Kapitel Achtzehn

»Seinen Boten wirft er Torheit vor.«

Hiob 4, 18

Wir brauchten Olivier – Phoenix’ rechte Hand – nicht lange zu verfolgen, bis wir sahen, dass er ein anderes Gebäude betrat, eines, das wie ein Wohnblock aussah. Mir drehte es den Magen um.

Wir überlegten, ob wir ihm folgen sollten, beschlossen dann aber, erst mal draußen zu warten.

Ein paar Minuten später kam Olivier wieder heraus, er hatte ein Kind in einem blau-weißen Schlafanzug im Arm. Der Kopf des Kindes ruhte an Oliviers Schultern, als würde es schlafen. Wir sahen jedoch alle, dass seitlich am Gesicht des Jungen Blut herunterlief.

»Seht mal«, sagte Zoe und zeigte auf den zweiten Stock des Gebäudes, wo Rauch aus einem Fenster quoll.

Ich geriet in Panik. Da waren noch Menschen im Gebäude! Ich betete, dass die Mutter oder der Vater des Jungen – wer zum Grigori bestimmt war hatte nur das eine oder das andere – noch am Leben war.

»Ich gehe«, sagte Zoe, ohne zu zögern. »Ihr beide folgt Olivier.«

Zum Nachdenken war keine Zeit. Unsere Beschattung war gerade zu einer Rettungsmission geworden, und keiner von uns war bereit, sich von dem, was getan werden musste, abzuwenden. Für diese Dinge waren wir schließlich gemacht.

Zoe rannte über die Straße und in das Gebäude hinein, während Spence und ich Olivier folgten.

Olivier hielt ein Taxi an, das dann in Richtung Manhattan davonfuhr. Wir hätten ihn beinahe verloren, während wir ebenfalls auf ein Taxi warteten. Spence hätte fast eine Frau aus dem ersten Taxi, das wir fanden, herausgezerrt, als diese noch am Bezahlen war.

»Folgen Sie dem Taxi da!«, sagte Spence zum Fahrer, während er ihm das ganze Geld zuwarf, das er in der Tasche hatte.

Wir lehnten uns zurück, als wir über die Brücke nach Lower Manhattan fuhren. Spence sah hocherfreut aus.

»Das wolltest du schon immer mal sagen, was?«

»Der Traum eines jeden Mannes!«, sagte er, wobei er seinen Blick nicht von dem Taxi vor uns abwandte.

Während er es im Auge behielt, nutzte ich die Gelegenheit, eine SMS an Lincoln zu schicken, in der ich ihm die Straße nannte, in der wir Zoe zurückgelassen hatten, und ihn aufforderte, für alle Fälle die Feuerwehr und einen Aufräumtrupp hinzuschicken.

Er schrieb zurück.

Schon auf dem Weg. Wo seid ihr?

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

Im Taxi. Verfolgen Olivier. Nicht sauer sein.

Jetzt war nicht die Zeit zu lügen.

Lincolns Antwort kam sofort.

NEIN! Zu gefährlich! Wartet auf mich und Griff. Verfolgt ihn NICHT alleine!

Ohne etwas zu sagen, zeigte ich Spence die SMS. Das war nicht allein meine Entscheidung, sondern auch seine.

»Wenn wir warten, verlieren wir ihn.« Sein Blick war weiterhin auf unser Zielobjekt gerichtet. »Vi, du musst dich entscheiden. Willst du eine Grigori sein, wie die anderen sie haben wollen, oder willst du die Grigori sein, von der du weißt, dass du sie bist? Er fährt zur City Hall!« Den letzten Teil schrie er dem Fahrer zu. »Hör mal, Vi, in ein paar Monaten bekomme ich meine Partnerin. Ich werde sie in diese chaotische Welt bringen und hoffe, dass sie das überlebt. Ich habe die Hosen voll, dass ich sie im Stich lassen könnte oder dass sie verletzt wird, aber das ist unser Job.«

Spence redete nie über seine künftige Partnerin. Er würde nicht einmal jemandem ihren Namen verraten. Für den Fall, dass sie sich gegen die Annahme entscheiden sollte, wollte er, dass sie anonym bleiben konnte. Er war ein anständiger Kerl.

