Kapitel Zweiundvierzig

»Nicht dass du mich belogst,
sondern dass ich dir nicht mehr glaube,
hat mich erschüttert.«

Friedrich Nietzsche

Die folgenden beiden Tage verbrachte ich in diesem Sessel und verließ Lincoln nur, um zu duschen und hin und wieder zu telefonieren. Am dritten Tag kam Dapper, nachdem ich ihn darum gebeten hatte, vorbeizukommen.

Ich spürte, dass Lincoln stärker wurde, und wusste, er würde bald aufwachen.

Und noch etwas wusste ich. Unsere beiden Seelen waren nicht mehr verbunden. Wir waren noch immer Seelenverwandte – das vertraute Ziehen war sofort zurückgekehrt und hatte sich mit der Kälte vermischt, die mich von nun an für immer begleiten würde, wie ich annahm. Aber die Verbindung, die wir in der Hütte hergestellt hatten … Verschwunden.

»Warum habe ich das Gefühl, dass ich geschäftlich hier bin?«, fragte Dapper, als er das Zimmer betrat.

Ich stand auf und schloss die Tür hinter ihm. »Weil es so ist.«

Er grunzte. »Und warum habe ich das Gefühl, dass ich weiß, worauf das hinausläuft?«

»Weil du es wahrscheinlich weißt«, gestand ich.

Er seufzte und stützte sich auf die Fensterbank.

»Du hast mal gesagt, dass du mir einen Gefallen schuldest.«

»Ich erinnere mich.«

»Und du sagtest, ich solle nicht mehr darüber reden, bis ich diesen Gefallen brauche.«

»Vielleicht habe ich was in der Richtung gesagt.«

Ich nickte. »Jetzt brauche ich diesen Gefallen.«

Nachdem Dapper gegangen war – unglücklich, aber mit beglichener Schuld – lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und wartete. Und wirklich wurde Lincoln an diesem Nachmittag unruhig, und um sechzehn Uhr merkte ich, dass er kurz davor war aufzuwachen.

Ich ging zu ihm, fuhr ihm mit den Fingern durch das Haar und beugte mich über ihn.

»Ich liebe dich«, flüsterte ich.

Er gab einen Laut von sich, der durch meinen ganzen Körper lief und mich an all die Dinge erinnerte, die wir gemeinsam erlebt hatten.

Ich drehte mich um und ging aus dem Zimmer, hinaus in den Wohnbereich, wo die anderen warteten. Sie blickten auf wie erwartungsvolle Erdmännchen, als sie mich sahen. Ich lächelte ein wenig.

»Er kommt gerade zu sich.«

Griffin sprang auf die Füße, der Rest der Truppe tat es ihm nach. Sie lächelten und lachten, rannten in Lincolns Zimmer und ließen mich allein zurück.

Ich liebte Lincolns Lagerhalle. In vielerlei Hinsicht war sie auch mein Zuhause geworden. Ich sah zu den riesigen Bogenfenstern an beiden Enden der Halle hinauf. Die Nachmittagssonne strömte durch sie herein und tauchte den Raum in helles Licht. Es war wunderschön.

Ich ging zur Küche hinüber und strich mit der Hand über die Frühstückstheke, erinnerte mich an all die Male, als ich dort saß und die Mahlzeiten aß, die Lincoln für mich zubereitet hatte, während ich an seinen Lippen hing und seinen Ratschlägen lauschte. Ich schloss die Augen und stellte mir den Duft von Basilikum vor – wie sehr er es liebte, damit zu kochen. Vor meiner Wand, die noch immer mit dem Tuch verhüllt war, blieb ich stehen. Das Bild darunter schien mir jetzt so naiv.

Ich fand einen Notizblock und einen Stift und schrieb ein paar Worte, dann ließ ich den zusammengefalteten Zettel auf dem Esstisch liegen.

Ich hörte die anderen rumoren und gelegentlich einen Jubelschrei ausstoßen. Er war wach, und ich spürte, dass er nach mir suchte.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, machte ich mich auf den Weg zur Haustür. Ich hatte sie schon halb geöffnet, als Steph durch den Flur gerannt kam.

»Hey, Vi. Lincoln fragt nach …« Sie brach ab, als sie mich sah. »Du … gehst?«

Ich konnte nicht sprechen. Ich sah sie einfach nur an und versuchte, ihr ohne Worte irgendwie zu erklären, dass ich unmöglich bleiben konnte, nach allem, was ich jetzt wusste, nach allem, was ich durchgemacht hatte.

Leute hatten Opfer gebracht und waren gestorben. Für mich. Meinetwegen. Ich konnte nicht bleiben und zusehen, wie diejenigen, die ich am meisten liebte, weiterhin Entscheidungen trafen, bei denen ich Priorität hatte. Ich hatte dem Engel, der mich gemacht hatte, Versprechen gegeben, und ich wusste, dass ich mich daran halten würde. Doch ich würde mich nur daran halten können, wenn ich allein war, wo die Gefahren und Konsequenzen meiner Entscheidungen meine eigenen sein würden.

