Kapitel Vierzehn

»Egal was du liebst – es wird dazu führen, dass dein Herz ausgepresst und vielleicht sogar gebrochen wird.«

C. S. Lewis

Morgan und Max warteten vor der Tür auf uns.

»Hey«, sagte Morgan, und dann: »Oh, mein Gott!« Sie schlug die Hände vor den Mund, als sie Lincolns Zustand sah. »Ist er …?«

»Es geht ihm gut«, fuhr ich sie an. »Wo können wir ihn hinbringen?«

»Folgt uns«, sagte Max, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte.

Wir stürmten durch die Flure. Max und ich machten den Weg frei – die Leute waren klug genug, schnell beiseite zu gehen.

»Seth?«, fragte Max.

»Ja.«

Er pfiff durch die Zähne. »Oh Mann, er hatte keine Chance. Niemand hat Seth auch nur einen Schlag versetzt und lang genug überlebt, um hinterher davon zu erzählen.«

»Nun, einer hat es jetzt geschafft«, sagte ich. Ich verlangsamte meine Schritte nicht, auch wenn sich mein Zorn auf den Rat und insbesondere auf Josephine weiterhin steigerte. »Wohin?«

Max zeigte nach rechts. »Krankenstation oder sein Zimmer?«

»Sein Zimmer«, sagten Griffin und ich gleichzeitig.

»Gut, hier lang. Wir müssen den Fußgängerweg benutzen.«

Ich ging mit Max voraus, blieb aber abrupt stehen, als wir am Ende des Flurs anlangten. Wir standen vor einer Lücke in der Wand, einer riesigen Öffnung im Gebäude.

»Boah!«, sagte ich und schaute über den Rand. Wir waren mehr als hundert Stockwerke über dem Boden. Nur ein Schritt und ich würde fallen, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es die Art von Sturz wäre, die einen direkt ins Engelreich bringt.

»Was soll die Verzögerung?«, rief Griffin von hinten.

»Violet ist am Fußgängerweg!«, rief Max zurück.

»Beeilt euch, um Himmels willen!«, schrie Griffin.

»Was muss ich tun? Wohin gehen wir?« Ich blickte zwischen Max und dem Abgrund vor mir hin und her.

Max verdrehte die Augen, schob mich zur Seite und stürmte auf den Abgrund zu. Gerade noch rechtzeitig packte ich ihn hinten am T-Shirt, bevor er fiel.

»Was zum Teufel machst du da?«, schrie ich.

Er fing sich gerade noch auf und wandte sich zu mir um, seine Füße waren gefährlich nah an der Öffnung.

»Vi, das ist ein Fußgängerweg. Nur weil du ihn nicht sehen kannst …« Er machte einen Schritt rückwärts. Ich stürzte nach vorne, um ihn wieder zu packen, doch bevor ich ihn erreichte, landete sein Fuß auf irgendetwas in der Luft. Es war nichts Sichtbares – aber etwas, was sein Gewicht trug. »… Heißt es nicht, dass er nicht da ist.«

Ich halluziniere. Drenson musste irgendwas mit meinem Kopf angestellt haben.

Max machte einen weiteren Schritt, und plötzlich starrte ich auf einen Mann, der ganz gelassen in der Luft stand.

Morgan drängte sich an mir vorbei, während ich wie angewurzelt dastand und das Unmögliche anstarrte. Sie marschierte geradewegs hinaus auf den unsichtbaren Weg, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Dann drehte sie sich zu mir herum und setzte ihre Kraft frei. Sie strömte in einem vielfarbigen Nebel aus ihr heraus. Fasziniert sah ich zu, wie der Nebel den durchsichtigen Tunnel sichtbar machte, in dem sie jetzt stand.

»Diese Tunnel verbinden alle unsere Gebäude«, sagte Morgan. Und als sie meine fragenden Augen sah, fügte sie hinzu: »Betrachte es einfach als Blendung. Eine echt komplizierte Blendung.«

Damit machte sie sich auf den Weg zu dem Gebäude vor uns. In dessen Wand konnte ich jetzt eine ähnliche Öffnung erkennen und sah eine Person, die in die leere Luft heraustrat und auf uns zukam, nicht anders, als würde sie eine Treppe benutzen.

