Kapitel Sechsunddreissig
»Adams erste Frau. Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren. Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt. Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, so lässt sie ihn so bald nicht wieder fahren.«
Johann Wolfgang von Goethe
Dutzende Verbannte waren sofort von meiner Kraft gefangen. Ich spürte eine Woge der Energie. Es war berauschend zu wissen, dass jeder von ihnen unter meiner Kontrolle absolut unbeweglich war. Jeder Einzelne war mir jetzt ausgeliefert. Alle bis auf zwei.
Phoenix hatte ich absichtlich nicht mit meiner Kraft berührt, auch wenn er stocksteif dastand wie die Übrigen. Selbst wenn ich das nicht getan hätte, wäre er inzwischen vermutlich wegen unserer neuen … Beziehung … immun dagegen.
Lilith hingegen schwelgte darin, den Beweis zu liefern, dass ich sie mit meinen Fähigkeiten nicht außer Gefecht setzen konnte. Mit einem leisen Lachen ging sie durch meinen Amethystnebel. Bei all ihrer Kühnheit – ihre Schritte waren langsamer. Sie war nicht so unverwundbar, wie mich ihr engelhaftes Ego glauben machen wollte.
»Beeindruckend«, sagte sie, während sie auf meine körperliche Form und dann zur Decke blickte. Sie konnte meine körperlose Bewegung leicht nachverfolgen. »Du bist in der Tat von den Einzigen. Aber wir wissen beide, dass du den Raum so nicht lange halten kannst. Bestimmt kannst du nicht jedem unwilligen Verbannten seine Kräfte wegnehmen.«
Das stimmte. Ich brauchte meine ganze Konzentration, um so viele auf einmal festzuhalten. Doch um ein Exempel zu statuieren, knöpfte ich mir einen Verbannten vor – einer von denen, die so scharf darauf gewesen waren, Lincoln zu schlagen – und nahm ihm seine engelhafte Kraft weg. Damit hatte ich ihn gegen seinen Willen auf einen einfachen Menschen reduziert. Er fiel zu Boden und schrie hysterisch. Angewidert wedelte Lilith mit dem Handgelenk und sandte einen Windstoß aus, der so stark war, dass er in die nächste Wand krachte. Er gab keinen Ton mehr von sich.
Widerwillig entfernte ich mich wieder aus meiner Sehkraft und kehrte zu meinem Körper zurück, zog an dem Band um meinen Gelenken, um meine Hände zu befreien. Während ich die anwesenden Verbannten weiterhin festhielt, brüllte ich »Jetzt!«.
Genau zu dem Zeitpunkt, als mein Arm nach oben schoss, flog das Halfter mit den beiden Schwertern in meine Hände und ich zog sie beide heraus.
Danke Spence.
Lilith warf den Kopf nach hinten und lachte, als ich auf sie zuging. Völlig unbeeindruckt machte sie einen Schritt auf den Rand ihrer Bühne zu.
»Du kannst meine Schilde nicht durchbrechen, kleines Mädchen. Luft beschützt mich. Sie liebt mich und ich führe und ergänze sie schneller, als du dir vorstellen kannst.«
Ich machte einen weiteren Schritt auf sie zu und spürte den vernichtenden Druck ihres Kraftfeldes. Ich umklammerte meine Schwerter noch fester.
Lilith irrte sich gewaltig.
Dank Phoenix’ Essenz begriff ich genau, wie ihr Schutzschild funktionierte – ich konnte erkennen, wie sich die Luft um sie herum verfestigte und zu etwas ganz und gar Undurchdringlichem wurde.
Ich betrat ihr Kraftfeld und spürte, wie mein Körper unter dem erdrückenden Gewicht zitterte.
Lilith betrachtete mich weiterhin aufmerksam und belustigt. »Du bist machtvoll, weil du auf den Füßen bleiben kannst. Aber so menschlich. So dumm. Ist das alles, was du zu bieten hast? Ist das dein großer Moment?«
Ich starrte ihr geradewegs in die Augen. Ich sah nicht an ihr vorbei. Ich gab nichts preis.
