Kapitel Neunundzwanzig

»Ich liebe dich so tief, so weit, so hoch wie meine Seele reicht …«

Elizabeth Barrett Browning

Ich lag auf der Seite, vor mir eine Schüssel Erdbeeren und ein Stapel Pancakes. Um mich herumgewickelt Lincoln, noch immer ohne T-Shirt. Ich wusste nicht so genau, ob das, was ich spürte, seine Kraft war, unsere Seelen oder einfach … das Nachglühen all dessen, was wir gerade getan hatten.

Ich steckte mir eine Erdbeere in den Mund, nahm dann eine andere und hielt sie Lincoln hin. Seine Lippen schlossen sich um meine Finger und ich spürte, wie mich erneut Hitze durchströmte. Wir machten das schon eine ganze Weile. Eigentlich war ich satt. Nicht dass ich deshalb aufhören wollte.

»Klingt das jetzt klischeehaft, wenn ich sage, dass wir verrückt sind, so lange gewartet zu haben?«, fragte ich.

»Ja«, sagte er. Ich rammte meinen Ellbogen nach hinten zu ihm, aber er nutzte die Bewegung nur dazu aus, mich näher zu sich zu ziehen. »Klingt nach Klischee, stimmt aber«, fügte er rasch hinzu. Ich lächelte. Er küsste meine Schulter.

»Apropos Klischees: Ich liebe dich – mit allem, was mich ausmacht«, flüsterte er.

Ich schmiegte mich in seine Arme. »Ich liebe dich auch. So sehr, dass ich nicht einmal nachfrage, wie lange du geübt hast, um so verdammt gut zu sein in …«

Er kicherte an meiner Schulter und ich erschauerte. Ich fragte mich, ob ich genug Energie hätte, um eine Wiederholung vorzuschlagen.

»Nein, diese Diskussion führen wir jetzt nicht. Nichts, was ich je mit einem anderen Mädchen gemacht habe, wäre je mit dem zu vergleichen, was wir füreinander sind, Vi. Und außerdem besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen Sex und …«

Ich hielt mir die Ohren zu. »La, la, la!«

Seine Augen leuchteten auf, als er mich auf den Rücken rollte. »Was?«

Ich nahm eine Hand weg. »Bitte sag es nicht, es klingt so …« Ich schauderte. Nach Vorabendseifenoper, brachte ich den Satz in Gedanken zu Ende.

Er kicherte wieder. »Na ja, du weißt, was ich gemeint habe. Außerdem gibt es andere Dinge, die ich jetzt lieber zu dir sagen würde.«

Ich drehte mich in seinen Armen, um ihm das Gesicht zuzuwenden, meine Finger strichen über seine Wange. »Hat es etwas mit der Schramme zu tun, die vorhin noch da war?« Ich musste sie irgendwann geheilt haben, wahrscheinlich als sich unsere Kräfte vereinigt hatten. Aber ich hatte sie nicht vergessen.

»Darüber will ich auch lieber nicht sprechen«, sagte er und klang zum ersten Mal an diesem Abend, als wäre er auf der Hut. Ich spürte es auch, über unsere Verbindung, seine Verachtung Phoenix gegenüber, aber noch etwas anderes, eine Art Klarheit, die ich nicht verstand.

Blockiert er mich?

»Wie schlimm war es?«, fragte ich. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, dass er und Phoenix gekämpft hatten.

Er zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf seine Hand, die an meinem Arm auf und ab wanderte. Ich erschauerte und bekam Gänsehaut. »Es war besser, es ein für alle Mal hinter sich zu bringen. Und bei dieser Gelegenheit war es wahrscheinlich gerechtfertigt.«

Nun, das konnte nur eines bedeuten.

Ich biss mir auf die Lippe. Phoenix hatte gewusst, was Lincoln und ich heute Nacht tun würden.

»War er okay?«, fragte ich.