»Violet, wir müssen weiter«, sagte Griffin, der jetzt hinter mir war. Mir gefiel die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht.

Ich nickte, doch ich sah Lincoln nicht an. Das konnte ich nicht. Noch nicht.

Ich ignorierte jeden natürlichen Selbsterhaltungstrieb in mir, folgte Max und Morgan und trat in die leere Luft hinaus. Mein Fuß traf auf festen Untergrund.

»Boah!«, sagte ich wieder und staunte. Doch jetzt, wo ich wusste, dass es funktionierte, bewegte ich mich mit voller Geschwindigkeit, wobei meine Füße scheinbar in der Luft schwebten. Die Logik bemühte sich, mitzuhalten – das Gefühl war ungefähr so, als würde man auf eine stehende Rolltreppe treten. Ich sah nach unten. Die Straßen unter uns pulsierten vor Geschäftigkeit.

»Können sie uns nicht sehen?«, rief ich Morgan zu.

Sie folgte meinem Blick. »Nein. Das ganze Ding ist mit einer Blendung versehen. Sie können es nicht sehen, und auch nicht, was darin ist. Wenn man weiß, dass es da ist, erkennt man eine Art goldenen Schimmer, aber wenn man es nicht weiß, sieht man überhaupt nichts.«

Ich spürte, wie sich Lincolns Herzschlag, den ich seit Beginn des Kampfes überwachte, beschleunigte. »Griffin, ich glaube, er kommt zu sich.«

Wir wussten beide, dass er in einer Welt der Schmerzen sein würde, wenn er aufwachte.

»Los, schneller!«, rief Griffin, und wir legten an Tempo zu.

Im anderen Gebäude führten uns Morgan und Max durch einen Irrgarten aus Fluren, bis wir schließlich in einen Bereich kamen, der nach Schlafsälen aussah: Mehrere dicht beieinander stehende Türen, von denen einige offen waren und den Blick auf schlichte, kleine Schlafzimmer freigaben.

Sie führten uns über einen weiteren Flur in einen moderneren Bereich und blieben am Ende vor einer Tür stehen. Max zog einen Schlüsselbund heraus, schloss auf und hielt uns die Tür auf.

Griffin trug Lincoln hinein und legte ihn aufs Bett.

Seine Augenlider fingen an zu flattern und ich merkte, wie sich die Schmerzen meldeten, als sich sein Körper verkrampfte und er anfing, scharf die Luft einzuziehen und zu gurgeln.

Griffin überprüfte erneut seine Vitalfunktionen, dann sah er Morgan und Max an. »Danke, aber ihr müsst jetzt gehen.«

Morgan sah beleidigt aus. »Aber wir können helfen.«

Griffin dachte noch nicht mal darüber nach. »Ihr geht besser. Man wird euch hinterher nur Fragen stellen, die zu schwierig zu beantworten wären, wenn ihr bleibt.«

Max schien das als Erster zu akzeptieren und nickte uns zu, während er Morgan zur Tür zog. »Sagt Bescheid, wenn ihr irgendwas braucht. Wir sind in der Cafeteria in Gebäude A.«

Wie viele Gebäude gibt es hier denn?

Griffin nickte.

Ich setzte mich auf die Bettkante und sah Lincoln an. Er schlug die Augen auf. Sein Gesicht war blutbedeckt, deshalb nahm ich ein paar Papiertücher und versuchte, etwas davon abzutupfen, damit er besser sehen konnte.

Er zuckte zusammen und schluckte schwer. »Griff, du … geh auch«, murmelte er.

Griffin schüttelte den Kopf. »Nein, Lincoln. Ich gehe nirgendwohin.«

Ich wusste, was Lincoln da tat. Er versuchte, Griffin – und uns alle – zu schützen. Je mehr Griffin wusste, desto mehr Berichterstattung wurde von ihm erwartet. Er war ein Entdecker und Vermittler von Wahrheit, wenn er also darum gebeten wurde, Einzelheiten zu nennen, und wenn er diese dann nicht mit absoluter Ehrlichkeit vorbringen konnte, dann würde er große Probleme bekommen.