Mein Handy summte.

Violet?

So einfach war das für Spence. Er war Teil der Akademie, aber er würde sich nie über sie definieren. Er hatte ein Ziel, und das bestand darin zu kämpfen – ein Grigori zu sein.

Ich schrieb eine SMS an Lincoln.

Er hat ein Kind. Wir müssen dahin.

Ich steckte das Handy zurück in meine Tasche. Ich spürte, dass es wieder vibrierte, aber ich ignorierte es.

»Hier, halten Sie hier an!«, befahl Spence dem Fahrer. Er zeigte auf Olivier, der jetzt ausgestiegen war und in einen Park ging. »City Hall Park. Folgen wir ihm oder nicht?«

Ich machte die Tür auf. »Was denkst du denn?«

Er schenkte mir ein Megawatt-Grinsen. »Ich habe nie an dir gezweifelt, Eden.«

»Halt deine Schutzschilde oben, sonst nimmt er uns wahr«, erinnerte ich Spence. Er nickte, und wir ließen uns so weit wir konnten zurückfallen, nur um sicherzugehen.

Während Olivier durch den Park ging, vorbei an einem Springbrunnen, versteckten wir uns im Gebüsch und ich ließ meine Kraft aus mir herausströmen, um zu enthüllen, was er dem Rest der Welt zeigte. Er verbarg sich hinter einer Blendung. Kein normaler Mensch konnte das Kind sehen – nicht dass um diese Zeit so viele Leute unterwegs gewesen wären.

»Er hat eine Art Uniform an.«

Spence nickte. »Eine der City-Hall-Wachen. Damit kann er gehen, wohin er will. Sieh mal, er geht jetzt die Treppe da hinunter.«

»Wohin führt sie?«, fragte ich.

»Bin mir nicht sicher. Hier in der Nähe soll es eine alte U-Bahn-Station geben. Sie ist seit einiger Zeit stillgelegt – Sicherheitsrisiko oder so.«

Ich konnte erkennen, warum er daran dachte. Wohin immer Olivier auch ging, es lag direkt unter der City Hall.

Spence sah sich unsere unmittelbare Umgebung an.

»Da«, sagte er und zeigte auf einen quadratischen, metallgefassten Gullydeckel, etwa fünfzehn Meter von uns entfernt. »Das würde uns hinunter in diesen Bereich bringen. Besser als ihm an den Wachen vorbei ins Ungewisse zu folgen.«

»Einverstanden.«

Wir traten aus den Büschen ins Freie. Spence legte mir eine Hand auf die Schulter, damit er uns beide mit einer Blendung versehen konnte. Ich bewegte mich leise, weil ich davon ausging, dass er uns unsichtbar gemacht hatte. Der große Metalldeckel war mit zwei Schlössern befestigt.

Ich steckte meine Finger unter die Kante des Deckels, bis ich einen guten Halt hatte, und sah dann Spence an, um mich zu vergewissern, dass er bereit war. Es würde schnell gehen müssen.

Er nickte und packte die andere Seite.

Dann zogen wir daran.

Die Schlösser rissen durch unsere übernatürliche Stärke auseinander und der Metalldeckel flog auf. Rasch rutschten wir in das Loch, wobei wir so leise wie möglich waren, und schoben dann den Deckel über uns zurück an seinen Platz.

Gott sei Dank gab es eine Leiter, aber leider kein Licht, deshalb mussten wir uns blind vorwärtstasten, bis wir an eine schwach beleuchtete Abzweigung gelangten. Ich schob meine Sinne nach außen, hielt nach Olivier Ausschau und zeigte dann auf eine Backsteinmauer.

»Ich weiß nicht, wie wir dorthin kommen, aber es ist, als wäre er innerhalb dieser Mauer«, sagte ich zunehmend verwirrt.

»Mit Kraft?«, schlug Spence vor.