Und die einfache Wahrheit war, ich konnte ihm nicht gegenübertreten. Lincoln war zurück, und jetzt hatte er eine Chance zu leben. Ich wollte das für ihn – ich hatte ihn ganz sicher nicht zurückgebracht, nur damit er ums Leben kam, wenn er mich mal wieder verteidigte. Die einzige Chance zu überleben bestand für ihn darin, von mir getrennt zu sein. Und die einzige Chance, dass ich überlebte, war, endlich – und vollständig – die Grigori zu werden, die ich war.

Steph war wie gelähmt, sie starrte mich an und ließ dann die Schultern fallen. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Aber das kannst du nicht tun«, flüsterte sie.

Ich räusperte mich. »Ich habe eine Nachricht hinterlassen. Wirst du sie ihm geben?«

Sie nickte, während sie weinte und schniefte. »Wirst du mich anrufen? Bitte, Vi, versprich mir, dass du anrufst.«

»Er darf nie erfahren, wo ich bin.« Denn trotz meiner Entscheidung, würde Lincoln zu mir kommen, wenn er wüsste, wo ich war. Er würde es nicht akzeptieren. Wir waren Partner. Soweit es ihn betraf hieß das, dass wir zusammengehörten, ob wir wollten oder nicht.

Steph schüttelte den Kopf. »Ich würde es ihm nicht sagen, wenn du das so willst. Versprich einfach, dass du in Kontakt bleibst. Bitte, Vi. Du bist meine beste Freundin.«

Ich blickte zu Boden. Ich hätte Nein zu ihr sagen sollen. Aber ich ertappte mich dabei, wie ich nickte. »Wenn ich angekommen bin, rufe ich dich von meiner neuen Nummer aus an.« Ich griff nach der Tür. »Ich muss jetzt gehen.«

»Ich hab dich lieb, Vi.«

»Ich hab dich auch lieb, Steph.«

Und dann ging ich.

Dad und Evelyn hatten alles vorbereitet, während ich bei Lincoln gewacht hatte. Sie hatten ihre Entscheidung ebenfalls getroffen – was immer das bedeutete – und freuten sich darauf, die Stadt zu verlassen, etwas, was ich schon vor einer Weile beschlossen hatte. Jetzt war ich erleichtert, dass ich mit ihnen gehen würde.

Sie hatten alles verpackt und vorübergehend eingelagert, bis wir endgültig entschieden hatten, wo wir uns niederlassen wollten. Es stellte sich heraus, dass Evelyn mehr als nur ein sicheres Haus besaß und wir würden damit anfangen, sie uns alle anzusehen. Zum letzten Mal benutzte ich meinen Hausschlüssel und ging in die Wohnung.

Dad kam lächelnd aus seinem Zimmer. Ich war ein wenig überrascht, dass er aussah wie immer. »Ich dachte, ihr habt entschieden …«, fing ich an, aber dann trat Evelyn hinter ihm aus dem Schlafzimmer und ich merkte … sie hatten sich entschieden.

»Wow«, sagte ich und war gebannt von meiner Mutter, die zum ersten Mal tatsächlich aussah wie meine Mutter und reif genug, um Dads Frau zu sein. »Du bist schön«, sagte ich und meinte es auch so. Sie war noch faszinierender als vorher, nur älter.

Sie strahlte. »Ich weiß, es ist nicht das, was du erwartet hast, aber ich will schon seit Langem erwachsen werden, und auch wenn dein Dad und ich die Jahre, die wir verloren haben, nicht wieder bekommen, können wir auf diese Weise … Die Jahre, die vor uns liegen, werden ganz uns gehören«, sagte sie und schmiegte sich an Dad. Noch nie hatte ich Dad so zufrieden gesehen.

Ich lächelte. »Das ist perfekt.«

»Bist du dir sicher, dass du das tun willst, Liebes?«, fragte Dad.

»Ganz sicher«, sagte ich. Ich ging zu meinem Zimmer und fand es völlig leer geräumt. In der Mitte stand ein einsamer Koffer auf dem Boden. Ich schnappte ihn und ging wieder nach draußen. Ich wusste, dass Lincoln noch ein paar Tage lang ans Bett gefesselt sein würde, aber ich wollte nicht abwarten, um herauszufinden, ob es tatsächlich so war. Dad und Evelyn waren bereits an der Tür und warteten auf mich, als ich wiederauftauchte.

»Fertig«, sagte ich.

Wir fuhren mit dem Aufzug nach unten und wollten direkt zu dem Taxi, das Dad bestellt hatte, doch als wir aus der Tür traten, sah ich, dass Spence neben dem Wagen stand. Ich ging zum Kofferraum und warf meine Tasche hinein. Der Taxifahrer warf mir einen seltsamen Blick zu und mir wurde klar, dass ich hätte tun sollen, als wäre sie schwer.

Wie auch immer.

Nachdem Spence meine Mutter und ihr verändertes Aussehen angestarrt hatte, ging er um das Auto herum und nickte meinen Eltern zu, die gerade hinten einstiegen.