Ich rannte in das kleine Badezimmer und machte ein Handtuch nass. Damit versuchte ich, mehr von dem Blut wegzuwischen.

»Sein Herz schlägt kräftig, er kommt wieder in Ordnung, Griff. Lincoln hat recht, du solltest gehen. Je weniger du siehst, desto besser für uns alle, das weißt du genau. Geh mit Max und Morgan. Wir treffen dich später.« Ich sah den inneren Konflikt in seinen Augen. Es lag einfach nicht in seiner Natur, einen seiner Grigori zu verlassen, wenn er verletzt war. Vor allem nicht Lincoln. Sie waren wie Brüder. Aber wir wussten beide, dass es die richtige Entscheidung war.

»Himmel noch mal«, sagte er und gab sich damit geschlagen. »Ruf mich an, wenn ihr mich braucht.«

»Das mache ich.«

Lincoln kam immer wieder zu sich und wurde dann wieder bewusstlos. Ich saß eine Weile einfach nur neben ihm und sorgte dafür, dass meine Kraft zu ihm durchdrang. Außer kurz nach meiner Annahme musste ich Lincoln noch nie von so schweren Verletzungen heilen – ich wollte es echt nicht vermasseln.

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, ließ er seine Hand in meine gleiten, bevor er erneut das Bewusstsein verlor.

»Ach, Linc.« Ich strich ihm mit der Hand über die Wange. »Es tut mir so leid, was sie mit dir gemacht haben.«

Es war meine Schuld.

Und er hatte nicht einmal versucht, Widerstand zu leisten.

Es gab eine Zeit, in der ich nur an meine heilenden Fähigkeiten herankam, wenn ich Lincoln küsste. Doch jetzt war ich stärker.

Ich schloss die Augen, legte meine Hände auf seine Brust und beschwor die Kraftquelle herauf, die in mir brodelte. Sie kam ganz leicht zu mir, wie eine alte Freundin, bereit zu helfen. Lincoln war mein Partner, und wir waren dazu gemacht, uns gegenseitig zu heilen. Das war das Einzige, was ich tun konnte, das sich vollkommen gut und natürlich anfühlte.

Mein amethystfarbener Nebel strömte aus mir heraus, überzog das Zimmer und legte sich auf Lincoln, wo er die Quelle seiner Schmerzen aufspürte und ihn nach und nach heilte. Ich nahm mir Zeit und war gründlich, indem ich unten an seinem Körper anfing und mich dann nach oben arbeitete. Seine Schulter ließ ich bis zum Schluss übrig, weil ich wollte, dass er bis dahin so stark wie möglich wäre. Denn bevor ich die Schmerzen heilte – würde ich seine Schulter von Hand wieder einrenken müssen.

Lincoln schlug die Augen auf.

Die Nase war geheilt und die Platzwunden in seinem Gesicht waren verschwunden. Ich nahm das Handtuch wieder und wischte behutsam das restliche Blut von seinem Gesicht. Er versuchte sich ein paarmal zu bewegen, in seinen grünen Augen lag eine Intensität, die sich nur selten dort zeigte.

Mir stockte der Atem, aber ich machte weiter. Noch war er nicht geheilt.

Bevor ich etwas sagen konnte, hob er seinen guten Arm, zuckte wegen der Schmerzen in seiner ausgerenkten Schulter zusammen und legte seine Hand auf meine. Auf die, die Drenson zerquetscht hatte.

Nur über meine Leiche.

Ich schüttelte den Kopf. »Zuerst muss ich deine Schulter in Ordnung bringen.«

»Dafür wirst du beide Hände brauchen«, sagte er kurzatmig.

Das stimmte nicht ganz. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das mit einer Hand konnte. Und ich wollte nicht, dass irgendetwas an mir geheilt wurde, bis ich wusste, dass er okay war. Als wüsste er genau, was ich gerade dachte, zögerte er nicht. Seine Kraft, diese Palette an Farben angeführt von Grün, strömte von ihm zu mir.