»Vi«, seufzte er. »Phoenix und ich werden nie miteinander auskommen. Und wenn ich dich jetzt nicht in den Armen halten würde, dann wäre ich gar nicht fähig, das zu sagen, aber … seine Liebe zu dir ist echt. Ich glaube, seine Sehnsucht danach, der Mann zu sein, der er sein sollte, treibt ihn jetzt an. Und ich glaube, du bist die Person, die ihm dieses Verlangen vor allem gegeben hat. Das entschuldigt nicht, was er getan hat. Er sollte dafür zur Verantwortung gezogen werden, aber manche Sachen verstehe ich jetzt.«

Ich verstand sie auch. »Aber ihr Kerle musstet es unbedingt austragen?«

»Wir haben nur ein wenig Dampf abgelassen.«

»Fühlst du dich jetzt besser?«

Sein Blick wanderte über meinen Körper und er grinste. »Viel besser.«

Ich verdrehte die Augen, aber mein Lächeln strafte mich Lügen. »Wenn es das nicht war, was wolltest du dann sagen?«, fragte ich und kehrte damit zu unserem vorhergegangenen Gespräch zurück.

Er zögerte einen Moment, seine Finger spielten mit meinen losen Haarsträhnen. »Ich will, dass du Folgendes weißt: Du bist es, du bist alles, was ich will. Alles andere spielt keine Rolle. Ich weiß, dass du glaubst, ich will ein Krieger sein, und ja, auf einer gewissen Ebene ist das auch richtig, aber was wir beide haben – was wir sind …« Er schüttelte langsam den Kopf und hielt dabei meinen Blick. »Daran kommt nichts heran.« Er küsste mich, und der letzte Teil von mir, der sich noch nicht vollständig verflüssigt hatte, schmolz dahin. Als er sich zurücklehnte, streiften seine Finger über meine Lippen. »Ganz gleich, was morgen geschieht, es spielt absolut keine Rolle. Heute Nacht war genau das, was ich wollte, und dann auch noch aus den richtigen Gründen. Für dich. Weil ich dich liebe.« Sein Blick wurde eindringlicher, während er mich anstarrte. »Versprich mir eins, Vi. Versprich mir, dass du dich immer daran erinnern wirst.«

»Versprochen«, sagte ich und nickte. Meine Stimme stockte aus irgendwelchen Gründen – wegen der Art und Weise, wie er mich ansah.

Er lächelte, ließ sich auf sein Kissen zurückfallen und streckte sich aus. »Es ist erstaunlich. Als würde meine ganze Existenz, mein Körper, meine Seele, endlich alles begreifen. Wir sind zusammen, und ich lebe endlich. Ich kann dich spüren, dich erreichen, dich auf Arten kennenlernen, die ich nie für möglich gehalten hätte.« Er demonstrierte es, indem er unsere Verbindung öffnete, und so leicht, als würde man Butter auf Toast streichen, bewegte er seine Kräfte durch mich hindurch und zog uns zueinander hin.

»Furcht einflößend?«, fragte er, als er meine Reaktion beobachtete.

Ich rückte noch näher und hasste die Zentimeter, die noch zwischen uns lagen. »Auf keinen Fall. Es ist perfekt. Wunderschön.«

Ich küsste ihn entlang seiner Kieferlinie und seine Arme umfingen mich erneut.

»Wenn ich dich darum bitte, morgen etwas für mich zu tun, würdest du es machen?«

»Was?«, fragte ich.

»Vertraue Phoenix. Ich kann dir nicht genau sagen, warum ich das weiß – ich weiß es einfach.«

»Habt ihr über irgendetwas geredet, das ich wissen sollte?«, fragte ich und sah ihm forschend in die Augen. Er verschwieg etwas.

Er legte den Finger unter mein Kinn und hob es sanft zu sich hoch. »Vi, versprich es mir.«

Er legte sein ganzes Herz in diese Bitte. Was immer es war, es war sehr wichtig für ihn, und ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihm etwas abzuschlagen.

»Dir ist bewusst, dass das das zweite Versprechen war, um das du mich in sehr kurzer Zeit gebeten hast?«

Er lächelte. »Ja, das ist mir bewusst. Aber ich kann dir versprechen, dass ab jetzt nicht mehr geredet wird.«

»Dann verspreche ich es.«

Als wir uns schließlich aus dem Bett schleppten, war es schon mitten am Vormittag – obwohl wir nur wenige Stunden geschlafen hatten, schien es sinnlos, etwas von unserer Zeit zu zweit zu verschwenden. Ich kochte Kaffee. Lincoln machte Rührei, und wir bewegten uns auf unsere vertraute Art und Weise umeinander herum, die jetzt so ganz anders war. Und so ausgesprochen herrlich. Wir gewöhnten uns an unser Seelenband – das Gefühl, vollkommener und totaler Verbundenheit miteinander.