Ich ging zu der Wand und legte meine Hand darauf. Sie fühlte sich echt und solide an. Ich wich ein paar Schritte zurück. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

Ich stieß die Kraft in mir an, mein Amethystnebel breitete sich aus, konzentriert darauf, seinen Weg zu der Mauer zu finden. Der Nebel repräsentierte meinen Willen – eine Verlängerung meiner engelhaften Seite, die ich noch lernen musste zu beherrschen.

Die Kraft, die diesen verborgenen Tunnel geschaffen hatte, war das Werk von Verbannten. Und sie waren lange Zeit hier unten gewesen.

»Verdammt«, flüsterte Spence, der offenbar dasselbe wahrnahm. »Sie können von hier unten über die ganze Stadt verfügen.«

Wir gingen durch den Durchgang, wobei wir eine Reihe von Eingängen überprüften, die zu noch mehr Tunnels führten. »Oh, Mann, direkt unter der Nase der Akademie.«

»Sie wissen nichts davon?«

Spence schüttelte ehrfürchtig den Kopf.

»Vielleicht sollten wir ihnen lieber nichts davon sagen«, fügte ich hinzu.

Spence zog sarkastisch eine Augenbraue nach oben. »Findest du

Wir wussten beide, dass uns Josephine nicht glauben würde. Außerdem warf das die Frage auf: Wer verwaltete dieses Labyrinth? Lilith war gerade erst nach New York zurückgekehrt, daraus ließ sich schließen, dass ein anderer Verbannter oder eine Gruppe von Verbannten dafür verantwortlich war.

Wir folgten der Spur der Kraft durch den Tunnel. Dabei bewegten wir uns schnell und leise, bis wir zu einem Bogen kamen, der sich zu einem anderen, breiteren Tunnel öffnete, durch den sich Bahnlinien zogen. Weiter hinten war ein erhöhter Bahnsteig zu sehen. Das musste die stillgelegte U-Bahn-Station sein, die Spence erwähnt hatte.

»Zuerst müssen wir Olivier von dem Kind trennen …«, fing Spence an.

Ich nickte. Olivier konnte das Genick dieses Jungen schneller als der Blitz brechen. Wir waren fast an der Station, und es wurde immer schwieriger, sich ihm zu nähern, ohne dass er uns wahrnahm.

Wir blieben auf den Schienen, kauerten uns unter die Kante des verlassenen Bahnsteigs und beobachteten, wie Olivier auf und ab ging. Im gedämpften Licht sah die Station recht schön aus – die geschwungenen Tunnelwände waren grün und cremefarben gekachelt, während die Decke mit Bleiglasmustern dekoriert war. Ein verborgener Schatz unter der Stadt.

»Worauf wartet er?«, fragte Spence gerade, als ein Lufthauch eine lose Haarsträhne auf meinem Gesicht aufwirbelte und mir der Atem stockte. Ohne es zu merken, packte ich ihn am Arm.

»Shit, Eden. Kannst du mal locker lassen?«, flüsterte er und versuchte, seinen Arm wegzuziehen. Aber als ich nicht gehorchte, legte er eine Hand auf meine Schulter. »Was ist los?«

Jasmin und Moschus. Das ist los.

Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. »Phoenix kommt«, zischte ich.

Olivier wartet auf Phoenix.

»Nun … da sieht die Sache jetzt schon anders aus. Was nun?«, fragte Spence. Es war sonnenklar, dass wir nicht in der Lage sein würden, die beiden auszuschalten und obendrein den kleinen Jungen zu retten – vor allem nicht, wenn Phoenix mich mit der Kraft eines einfachen Gedankens vernichten konnte.

Der Wind wurde stärker. Wir schoben uns zurück in unser Versteck und beobachteten Phoenix’ Ankunft.

Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug und polierte schwarze Schuhe. Sein Haar war länger geworden und schimmerte noch immer auf die ihm eigene Art und Weise – etwas Mächtiges ging von jeder Strähne aus, die Ansätze waren so dunkel, dass sie violett aussahen, und funkelndes Silber ließ es leuchten wie einen Opal. Das Resultat war so überwältigend wie immer. Entgegen aller Logik begann mein Herz in meinen Ohren zu hämmern.