»Violet«, sagte er eindringlich. Er konnte nervtötend stur werden, wenn er wollte.

An seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass es sich nicht lohnte zu widersprechen, deshalb fügte ich widerwillig meine Kraft zu seiner hinzu. Sie wollte zu ihm zurückkehren, weil sie spürte, dass er noch immer verletzt war, aber ich dirigierte sie stattdessen zu meiner Hand, wo sich alle gebrochenen Knochen wieder zusammenfügten, bis sie vollkommen geheilt war.

Sofort unterbrach ich die Verbindung zwischen uns, weil ich keine zusätzliche Energie verschwenden wollte.

»Du solltest dich eine Weile ausruhen«, sagte Lincoln, seine Augen beobachteten mich mit derselben tiefen Konzentration. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

Um dies zu verbergen, machte ich schmale Augen. »Würdest du bitte aufhören, mich herumzukommandieren?«

»Ich kann warten, bis du dich ausgeruht hast. Ich fühle mich besser. Es ist nur noch meine Schulter übrig. Ich möchte nicht, dass du zu viel machst.«

Ich ignorierte ihn und fing stattdessen an, seinen Arm vorzubereiten, aber er hatte einen schlechten Winkel. Seine Schulter war so ausgekugelt, dass man großen Druck aufwenden musste, um sie wieder einzurenken. Das war kein großes Problem, ich war ja stark genug, aber der Winkel musste stimmen.

»Du willst nur nicht, dass ich deinen Arm wieder in die richtige Position zerre.«

Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber er gab es auf, mir zu widersprechen.

»Tu es einfach«, sagte er.

Ich klimperte mit den Wimpern, um ihn am Reden zu halten und ihn abzulenken. »Oh, Linc, du bist so tapfer.«

Er versuchte, die Augen zu verdrehen, doch eigentlich konzentrierte er sich auf die bevorstehende Einrenkung des Gelenks. Grigori hin oder her – es würde wehtun.

Ich zog die Kissen unter seinem Kopf hervor, sodass er flach dalag. Er tat so, als würde ihm das nichts ausmachen, aber die Muskeln in seinem Hals traten hervor und verrieten ihn. Ich setzte mich rittlings auf ihn, um die beste Position zu finden, bereit, seine Schulter zurück an ihren Platz zu schieben. Plötzlich wandte Lincoln seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum – und an einer Idee.

»Bereit?«, fragte ich.

Oh, Shit, was denke ich mir eigentlich dabei?

Er knirschte mit den Zähnen. »Tu es.«

Pfeif drauf.

»Mach die Augen zu!«, befahl ich.

Überraschenderweise tat er es. Ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken beugte ich mich vor und presste meine Lippen auf seine.

Lincolns Körper zuckte bei der Berührung zusammen, aber nur ein paar Sekunden später war der Schock wieder verflogen, und er erwiderte meinen Kuss. All die Gefühle, die sich aufgebaut hatten, als ich ihn heilte, wurden freigesetzt. Tief aus seiner Kehle drang ein Laut, und ich nahm ihn als Zeichen zum Einsatz.

Hart und schnell stieß ich meine Hand nach unten. Seine Schulter sprang direkt zurück an ihren Platz. Sein Körper zuckte vor Schmerz und ich ließ meine Kraft in ihn strömen. Meine Stärke heilte ihn schnell.

Lincolns Lippen blieben auf meinen, selbst als er sich vor Schmerzen anspannte. Innerhalb von Sekunden hatte sich sein Kuss verwandelt – von Überraschung zu Schmerz zu Erleichterung und dann … zu etwas anderem, viel Intensiverem.

Ja, mein Plan hatte einen wesentlichen Fehler, denn so verzweifelt wie er mich küsste, küsste ich ihn zurück. Seine Arme, die jetzt beide wieder voll funktionstüchtig waren, zogen mich zu ihm hinunter, und es gelang ihm uns irgendwie so umzudrehen, dass ich unter ihm lag.