Es fühlte sich an, als würden wir tanzen.

Lincoln war sich ziemlich sicher, dass er seine silbernen Armbänder nicht mehr brauchen würde, er sagte, dass seine Sinneswahrnehmungen jetzt von mir zu ihm fließen würden und stärker wären als alles, was er bisher erlebt hätte. Es konnte einem das Herz brechen zu wissen, dass wir niemals Zeit haben würden, diese Theorien auszutesten.

Wir saßen draußen in unseren Schaukelstühlen, hatten uns Decken über die Knie gelegt und aßen unser Frühstück.

»Wir sollten wohl Griffin anrufen. Steph und die anderen sollten jetzt da sein – oder zumindest inzwischen auf dem Weg zu ihnen«, sagte ich. Geistesabwesend ging ich meine mentale Checkliste durch, während meine Blicke über Lincoln wanderten – eine andere Checkliste.

Er lächelte, und zwar nicht wegen dem, was ich gesagt hatte. Ich wurde rot und streckte ihm die Zunge heraus, was ihn nur zum Kichern brachte.

Es ist komisch, wenn man weiß, dass das Ende naht. Man würde totale Panik erwarten, aber … Es ist eine Erleichterung. Und eine gewisse Ruhe. Endlich kann man ganz man selbst sein.

»Im Ernst«, sagte ich.

Er nickte. »Okay. Ja, wir sollten Griffin anrufen. Aber es hat keinen Sinn, das jetzt schon zu tun. Wir rufen ihn eine Stunde, bevor wir gehen, an.«

Zuerst verstand ich das nicht, aber dann dämmerte es mir. »Glaubst du, er will versuchen, uns aufzuhalten?«

Lincoln strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich verirrt hatte, und ließ seine Hand dort. »Wie auch immer – es ist zu grausam, ihn in eine Situation zu bringen, in der er sich entscheiden muss. Wenn er uns gehen lässt, wird es ihm vorkommen, als würde er uns in den Tod schicken. Wenn er uns zum Bleiben zwingt, wird er sich die Schuld für das geben, was mit diesen Kindern passiert.«

Er hatte recht. Griffin war ein Meister darin, sich selbst die Schuld zu geben. Ich beschloss, das Lincoln zu überlassen – er kannte Griffin am besten.

»Ich spüre, wie dein Herz schlägt«, sagte er, und wechselte damit das Thema. »Ich war mir deiner immer bewusst, aber es war mehr so ein Instinkt, oder wenn du verletzt warst eine Art Übertragung. Aber das … Konntest du schon immer mein Herz schlagen hören?«, fragte er. In seinen Augen lag Ehrfurcht.

Ich nickte. »Seit Onyx dich das erste Mal verletzt hat. Ich spürte es an dem Morgen meiner Annahme. Ich lauschte deinem Herzen, als ich von dem Felsen sprang.«

Er blickte zu Boden. »Bereust du es?«

»Überhaupt nicht.« Obwohl wir wussten, was vor uns lag, war ich mir meiner Antwort noch nie so sicher gewesen.

Ich besprach meine engelhaften Fähigkeiten mit ihm. Bei einigen Dingen zögerte ich und ließ mir Zeit – meine engelhafte Sehkraft zum Beispiel. Ich warnte ihn davor, sie zu benutzen. Er erklärte sich völlig damit einverstanden und zweifelte sogar daran, dass es einfach für ihn wäre, diese Kraft anzuzapfen. Bestimmt konnte er sie so leicht spüren wie die Sinneswahrnehmungen. Ich erzählte ihm von den Träumen, in denen Uri und Nox sowie der Engel, der mich gemacht hat, erschienen waren. Ich zappelte herum, als ich erklärte, wie sie zu mir kommen und die Grenze zwischen den Reichen überschreiten konnten.

Er sah, wie nervös ich war, als ich ihm endlich alles erklärte.

Er legte mir den Finger auf die Lippen. »Beruhige dich. Das meiste davon wusste ich bereits. Griffin und ich hatten den Verdacht, dass du eine Traumgängerin bist, nach allem, was du uns erzählt hast. Wir wussten, dass du einfach nur Zeit brauchtest, um selbst dahinterzukommen. Wir glauben, dass du diese spezielle Fähigkeit von deiner Mutter geerbt hast.«

»Oh.« Das war logisch, weil Evelyn selbst eine Traumgängerin war.