»Du wolltest dich nicht einmal mehr verabschieden?«

»Sei nicht beleidigt«, sagte ich und versuchte mich darauf zu konzentrieren, meinen Reisegeldbeutel zu ordnen.

»Das ist Schwachsinn, und das weißt du, Eden! Du gibst ihm nicht einmal die Chance, mit dir zu reden!«

»Das hat keinen Sinn. Hör mal, ich habe mit Dapper gesprochen. Er hat versprochen, auf dich aufzupassen, bis du deine Partnerin hast. Wenn du verletzt bist, wird er dich heilen. Griffin und … Lincoln auch. Solange ihr das alle braucht.«

Spence Faust krachte auf das Auto. »Darum geht es hier doch gar nicht, und das weißt du!«

Ich versuchte, weiterzumachen. »Sag Griffin, dass … Dass ich theoretisch ja gestorben bin, deshalb hat Lincoln vielleicht das Recht, eine neue Partnerin zu verlangen. Selbst wenn er das nicht hat, hätte ich nichts dagegen, wenn er eine Klage einreicht.«

Spence schüttelte den Kopf. »Du läufst davon!«

Mein Hals tat weh, weil der Kloß darin immer größer wurde.

»Ich weiß.«

Spence blinzelte und sein Mund zuckte, weil er versuchte, sich zusammenzureißen. »Du bist die einzige verdammte Familienangehörige, die ich habe!«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bin ich nicht. Deine ganze Familie ist in dieser Lagerhalle. Ich … ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, aber ich muss gehen.«

Er schaute auf seine Füße. »Ich könnte mit dir kommen«, sagte er leise.

»Dieses Mal nicht, Spence. Du musst deine Partnerin finden. Ich muss mich selbst finden. Am Ende werden wir beide besser dran sein.«

Er trat zurück und öffnete die Taxitür für mich. Dad und Evelyn warteten geduldig.

»Ich geb dir Rückendeckung, Eden.«

»Und ich dir. Jederzeit, überall.« Es war nicht das erste Mal, dass ich Spence dieses Versprechen gab, und auch jetzt meinte ich es ernst.

Wir warteten in der Lounge des Flughafens, bis wir an Bord gehen konnten. Erst jetzt, wo wir sicher eingecheckt hatten und zum Abflug bereit waren, erlaubte ich mir, auszuatmen.

Er war am Leben.

Ein Teil von mir wünschte, dass das ein Happy End bedeutete, dass ich in der Lage gewesen wäre, in dieser Nachricht zu schreiben, dass es noch Hoffnung gäbe. Aber es gab keine. Alles, was darauf hinauslief, dass wir als Partner oder in der Liebe vereint wären, würde schlecht enden. Er würde immer derjenige sein, der versuchen würde, für mich zu sterben.

Und das war nicht genug.

Ich schloss die Augen. Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich aus mir heraus und in meine engelhafte Sicht glitt, oder ob ich einfach träumte, aber einen Augenblick lang war mir schwarz vor Augen, dann blickte ich auf Lincoln herunter. Er lag an Kissen gelehnt auf dem Sofa. Er atmete schwer und schwitzte.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du dich noch nicht bewegen sollst, Linc. Es wird ein paar Tage dauern, bis alles wieder beim Alten ist«, sagte Griffin, der selbst klang, als wäre er außer Atem. Etwas war passiert – sie waren von kaputten Möbeln umgeben und sahen beide völlig lädiert aus. Lincoln starrte geradeaus, das Tuch war weg, sodass man jetzt das Wandgemälde sehen konnte. Ich sah das Bild an, das mit einer einzelnen weißen Lilie begonnen hatte. Jetzt zeigte es ein ganzes Feld davon unter einem violetten Himmel und einer goldenen Sonne. Das waren wir … vor einer Ewigkeit.

»Ich muss zu ihr«, sagte er, seine Stimme war kaum hörbar, jedes Wort traf mich wie ein Güterzug.

»Sie ist weg, Linc. Sie ist weg.«

Ein Schrei kam über Lincolns Lippen, der mein Herz durchbohrte. Seine Hand sackte in seinen Schoß, und von seinen Fingerspitzen fiel meine Nachricht.

Nichts ist ewig.

Das weiß ich jetzt.

Lass mich gehen.

V

»Liebes«, sagte Dad und rüttelte mich sanft an der Schulter. »Sie haben gerade unseren Flug aufgerufen. Bist du bereit?«

Ich sah zu ihm auf, noch immer fühlte ich Lincolns Nähe, spürte die verblassenden Strahlen der Sonne. Ich nahm meinen Rucksack und ließ mich von Dad auf die Füße ziehen. Ich hasste, dass ich Lincoln wehtat, hasste, dass ich mir selbst wehtat.

Aber es gab keinen anderen Weg.

Er würde weiterziehen, eine andere – eine bessere – Partnerin finden, und bis dahin wäre Dapper da, um ihn zu heilen. Ohne mich wäre er stärker, und am Leben.

Dad sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen und besorgtem Blick an. Er war momentan so glücklich, dass ich wusste, dass seine Sorge gerade mir allein galt. Ich lächelte und warf mir den Rucksack über die Schulter.

»Los geht’s.«