»Nein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Niemals wirst du meine Schilde durchbrechen.«
Er stieß zu.
Sie schnappte nach Luft.
Ihr Kinn schob sich nach vorne, ihr Mund stand weit offen, als sich von hinten eine Klinge durch ihre Brust bohrte.
»Sie weiß es«, sagte Phoenix direkt an Liliths Ohr.
Erst jetzt schaute ich zu der Stelle, zu der sich Phoenix geschlichen hatte, um die versteckte Klinge in seine Mutter zu stoßen. Hinter ihr und innerhalb ihres Kraftfelds war er in einer erstklassigen Position. Und Lilith hatte nicht einmal in Betracht gezogen, dass er eine Bedrohung sein könnte. Dafür hatte ihr Stolz gesorgt.
Wie betäubt taumelte sie vorwärts, ihre schockierten Augen blickten ihren Sohn an.
Phoenix erwiderte ihren Blick, seine Trauer war offensichtlich. »Es war ein Fehler, dich zurückzuholen.«
Lilith griff nach hinten und zog die Klinge heraus, wobei sie vor Schmerz die Zähne fletschte. »Es war ein Fehler zu versuchen, mich zu verraten.«
Ich bewegte mich langsam. Lautlos. Schob mich durch die Überreste ihres Schilds. Genau wie Phoenix geplant hatte, hatte die Verletzung genug Schaden angerichtet, um ihre Verteidigung zu schwächen.
»Du solltest doch am besten wissen, dass eine Klinge nicht genug ist, um mich zu töten!« Sie machte einen Satz, und Phoenix’ Dolch war plötzlich in ihrer Hand.
Beängstigend schnell stand sie vor Phoenix, ihre Fingernägel gruben sich in seinen Hals, der Dolch steckte in seinem Bauch. Sie fauchte und drehte die Klinge, bevor sie sie wieder aus ihm herausriss.
Phoenix fiel auf die Knie und blickte mit herzzerreißender Erkenntnis zu ihr auf. Und vielleicht stimmte es. Vielleicht steckt in uns allen etwas, was nicht verleugnet werden kann. Doch Phoenix hatte bereits offenbart, dass sein Wesen nicht in Stein gemeißelt war, und ehrlich gesagt, scherte mich das in diesem Moment einen Dreck.
Er schüttelte den Kopf. »Ich brauchte dich nicht zu töten, Mutter, nur zu schwächen.« Er sank zu Boden.
Als Lilith ihren Irrtum bemerkte, wirbelte sie mit dem Dolch in der Hand herum. Sie hieb nach meiner Seite.
Doch ich war bereits durch ihre Schilde hindurch, und ich war ebenfalls schnell.
Ich stieß die beiden Schwerter, die mit Spänen von Grigori-Klingen versetzt waren, durch ihre Brust und entfesselte meine Kraft. Ich schob sie ganz in sie hinein und ließ dabei die übrigen Verbannten frei. Etwas brannte über meiner Hüfte, aber ich ignorierte es.
Sie taumelte, griff nach den Schwertern, aber die schiere Stärke meiner Kraft schwächte sie, sodass sie sich kaum bewegen konnte. Schließlich gelang es ihr, die Klingen herauszuziehen. Ein Klirren hallte durch den Saal, als sie sie zu Boden fallen ließ. Die Arroganz in ihren Augen blieb. Sie glaubte immer noch, dass sie mich umbringen konnte.
»Für meine Mutter«, sagte ich.
Ich zog meinen Grigori-Dolch hinter meinem Rücken hervor. Rasch zog ich ihn über mein Handgelenk und hinterließ einen tiefen Schnitt. Es machte mir nichts aus.
»Für deinen Sohn«, sagte ich.
Lilith beobachtete, wie ich mit meinem engelhaften, silbermarmorierten Blut die Klinge benetzte.