Da wir schon dabei waren, alles zu erzählen, klärte ich ihn auch über meinen letzten Traum auf. »Uri und Nox haben angeboten, Lilith wieder im Engelreich aufzunehmen, wo sie sich dann mit ihrem unsterblichen Geist auseinandersetzen können, aber wir müssen ihre körperliche Form trotzdem vorher töten … Sie sagten, ich könnte sie hinüberbringen. Vielleicht kann das jemand anders erledigen, wenn wir …« Ich konnte den Satz einfach nicht beenden. Ich wollte verdammt sein, wenn ich die Wolke sieben, auf der ich schwebte, jetzt schon verlassen würde.

Lincoln machte große Augen. »Was meinst du mit hinüberbringen?«

Ich verdrückte mein restliches Ei und schenkte ihm mein hingebungsvollstes Lächeln.

»Mehr?«, fragte er, weil ihm meine Reaktion zu gefallen schien.

»Ja, bitte«, sagte ich. Noch nie hatten mir Eier auf Toast so gut geschmeckt. Ich folgte ihm in die Küche. Während er den Rest auf die Teller verteilte, antwortete ich ihm. »Wenn wir sie zurückschicken, wird sie in die feurigen Gruben der Hölle gehen und wir riskieren, dass sie wieder einen Weg zurück findet. Die Engel können sie nicht aus der menschlichen Welt holen. Aber sie sagten, ich könnte sie zu ihnen bringen, und dann … Ich würde einen Anker brauchen, um zurückzukehren.«

»Was für einen Anker?«, fragte er und ich konnte förmlich sehen, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf drehten.

»Eine mächtige Person. Sie sagten, es müsste jemand sein, der mir körperlich nah ist. Jemand, der eine Verbindung zu mir hat – entweder Blut oder eine der Leidenschaften.« Was mir eigentlich eine ganze Palette von Möglichkeiten bot. Die »Leidenschaften« deckten so ziemlich alles an starken Gefühlen ab – Angst, Hass, Trauer und natürlich Liebe. »Du wärst zum Beispiel perfekt.«

Lincoln schluckte schwer und wandte sich ab. Von allem, was ich gesagt hatte, schien ihn das am meisten zu beunruhigen. »Was, wenn ich … ich meine, könnte es mit jemand anderem auch funktionieren?«

Ich überlegte. »Vielleicht Evelyn oder …« Ich zögerte.

»Phoenix?«, riet Lincoln.

»Möglich«, gab ich zu.

Ich fuhr ihm mit der Hand über sein sorgenvolles Gesicht. »Es ist ja nicht so, dass wir tatsächlich da wären, um das wirklich tun zu können.«

Er sah meine Sorge und sein Gesichtsausdruck entspannte sich, aber ich konnte durch unsere Verbindung noch immer seine Beklommenheit spüren, und ich wusste nicht, warum. Er stibitzte das letzte Stück Toast von meinem Teller. Ich unterdrückte ein Knurren – immerhin hatte er alles gekocht.

»Wir geben nicht auf, Vi. Wir gehen zwar freiwillig zu ihr, aber das heißt nicht, dass sich uns nicht vielleicht eine Gelegenheit bietet. Wenn wir eine Chance sehen, sie zu vernichten, dann ergreifen wir sie.«

Ich nickte. Wir mussten klug vorgehen und alles in Betracht ziehen. Doch noch immer war es zu viel, sich vorzustellen, wir könnten das tatsächlich überleben.

Nachdem wir unser Essen verschlungen hatten, zog es uns wieder auf die Veranda und ich gelangte irgendwie auf seinen Schoß. So blieben wir sitzen, eingehüllt in eine Decke, und flüsterten uns all die Dinge zu, die wir uns noch nie gesagt hatten, und unsere Träume, die wir für die Zukunft hatten. Unsere Zukunft. All die Dinge, von denen wir wussten, dass wir sie nie haben würden.

Schließlich musste die Fantasie der Wirklichkeit weichen.

»Alles wird zu Ende gehen, nicht wahr?«, sagte ich.

Lincoln strich mir über das Haar und streichelte meine Arme, dann küsste er mich. Es war nur ein leichter Kuss auf meine Lippen, in dem aber seine ganze Liebe lag, und ich saugte ihn auf.

»Wir nicht, Vi. Alles mag enden, aber wir nicht. Was wir haben … Wir sind ewig.«