Phoenix ließ seine Hände in die Taschen gleiten. Er verströmte sein Selbstbewusstsein in Wellen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. So losgelöst und doch so … gefasst, mit einer starren Entschlossenheit, die mir noch mehr Angst einjagte als seine übliche Arroganz und seine manipulativen Spielchen.

Er musterte Olivier von oben bis unten, ohne auch nur einen Blick in die Richtung des noch immer bewusstlosen Jungen zu werfen.

Er ist so kalt.

Selbst nach allem, was passiert war, hätte ich nie gedacht, dass Phoenix so bar jeglicher Gefühle gegenüber einem geschlagenen Kind wäre.

Ich war wütend über sein Verhalten, vor allem machte es mich aber traurig. In meinem Augenwinkel bildete sich eine Träne.

Phoenix’ Kiefer schien sich anzuspannen und er neigte den Kopf zur Seite, als hätte er etwas gehört.

Ich hielt den Atem an, weil ich meinen Fehler bemerkte. Die Zeit stand still.

Idiotin!

Verzweifelt versuchte ich, meine Gedanken abzuschotten. Aber es war zu spät. Ich hatte ihm gerade meinen persönlichen, emotionalen Fingerabdruck zukommen lassen. Phoenix wusste, dass ich da war.

Ich wappnete mich für den Angriff … Aber er kam nicht. Er wandte einfach seine Aufmerksamkeit wieder Olivier zu.

»Irgendwelche Probleme?«, fragte Phoenix beherrscht.

Olivier grinste heimtückisch. »Keine. Hab die Wohnung des Kindes angesteckt. Niemand wird nach ihm suchen.«

Phoenix nickte.

Warum sagt er Olivier nicht, dass ich hier bin?

Phoenix ging auf dem Bahnsteig auf und ab, seine Schritte knallten auf dem Beton. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du die Gefangenen nicht schlagen sollst«, sagte er ruhig, wobei er den Jungen noch immer keines Blickes würdigte. Mich auch nicht.

Olivier zuckte mit den Schultern. »Was regst du dich auf? Wir richten sie doch sowieso hin, wenn sie ihren Spaß gehabt hat. Sie sagt, es ist ihr egal, was wir mit ihnen machen, solange sie noch atmen. Und atmen tut er noch.«

Blitzschnell packte Phoenix Olivier am Kragen und schleuderte ihn mit einer Hand gegen die Wand.

»Antworte mir!«, knurrte er.

»Ich antworte demjenigen, der alle Menschen in die Knie zwingen wird, damit sie ein für alle Mal wissen, wo ihr Platz ist. Das heißt, ich antworte ihr«, würgte Olivier. »Das hier ist einfach ein Mittel zum Zweck. Du vergisst, dass ich vom Licht bin.«

Er mochte mal ein Engel des Lichts gewesen sein, aber jetzt hatte Olivier nur noch Wahnsinn und Verblendung an sich.

Verbannte hielten an ihren Ursprüngen fest, auch wenn sie ihren rechtmäßigen Platz verlassen hatten. Der Krieg zwischen Licht und Finsternis war ewig, trotz des derzeitigen Waffenstillstands. Wenn die Grigori-Schrift nicht verheißen würde, dass die Grigori zerstört werden konnten, würden sich die beiden Seiten niemals dulden.

Phoenix’ Griff um Oliviers Hals wurde noch fester. Abgelenkt von seiner Aufgabe glitten seine Schutzvorrichtungen weg und einige seiner Gefühle sickerten zu mir durch.

Ich schlug eine Hand vor den Mund und sank rückwärts gegen Spence, weil Phoenix’ … Hass so intensiv war. Sein Hass sickerte wie Gift in mich hinein und war so stark, dass mir Tränen in die Augen stiegen und sich meine Lungen zusammenzogen.