Meine Hände fanden ihren Weg an seinem nackten Rücken hinauf und nach vorne auf seine Brust. Lincoln gab wieder einen Laut von sich, und etwas in meinem Inneren schob mich vorwärts und forderte, mir alles zu nehmen. Als seine Hände anfingen, mein Oberteil hochzuschieben, spürte ich, wie ich mich verlagerte und es mir über den Kopf riss.

Denk nach, Vi. Denk nach.

Geht nicht.

Lincolns Lippen waren an meinem Hals, seine Hände wanderten an meinen Seiten nach oben. Alles an ihm umgab mich. Seine Wärme erinnerte mich an Sonnentage und sickerte in mich, entzündete mein Verlangen. Genau hier wollte ich sein, genau das wollte ich tun. Körper, Seele und Geist. Ich fuhr ihm mit den Fingern durch das Haar und er tat das Gleiche bei mir.

Sein Körper fing an zu beben.

Nein.

Ich wusste, was er gerade tat.

Ich konnte seine Kraft spüren, der charakteristische Honiggeschmack begann zu flackern, während die gefühlte Sonne verblasste. Er zog wieder die Mauern zwischen uns hoch.

Aber meine Mauern waren nicht oben. Meine waren ganz unten und meine Seele hungerte qualvoll.

»Nein«, hörte ich mich sagen. »Nein!«, knurrte ich. Es war mir gleichgültig.

Ich zog sein Gesicht zu mir herauf und küsste ihn. Er erwiderte meinen Kuss und seine Kraft schrumpfte, aber er bebte weiter, versuchte weiterhin, Mauern zwischen uns zu bauen, die dort nicht hingehörten.

Seine Lippen strichen an meinem Hals entlang, aber sie wurden jetzt langsamer. Seine Hände streichelten mein Haar – zärtlich, anstatt leidenschaftlich.

»Nicht aufhören«, schrie ich fast, überwältigt von der Panik, ihn zu verlieren. »Ich brauche dich. Ich … Nein! Du darfst nicht aufhören!«

Ich wölbte ihm meinen Körper entgegen, versuchte, die Mauern einzureißen, doch er reagierte nicht, er küsste mich einfach weiter bis hinauf zu meinem Ohr und fing an, beruhigend auf mich einzureden.

»Du hast all deine Kraft verbraucht. Deine Deckung ist unten. Hör mir zu, Vi. Komm zurück zu mir. Denk an all die Gründe.«

Ich fuhr mit den Händen an seinem Rücken auf und ab und spürte dabei mit jeder Phase meines Körpers, dass er für mich bestimmt war.

Wir sind füreinander bestimmt, verdammt noch mal!

Unsere Seelen gehörten zusammen, und nicht nur das, sie hatten einander gekostet und würden sich mit nichts anderem mehr zufriedengeben.

Mein Körper und mein Geist brannten vor Verlangen nach ihm. Alles, was mich ausmachte, schrie danach, mit ihm zusammen zu sein.

Er schlang seine Arme um mich, rückte an meine Seite und zog mich zu sich. Ich konnte ihn nicht loslassen, und er zwang mich nicht dazu. Ich drückte Küsse auf seinen Hals, seine Schulter, ich küsste seine Lippen und er ließ es zu. Dabei redete er die ganze Zeit leise mit mir und baute die Mauer zwischen uns wieder auf. Schließlich wurde ich vom Verlangen meiner Seele überwältigt. Tränen quollen aus meinen Augen, während ich anfing, mit den Fäusten gegen seine Brust zu schlagen. Kleine Schreie kamen von meinen Lippen.

Er ertrug es, ließ sich von mir schlagen, ließ mich schreien. Er zog mich einfach wieder an sich und wartete, bis ich wieder zu Sinnen kam. Ließ mich wissen, dass er für mich da war, ließ mich wissen, dass es okay war.

Endlich war das Schreien und Schlagen zu Ende und wurde durch Erschöpfung und das Gefühl des Verlusts ersetzt. Schwach fiel ich in seine Umarmung zurück, Tränen strömten mir über die Wangen, als er mich weiterhin festhielt.

