie ich gehen sollte?
Die Art und Weise, die für mich bestimmt war?
Ich hatte so lange geglaubt, dass Phoenix derjenige sein würde, der mich umbringen würde. Hatte er mich nur für diesen letzten, schrecklichen Verrat zurückgelockt? Er musste das geplant haben. Er wollte mich schon seit so langer Zeit tot sehen.
Das ist seine Rache.
Ich hörte auf, mich zu wehren.
Meine Zeit ist gekommen. Ich habe getan, was ich konnte, und das ist jetzt mein Ende.
Ich starrte ihn an. Er weinte. Ich verstand es nicht.
Die Bilder begannen die Farbe zu verlieren und das Leben in mir glitt davon. Als das letzte bisschen Licht verschwand, stand ich plötzlich vor dem Engel, der mich gemacht hatte.
Ich wusste ohne jeden Zweifel – ich war tot.
Da war keine Wüste. Kein Atelier.
Ich war auf einem Feld. Langes, federleichtes Gras, Sonnenschein, der mich bis auf die Knochen wärmte. Alle Schmerzen waren verschwunden. Und das war nicht meine Welt.
Es fühlte sich seltsam an wie ein Traum, aber es war keiner. Das war etwas anderes – zunächst mal regnete es in meinen Träumen fast immer. Doch gerade als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, knisterte es laut am Himmel und Regen fing an, herunterzuprasseln.
Der Engel, der mich gemacht hatte, stand vor mir. Er war vollkommen trocken, kein Tropfen Regen hatte ihn berührt. Sein Gesicht war deutlicher zu sehen als je zuvor. Es war menschlicher – und gleichzeitig weniger menschlich.
»Ich bin tot«, sagte ich, die Worte hallten überall um mich herum.
»Im Moment? Ja«, erwiderte er.
Ich entdeckte die seltsamen, schwebenden Dinge, die ich so viele Male zuvor bei meinen Begegnungen mit Uri und Nox gesehen hatte. Sie schwebten im Hintergrund, schimmerten und sprangen auf unberechenbare Weise hervor. Bei den herabstürzenden Wassermassen erinnerten sie mich an riesige Quallen. Ich machte einen Schritt auf sie zu, weil ich mehr denn je von ihnen angezogen wurde.
»Kind, nein. Noch nicht«, sagte mein Engel sanft. Dennoch war es ein Befehl. Ich erstarrte.
»Sind wir im Himmel?«
»Würde so der Himmel für dich aussehen? Ein Feld und Regen?«
»Nein.«
»Dann ist das deine Antwort.«
»Ist es das Engelreich?«
»Wir brauchen kein Land oder materielle Substanz. Wir sind jenseits davon.«
»Wo sind wir dann?« Selbst im Tod war er noch nervtötend kryptisch.
»Dort, wo du sein musst. Du bist in der Verbindung, dem Ort, an dem wir dir nah sein können. Er gehört weder uns noch euch. Es ist ein Ort, den wir gemeinsam erschaffen.«
Plötzlich wusste ich es. Das war das, worum sich alles drehte. Dieser Ort. Das war irgendwie das, was ich war.
»Andere kommen nicht hierher, oder?«, fragte ich.
»Nein. Wenn wir müssen, können wir einen Ort für sie simulieren. Einen Ort für ihre Prüfungen – einen Traum, eine Vision –, aber kein anderer hat die Fähigkeit, einen Platz im Universum mit uns zu schaffen. Du bist die Einzige.«
Ich schloss die Augen und wusste intuitiv, was ich tun musste. Ich zwang mich, die Wahrheit zu sehen – diesen Ort als das zu sehen, was er wirklich war. Ich schlug die Augen wieder auf.
Das Erste, was ich sah, waren die Grenzen, als wären wir auf einer Insel, die umgeben war von … nicht Nichts, aber auch nicht … Etwas. Von unbekanntem Raum. Dann bemerkte ich die Sonne. Sie war viel näher, als sie sein sollte, und der Regen, den ich hervorgerufen hatte, hörte sofort auf und gab den Blick auf den Himmel frei.
Ich schnappte nach Luft und wich ein paar Schritte zurück.
Der inzwischen dunkle Himmel war voller Regenbögen. Dutzende. Hunderte. Regenbögen umfassten das Universum, verbanden alles.
»Was … Was bedeutet das?«
»Neue Möglichkeiten.«
»Wofür?«
»Viele Dinge.«
»Aber ich … ich bin tot.«
»Vorläufig.«
»Aber Nox und Uri haben gesagt, das wäre das Engelreich, als sie mich besucht haben. Dass sich die beiden Reiche berührten.«
Der Engel, der mich gemacht hat, zuckte mit den Schultern. »In gewisser Weise stimmt das. Sie haben dir erzählt, was du bereit warst zu hören. Wie geht es Evelyn?«
Sein Themenwechsel überraschte mich. »Sie ist … Lilith hat sie.«
Er nickte. »So muss es sein. Diejenigen von uns, die ihren Weg am frühesten gewählt haben, sind die Stärksten, und Lilith wurde als Erste verbannt – ihre Macht wächst. Evelyn ist keine würdige Gegnerin mehr. Sie hat getan, was sie konnte, und das war bemerkenswert, aber jetzt ist es an der Zeit, dass diese Schlacht beendet wird. Zeit für dich, deinen Platz einzunehmen.«
»Wie?«
»Du hast die Mittel, die du brauchst.« Er blickte auf meine Handgelenke und meine Male fingen an, herumzuwirbeln. Ich hielt sie hoch, weil ich mich daran erinnerte, was Onyx gesagt hatte.
»Die dreizehnte Zutat«, murmelte ich.
Er lachte, womit er mich erneut überraschte. »Die einzige Zutat.«
Ich blinzelte. »Aber … Onyx hat gesagt … Warum … Warum dann die anderen Zutaten?«
»Die Menschen machen die Dinge gern kompliziert. Es ist Zeit zu gehen.«
»Kümmerst du dich?«, fragte ich rasch, weil ich nicht wusste, was passieren würde, wohin ich jetzt gehen würde.
»Um viele Dinge«, antwortete er.
Sehnsüchtig nach etwas, was mich wieder ganz machte, drängte ich: »Um mich? Kümmert es dich, was mit mir passiert?«
Er sah mich einen Moment lang nachdenklich an, und etwas flackerte in seinen Augen auf, das ich nicht entschlüsseln konnte. »Genug um das zu erlauben, von dem ich weiß, dass es jetzt passieren muss«, sagte er. Hinter seinen Augen loderte Feuer auf.
Als ich ihn einfach anstarrte, sah er über mich hinweg. »Geh. Gewinne den Krieg, hinterher kannst du fragen, was du willst.«
Er schob einen Finger über mein Herz und ich spürte, wie etwas Schweres gegen mich schlug, das mich von der Universum-Insel in den Abgrund schleuderte.
Ich schwebte.
Ein weiterer Schlag.
Luft rauschte in meine Lungen. So viel, dass ich dachte, sie würden explodieren.
Taten sie aber nicht.
Ich war gezwungen zu atmen.