Ihre Augen wurden groß. Fast hätte ich gelächelt.
»Unmöglich«, flüsterte sie und schaffte es, ein paar Schritte zurückzuweichen.
Ich folgte ihr einfach. »Für diese Kinder und die Eltern, denen du sie geraubt hast.«
Ich machte den letzten Schritt und zögerte nicht, ihr den Dolch, der mit meinem Blut bedeckt war, geradewegs ins Herz zu stoßen.
»Für Lincoln.«
Lilith fiel.
In diesem Moment, noch bevor sie verschwinden konnte, spürte ich, wie sich die Realität verschob. Die Luft wurde dichter, und die Schwerkraft schien ihren Griff zu lockern. Ich schloss die Augen und ließ es über mich ergehen.
Als ich sie wieder aufschlug, standen Uri und Nox vor mir – der Rest des Saales stand still. Wie auf Autopilot hob ich Lilith in meine Arme und ging auf sie zu, zwang uns in diese Zwischenwelt, die ich immer noch nicht vollkommen verstand.
Uri nickte mir zu, als ich die Grenze überschritt und ihm Lilith reichte. Dabei blickte ich auf mein blutendes Handgelenk. Selbst an diesen überirdischen Ort begleitete mich die Kälte, fraß mich langsam auf, als wäre ich ihre wehrlose Beute.
Nox betrachtete die Szene neugierig und wandte sich dann an mich. »Immer wieder für Überraschungen gut, wie es aussieht.« Er nickte zufrieden. »Alles ist, wie es sein soll. Die Schräglage ist jetzt wieder korrigiert.«
»Welche Schräglage?«, fragte ich.
Nox sah Phoenix an, der kaum noch atmete, dann mich. »Es war nie richtig, dass jemand, der so mächtig ist wie du, nur das Licht in sich trägt. Jetzt trägst du beides, Licht und Finsternis. Das ist gerecht.«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich seine Worte in meinem schwerfälligen Gehirn verarbeitet hatte. Doch dann … Oh.
»Der Engel, der mich gemacht hat, ist vom Licht«, sagte ich leise.
Nox schnaubte. »Dachtest du, ein dunkler Engel, der etwas auf sich hält, würde das Bild eines Löwen annehmen?«
Noch mehr Mosaiksteinchen fielen an ihren Platz, und in mir tobte Wut. Ich spuckte Blut auf Nox’ Füße, blickte an mir herunter und bemerkte erst da die Wunde in meiner Seite. Lilith musste sie mir zugefügt haben. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich etwas gespürt hatte, als ich sie erstach.
»Das war von Anfang an euer Plan, nicht wahr. Alles davon! Ihr wolltet, dass das passiert, damit mir Phoenix seine Essenz gab. Und warum? Weil die Engel der Finsternis eifersüchtig waren?«, schrie ich. Nicht dass jemand anderes es hätte hören können, wir hatten die Zeit um uns herum angehalten.
»Es ist, wie es sein muss. Weder wollte ich es, noch lehnte ich es ab.«
»Nox«, unterbrach Uri. »Wir müssen gehen.«
»Und warum?«, spottete Nox herausfordernd. Er wollte noch bleiben und schadenfroh sein.
»Weil wir ihr das Mittel gezeigt haben, wie sie jeden von uns in physischer Form töten kann, wann immer sie das will, und momentan ist sie nicht sie selbst. Es wäre nicht weise, noch zu bleiben.«
Nox sah mich zum ersten Mal richtig an. »Stimmt.« Er neigte den Kopf. »Aber mir gefällt dieser Blick. Tödliche Blicke stehen dir.«
Uri ließ seinen emotionslosen Blick über mich huschen. Zum ersten Mal spürte ich, dass ich seinen Blick mit meiner eigenen Leere erwidern konnte.