»Ich bin da. Ich fühle es auch. Es ist … vernichtend und es tut weh. Du bist nicht allein. Du bist nicht allein.«

Aber ich war allein. Genau das war das Problem. Solange wir voneinander getrennt waren, würde ich immer allein sein. Ich vergrub meinen Kopf an seiner Brust. »Ich kann das nicht. Ich bin nicht stark genug.«

Er strich mir über die Haare. »Du bist die stärkste Person, die ich kenne. Du hast dich soeben gegen den Vorsitzenden der Akademie aufgelehnt und tonnenweise Kraft aufgewendet, um mich zu heilen, deine Deckung war weg. Wenn sich hier irgendjemand entschuldigen sollte, dann bin ich das. Ich hätte früher aufhören sollen.«

»Ich wollte dich nur ablenken.«

Er lachte fast. »Das hast du. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so abgelenkt.«

Mir wurde klar, was ich gerade riskiert hatte. Schuldgefühle waren gar kein Ausdruck für das, was ich empfand.

Wenn Lincoln und ich zusammen wären, wenn wir es zulassen würden, dass sich unsere Seelen vollkommen verbinden … Wenn einer von uns sterben würde, würde die Seele des anderen zerbrechen … Ich war nicht dumm. Genau wie alle anderen wusste ich, dass ein Krieg am Horizont heraufzog. Und man brauchte kein Genie zu sein, um zu ahnen, dass es aufgrund der körperlichen Kontrolle, die Phoenix über mich hatte, mehr als unwahrscheinlich war, dass ich in der bevorstehenden Schlacht davonkommen würde.

Ich konnte nicht glauben, dass ich so selbstsüchtig gewesen war, so bereit, mir Lincoln einfach zu nehmen, wenn doch mein Ende so bald bevorstand. Und doch war er da und redete noch immer beruhigend auf mich ein.

Angewidert von mir selbst zog ich mich langsam von ihm zurück.

»Hey«, sagte er und zog mich wieder zu sich.

Ich schüttelte den Kopf, zu beschämt, um irgendetwas zu sagen.

»Nicht«, sagte er. »Fühl dich nicht schuldig. Himmel, Vi, ich habe dir auf einem Vulkan vor allen Leuten meine Liebe erklärt, verdammt noch mal! Als Phoenix dich in Santorin gefangen gehalten hat, habe ich die ganze Insel auf den Kopf gestellt, um dich zu finden, und hätte dabei fast den Verstand verloren. Wir müssen einander helfen. Abstand halten funktioniert nicht. Wir stehen das gemeinsam durch.«

Fast hätte ich gelacht. »Wir finden zusammen einen Weg, um nicht zusammen zu sein?«

Er gluckste ebenfalls. »Genau. Und für den Fall, dass du es vergessen hast – ich habe dir ein Versprechen gegeben, und ich habe vor, es eines Tages einzulösen.«

Ich schluckte und erinnerte mich an den Abend, nachdem wir aus Santorin zurückgekommen waren, als ich ihn darum bat, mir zu versprechen, dass wir eines Tages einen Weg finden würden, zusammen zu sein.«

Er zog mich an sich.

»Geht es dir gut?«, fragte ich, weil ich mir Sorgen machte, dass ich ihm wehtun könnte.

»Hundertprozentig«, sagte er. »Das mit dem Heilen hast du voll drauf.«

Wenigstens konnte ich etwas richtig. Auch wenn es als Nebenwirkung Sexbesessenheit zur Folge hatte.

Als würde er meine Gedanken lesen, fügte er scherzhaft hinzu: »Außerdem ist es ja nicht so, dass ich mich beschwere. So viel Action hatte ich schon lange nicht mehr.«

Mir stockte der Atem. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich meine, seit wir dieses Seelenverwandten-Ding herausgefunden hatten, war ich davon ausgegangen, dass er mit niemand anderem mehr zusammen gewesen war. Das hieß jedoch nicht, dass ich mich nicht gefragt hätte, ob es davor noch andere Mädchen gegeben hatte. Ich war nicht naiv. Lincoln mochte zwar jung aussehen, aber in Wirklichkeit war er sechsundzwanzig. Ich wusste, dass er andere Beziehungen gehabt hatte. Nur hatte ich es nie gewagt, danach zu fragen.