Es war Hass auf Olivier. Auf sich selbst. Darauf, was sie da taten. Dass es unmöglich zu kontrollieren war. Es kostete ihn alles, was er hatte, Olivier nicht auf der Stelle zu töten.

Ich zitterte, dabei bekam ich nur einen Geschmack davon, was Phoenix mit sich herumschleppte. Spence stützte mich.

Oh Phoenix. Was hast du getan?

Phoenix hielt Olivier immer noch fest und sah am Bahnsteig hinunter, als könnte er mich sehen. Ich atmete scharf ein und beobachtete, wie er die Augen schloss. Überwältigende Trauer durchflutete mich, als würde er irgendwie meine unausgesprochene Frage beantworten. Und in diesem Augenblick hätte ich am liebsten um ihn geweint.

Oh Gott, hilf uns.

Olivier lachte. »Du hast wirklich gedacht, Lilith wäre dir dankbar, nicht wahr? Du warst ein Narr, weil dir nicht klar war, dass sie so angewidert sein würde, weil du die Grigori-Liste die ganze Zeit hattest und sie nicht benutzt hast!«

Phoenix trat noch näher, schloss den Abstand zwischen sich und Olivier. »Sei bloß vorsichtig – ich kann dir, ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, das Herz herausreißen.«

Olivier legte die Hand auf Phoenix’ Brust, hielt dagegen und verhöhnte ihn. »Ja, aber jeder würde wissen, dass du es warst, und nachdem du schon Gressil umgebracht hast …« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Sie wird dich töten. Ich bin zu nützlich für sie, und das weißt du.«

Phoenix packte ihn wieder fester, doch dann ließ er Olivier los, als könnte er nichts anderes tun, und drückte ihn zu Boden.

»Wenn das vorbei ist, dann reiße ich dir jedes einzelne Organ aus dem Körper, zum Schluss kommen die Augen und das Herz, damit du bis dahin zuschauen kannst.«

Etwas blitzte in Oliviers Augen auf, und zum ersten Mal wich er vor Phoenix zurück und blieb am Boden.

»Ich habe zu tun«, knurrte Olivier.

Phoenix wandte sich dem Kind zu, sein Gesicht zeigte keine Gefühle, doch ich spürte den Hauch von Sorge, den er sich so anstrengte zu verbergen, als er den schlaffen Körper vom Boden aufhob. »Ich bringe das Kind hier zurück auf das Anwesen. Lilith will heute Abend ein weiteres einsammeln. Sie hat den Zeitplan vorverlegt.« Er reichte Olivier einen Zettel und sah dann in meine Richtung, bevor er fortfuhr. »Das Gebäude ist in der East 79th, zwischen Lexington und Central Park. Ich schlage vor, du machst dich sofort auf den Weg.«

»Was?«, spottete Olivier. »Du wartest nicht auf mich?«

Phoenix grinste. »Ich bin mir sicher, du findest allein in die Berge zurück.« Dann wandte er sich von Olivier ab und kam auf unser Ende des Bahnsteigs zu. Bevor er sich vom Wind davontragen ließ, nickte er mir zu.

Gibt uns Phoenix gerade Informationen? Können wir ihm trauen?

Olivier ging in die andere Richtung davon und Spence und ich warteten auch nicht weiter ab. Sobald die Luft rein war, rannten wir denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Wir rannten durch den Tunnel und kletterten die Leiter hinauf, die uns zurück in den Park an der City Hall führte. Als wir wieder über der Erde waren, rief ich Lincoln an.

»Wo bist du?«, meldete er sich sofort

Ich hielt mit Spence Schritt.

»City Hall.«

»Ich bin auf dem Weg«, sagte er, ich konnte hören, dass er ebenfalls rannte.

»Nein! Warte! Wo bist du?«

»Südöstliche Ecke Central Park.«

Mist. Ich kannte die Stadt nicht gut genug.

Ich hielt Spence das Handy hin. »Sprich mit Lincoln. Er ist an der südöstlichen Ecke des Central Park.«

Spence schnappte sich das Handy. »Du bist näher dran«, teilte er Lincoln mit, und dann gab er ihm die Adresse, zu der Olivier unterwegs war, bevor er mir das Handy wieder zuwarf.