»Besonders zu sein bringt immer große Opfer mit sich. Das muss so sein. Aber du musst dich trotzdem geschlagen geben.«
Ich ignorierte ihn und sprach eine Drohung aus: »Sorgt dafür, dass sie dieses Mal keinen Weg zurück findet.«
Er nickte leicht und sah an mir vorbei zu den Dutzenden Verbannten, die bald angreifen würden. »Ich lass dich die Dinge hier zu Ende bringen.«
»Klar doch«, fauchte ich.
Uri blickte über seine Schulter zu der Stelle, an der Lincoln lag. Als er und Nox verblassten, blickte er zu mir zurück, seine Augen waren glühender denn je. »Nichts ist gewiss.«
Und dann waren sie weg.
Doch ich war immer noch in dieser verdrehten Realität. Ich fragte mich, ob ich einfach dableiben, den Rest der Welt ignorieren und einfach allmählich schwinden konnte. Doch sobald ich diesen Gedanken formuliert hatte, spürte ich das Zupfen.
Ein Wimmern fiel von meinen Lippen, und als ich mich umdrehte, sah ich Phoenix am Boden liegen, der den Arm ausstreckte und kaum noch Leben in sich hatte.
»Komm zurück, Violet. Komm zurück!«
Er rief mich zurück in die Welt. Er war mein Anker.
Lincoln musste es ihm gesagt haben.
Ich schloss kurz die Augen.
Es gibt noch mehr zu tun.
Ich machte einen Schritt auf Phoenix zu und seine Umgebung rückte wieder in den Fokus. Phoenix wurde von Schmerzen geschüttelt, als ich die Schwelle zwischen Realität und der anderen Welt überschritt. Um uns herum fingen die Verbannten an, sich zu bekämpfen.
Die Kombination aus Chaos und ihrem rachsüchtigen Charakter machte die Verbannten genauso wütend aufeinander, wie sie auf mich waren. Und jetzt, wo Lilith verschwunden war und Phoenix am Boden lag, schien die zeitlose Rivalität zwischen Licht und Finsternis wieder aufzuleben.
Über uns erklangen Helikopter, in der Nähe war eine Explosion zu hören. Außerhalb des Saales waren gebrüllte Befehle zu hören.
Die Kavallerie war angekommen.
Mein Blick suchte Evelyn, und ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Aber da war sie, sie war am Leben und kämpfte mit ihren Fesseln. Spence half ihr.
Ich ließ mich neben Phoenix zu Boden fallen.
Er atmete kaum noch. Das Schwert, mit dem er Lilith durchbohrt hatte, war keine reine Grigori-Klinge gewesen, deshalb hatte es ihn nicht sofort umgebracht, als sie es gegen ihn eingesetzt hatte. Trotzdem war ich erstaunt, dass er es noch schaffte durchzuhalten.
Ich ergriff seine Hand. Sie war kalt wie meine.
»Ironisch, nicht wahr?«, sagte ich. Ich hustete Blut und registrierte die Schmerzen in meiner Seite und an meinem Handgelenk. »Nach all dem sterben wir einfach.«
Er drückte meine Hand.
»Du wirst nicht sterben«, sagte er. Jedes Wort kostete ihn Anstrengung.
Ich machte mir nicht die Mühe zu widersprechen. »Nur noch eine Sache, die zuvor noch zu erledigen ist.«
Mit letzter Kraft zog mich Phoenix grob zu sich heran. »Ich muss dir etwas sagen«, flehte er und zog mich noch näher.
Er flüsterte.
Ich hörte zu.
Und zitterte bei seinen Worten.
»Es ist zu spät!«, weinte ich.
»Das dachte ich auch mal. Aber es ist nie zu spät. Das hast du mich gelehrt. Liebe kann uns unsterblich machen.« Phoenix schloss die Augen, gequält bis zum Ende. »Verzeih mir«, waren seine letzten Worte.
»Ich verzeihe dir«, schluchzte ich, während ich mich verzweifelt an ihm festklammerte. »Ich verzeihe dir.«
Es war zu spät.
Alles. War. Zu. Spät.