Da er mein Zögern spürte, strich er mir mit der Hand durch das Haar. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er.

»Nein. Ich habe nur … ich weiß eigentlich nicht, mit wem du … ich meine, ich weiß nicht, ob da je irgendwer gewesen ist …«

»Oh«, sagte er, als er es kapierte. Er schwieg eine Weile, um darüber nachzudenken, was er jetzt sagen sollte. »Ich möchte die Dinge nicht schwieriger machen für uns, für dich«, sagte er. Als ich nichts sagte, seufzte er. »Ich bin nicht … ich hatte ein paar Freundinnen.«

»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du keine hattest«, erwiderte ich aufrichtig.

Er nickte, sein Kinn ruhte auf meinem Kopf. »Ich glaube, ich hatte nur eine Beziehung, die länger als ein paar Monate gedauert hat, und da war ich neunzehn. Ich war zwei Jahre lang mit dem Mädchen zusammen.«

Wow. Zwei Jahre war so gut wie verlobt sein, wenn man von Stephs Zeitbegriff ausging.

»Was ist passiert?«

»Wir haben festgestellt, dass wir besser nur Freunde sein sollten. Schon damals hat es sich angefühlt, als würde ich woanders hingezogen.« Er rückte näher zu mir. »Ich … Als wir uns kennenlernten, wusste ich, dass ich dich mehr mochte als jeden sonst. Ich wollte dich einfach stark machen und beschützen. Dahinein habe ich meine ganze Energie gesteckt – und nicht darin, Mädchen abzuschleppen. Wann ich festgestellt habe, dass meine Gefühle stärker geworden waren, weiß ich nicht mehr, aber es war wohl um die Zeit, als wir anfingen, auch außerhalb des Trainings miteinander herumzuhängen, als wir anfingen, ganz wir selbst zu sein, wenn wir zusammen waren. Ab da war ich verloren.«

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum und versuchte, das Wesentliche aus dem, was er da gerade sagte, herauszufiltern. »Das heißt …«

»Das heißt«, äffte er mich nach. In seinem Tonfall schwang ein Lächeln mit.

»Das heißt, du warst mit niemandem zusammen, seit …?«

»Seit du in mein Leben getreten bist.«

Man kann es drehen und wenden, wie man will – das ist verdammt beeindruckend.

Schuldgefühle überwältigten mich. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen.

Ich sah mich zum ersten Mal, seit wir angekommen waren, richtig in seinem Zimmer um. »Ist dir aufgefallen, dass dein Zimmer ungefähr dreimal so groß ist wie die anderen, die ich auf dem Weg hierher gesehen habe?«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das Josephines Art, sich dafür zu entschuldigen, dass sie Seth auf mich losgelassen hat.«

»Max hat gesagt, dass noch nie jemand einen Treffer bei Seth gelandet und es überlebt hat«, sagte ich.

»Jetzt hat es jemand geschafft.«

Ich lächelte. »Genau das wollte ich damit sagen.«

»Hat Drenson irgendwas aus dir herausgekriegt?«

»Nicht viel.«

»Dann sind sie jetzt bestimmt sauer.«

»Na ja, das beruht auf Gegenseitigkeit.«

Wir lagen ein paar Minuten schweigend da. Mir fiel auf, dass wir beide ohne Oberteil dalagen und ich gar nicht befangen war. Allein das sprach Bände. Aber es wäre nicht gut, wenn jemand hereinkäme.

»Ich sollte gehen«, sagte ich. »Griffin wird wissen wollen, wie es dir geht.«

Aber er ließ mich nicht gehen.

»Griffin wird es noch eine Stunde aushalten. Ruh dich aus«, befahl er, und dort, in seinen Armen, wo sein Herz stark und gesund gegen mein Ohr klopfte, fiel mir nichts ein, was ich lieber tun würde.