»Er sagt, er geht mit Griffin hin und wir sollen in der Akademie auf sie warten«, erklärte Spence.

Aber Olivier will sich ein weiteres Kind holen.

Wir konnten kein Risiko eingehen. Ich musste eben schon mal dabeistehen und zuschauen, wie ein kleiner Junge entführt wurde.

»Daraus wird nichts. Wir treffen sie dort«, sagte ich und warf meinen Arm nach oben, um ein Taxi anzuhalten. Ich steckte das Handy zurück in die Tasche. »Zum Teufel damit, oder? Noch mehr Ärger können wir heute Abend sowieso nicht mehr bekommen.«

»Allerdings«, sagte Spence und klopfte mir mit der Hand auf den Rücken, als ich ins Taxi stieg. »Eine Einstellung, die ich in meinem Leben häufig vertrete.«

Als das Taxi anhielt, sahen wir Lincoln und Griffin vor einem Gebäude stehen. Sie redeten mit einer jungen Frau, die ein kleines Mädchen hielt, das in eine Decke gewickelt in ihren Armen schlief. Die Frau weinte.

Wir gingen auf sie zu, Lincoln entdeckte mich sofort. Ich konnte sehen, wie er sich entspannte, als ich es selbst auch tat. In diesem Moment wusste ich, dass meine Befürchtungen – wie immer sie auch ausgesehen haben mochten – bedeutungslos waren. Er mochte böse auf mich sein, weil ich nicht getan hatte, was er gesagt hatte, wichtiger war jedoch, dass es uns beiden gut ging.

Spence und ich hielten diskret Abstand, weil wir nicht unterbrechen wollten, blieben aber nah genug stehen, um zu hören, was sie sagten.

Olivier musste wohl hinter dem Mädchen her sein. Griffin und Lincoln hatten ihn bereits verjagt – ich konnte ihre frischen Blutergüsse sehen –, aber keiner von ihnen schien zufrieden zu sein.

Sie teilten der Mutter mit, dass es für sie und ihre Tochter zu gefährlich in der Wohnung sei und dass sie sie für heute Nacht an einen sicheren Ort bringen würden. Morgen würden sie in ein sicheres Haus gebracht werden. Griffin legte eine Menge Wahrheit in seine Worte, weil sie zweifelte und unsicher war, ob sie nicht lieber die Polizei rufen sollte.

Ein weiterer Wagen hielt an und Rania stieg aus, sie hielt die Tür für die Frau und ihre Tochter auf. Rania warf mir einen kurzen Blick zu und sah dann weg, als sie ihnen wortlos auf den Rücksitz des Autos folgte. Ich wurde nicht schlau aus ihr, aber mein nächstes Training fand in wenigen Stunden statt. Ich würde noch früh genug herausfinden, was sie dachte.

Griffin und Lincoln traten zu uns. Griffin musterte mich missbilligend von oben bis unten. »Spaß gehabt heute Abend?«

Ich stemmte die Hände in die Hüften und hielt den Kopf hoch. »Ja, hatten wir. Bis wir ein Labyrinth aus mit Blendung versehenen Tunnels entdeckt haben, die unter der Stadt mit der U-Bahn verbunden sind. Und … ach ja – dort haben wir auch Phoenix gefunden.«

»Geht es dir gut?«, fragte Lincoln. Sein Gesicht war ausdruckslos, trotz seiner angespannten Haltung.

Ich nickte.

Griffin blickte von mir zu Spence

»Genau wie sie gesagt hat, Boss«, sagte Spence.

Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er lächelte.

»Habt ihr ihn erwischt?«, fragte Spence.

Griffin rieb sich auf die für ihn typische Weise müde mit der Hand über das Gesicht. »Nein. Er ist tatsächlich geflohen. Irgendwann ist wohl für alles das erste Mal.«

»Er war bereits wegen Phoenix aufgewühlt«, sagte ich. Kein Wunder, dass Griffin die junge Familie unbedingt an einen sicheren Ort bringen wollte. Olivier würde zurückkommen.

»Habt ihr das Kind?«, fragte Lincoln.

Ich schüttelte den Kopf. »Es war zu riskant. Phoenix hat den Jungen mitgenommen, aber er lebt noch. Ich glaube, Evelyn hat recht gehabt – sie sammeln die Kinder für eine Art Massenexekution ein.«

Ein paar Sekunden lang standen wir schweigend da. Die Angelegenheit rückte plötzlich auf eine völlig andere Ebene, wenn es darum ging, dass unschuldige Kinder abgeschlachtet werden sollten.

Griffin sagte zuerst etwas, um uns fürs Erste davon abzulenken. »Ihr drei habt euch heute Abend ganz schön was eingebrockt. Josephine hat wahrscheinlich schon eine Zelle unten bei deinen Eltern für euch reserviert.«

»Griff, warte mal mit deiner Gardinenpredigt, bis wir dir alles erzählt haben«, sagte Spence lässig. Schließlich waren wir von unserem Spaßabend mit den besten Informationen zurückgekommen, die wir seit Monaten erhalten hatten.

Es war wirklich eine große Hilfe, wenn man jemanden an seiner Seite hatte, der gern mal die Regeln brach.

Griffin nickte und blickte sich um. Er war ein Anführer, aber er war dem Brechen von Regeln ebenfalls nicht abgeneigt. »Hier können wir nicht reden. Ein Team ist unterwegs hierher, um das Gebäude zu beobachten, für den Fall, dass Olivier oder irgendwelche anderen Verbannten zurückkommen.« Er reichte Lincoln etwas, das aussah wie eine schwarze Kreditkarte. »Bring sie zurück ins Ascension. Wir sehen uns dann dort, sobald ich hier die Übergabe abgewickelt habe.«

Lincoln rief bereits ein Taxi.

»Warum ins Ascension?«, fragte ich, als wir im Auto saßen.

»Das wirst du noch sehen.« Sein Körper war angespannt, und er sah konzentriert aus dem Fenster.

»Wir mussten ihm folgen, Linc«, sagte ich, weil ich annahm, dass er kurz davor war, eine Verbalattacke auf mich abzufeuern.

»Ich weiß«, sagte er. Und dann – als käme er nicht mehr länger dagegen an – ergriff er meine Hand und zog sie zu sich. Er atmete aus, seine Anspannung schien nachzulassen.

Verwirrt durch seine Reaktion blickte ich auf, doch er schüttelte den Kopf und bedachte mich mit einem wissenden Lächeln. »Ich war nicht gerade begeistert davon, dass ihr Olivier verfolgt. Ich dachte, es könnte eine Falle sein, in die euch Phoenix oder Lilith lockt. Aber als du gesagt hast, er hätte ein Kind …« Er zuckte mit den Schultern. »Was ihr getan habt, war richtig.«

Ich scrollte durch mein Handy und wählte die nicht gelesene SMS aus, die ich ignoriert hatte, nachdem ich ihm geschrieben hatte, Olivier hätte ein Kind.

Sei vorsichtig.

Jetzt konnte ich das Flattern in meinem Herzen nicht mehr stoppen, auch nicht meine Hand, die seine ebenfalls drückte und nicht mehr losließ.

Später in dieser Nacht, oder eher an diesem Morgen, fand ich heraus, dass das Ascension eines der wenigen Grigori-Lokale war, das nicht der Kontrolle des Rates unterlag. Außerdem erfuhr ich, weshalb sich Lincoln hinter einer Maske versteckt in einem der exklusiven Privatzimmer des Clubs aufgehalten hatte.

Sie waren schalldicht. Und sicher vor neugierigen Blicken.

Seit wir in New York angekommen waren, während ich in der Akademie festsaß, hatten Griffin und Lincoln die Privatsphäre genutzt, die der Club ihnen bot, um all ihre Theorien und Pläne zu diskutieren. Wie sich herausstellte, waren sie sehr fleißig gewesen.