Kapitel Einundzwanzig

»Die Hölle ist leer, … und alle Teufel sind hier.«

William Shakespeare

Als wir durch die Flure rannten, waren überall Grigori. Lincoln und ich liefen noch schneller, die Leute wichen uns aus, wenn wir vorbeikamen. Unsere Beine und Arme gaben alles. Gerade als wir es auf den Skywalk geschafft hatten, hörten wir eine weitere Explosion, bei der noch mehr der Glaswände der Kommandozentrale zu Bruch gingen.

Lincoln und ich entdeckten gleichzeitig, dass wir jetzt ein Problem hatten: Die Explosion hatte einen Teil des Skywalks beschädigt, über den wir gerade liefen. Lincoln verlangsamte sein Tempo nicht, blickte aber über seine Schulter zu mir zurück und brüllte: »Schneller!« Den Grigori, die uns weiter hinten folgten, rief er »Zurück! Zurück!« zu. In seiner Stimme lag die Art von Autorität, der sich niemand widersetzte. Wir rannten weiter, schneller und schneller, der Weg drohte unter uns zu zerbrechen.

Ohne langsamer zu werden, streckte Lincoln seine Hand nach hinten, und ich ergriff sie in dem Moment, als er einen Satz nach vorne machte und mich mit sich zog, während das Glas ein letztes Mal knirschte und zerbrach. Ich landete in seinen Armen, und er drückte mich an seine Brust, bis er wusste, dass ich in Sicherheit war. Wir sahen hinunter und beobachteten, wie der Skywalk in die Tiefe stürzte, doch bevor das größte Stück Glas auf dem Boden aufkam, hielt es an und verharrte schwebend in der Luft.

Verwirrt sah ich zu dem Gebäude hinüber, aus dem wir geflohen waren. Hiro und ein paar andere telekinetische Grigori setzten ihre Kräfte ein, es dort zu halten, und damit den katastrophalen Zusammenstoß mit den Fußgängern zu verhindern, die unten über den Gehweg strömten.

»Okay?«, fragte Lincoln, sein Blick suchte mich ab, während er mir das Haar aus dem Gesicht strich.

»Ja«, hauchte ich.

Zwei Grigori aus der Kommandozentrale rannten auf uns zu, als wollten sie über den Skywalk. »Schickt eine Aufräumtruppe nach unten«, befahl ihnen Lincoln und schob sie in die andere Richtung. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen.

»Linc!«, brüllte ich, als wir wieder losrannten. »Sie sind überall!« Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Meine Sinneswahrnehmungen summten, aber seine würden das auch tun. Wir wussten beide, wohin wir jetzt gehen mussten. »Sie holen sich Evelyn!«

Genau darauf hatte Josephine gewartet, aber ich würde jede Wette eingehen, dass sie nicht mit einem Angriff dieser Größenordnung gerechnet hatte.

Wir rannten durch den Rezeptionsbereich – Grigori und Verbannte kämpften bereits gegeneinander, viele waren bei der Explosion verwundet worden. Mir drehte sich der Magen um, wenn ich an meine Freunde dachte. Es war so perfekt abgestimmt gewesen – so viele von ihnen waren in der Arena, und die Explosionen detonierten direkt unter ihnen. Wir wären auch dort gewesen, wenn ich nicht davongelaufen wäre. Wir drängten uns weiter, Lincoln zog unsere Dolche heraus und drückte mir meinen in die Hand. Wir steuerten auf die Treppe zu und überwanden die einzelnen Abschnitte, indem wir mit großen Sätzen hinuntersprangen, bis wir in das Stockwerk gelangten, wo die Hauptexplosion stattgefunden hatte. Als wir die untere Etage erreichten, knotete sich mir der Magen zusammen und mir entfuhr ein Schrei. Mehr als fünfzehn Wachen lagen reglos in einem See aus Blut. Sie sahen wie zerbrochene Spielzeugsoldaten aus. So surreal.

Oh Gott, nein! Bitte nicht!

Von den Zellen her hörte ich Bewegung auf uns zukommen und ich packte Lincoln am Arm. Er blieb stehen.

Phoenix kam durch den Flur geschlendert und war offenbar nicht im Geringsten überrascht, als er uns dort warten sah.

»Endlich«, sagte er, wobei er das Wort in die Länge zog, mich ignorierte und Lincoln einen arroganten Blick zuwarf.

Mehr war nicht nötig. Lincoln und Phoenix gingen schnell und heftig aufeinander los, Fäuste und Beine flogen, als sie zum ersten Mal miteinander kämpften. Aber sie waren sich so ebenbürtig, dass jeder Schlag, den Lincoln ausführte, von Phoenix gekontert wurde. Was Lincoln an Schnelligkeit fehlte, machte er mit Stärke wett und umgekehrt.

Ich nutzte die Ablenkung, um nach den Grigori am Boden zu sehen und zu überprüfen, ob noch jemand am Leben war, den ich hätte heilen können. Als ich Schritte hinter mir hörte, hielt ich jedoch inne. Ich wirbelte in meiner gebückten Haltung herum und sah, wie Griffin hereinplatzte, einen einzigen Blick auf die Szene vor ihm warf und sich für Lincoln und Phoenix entschied.

Er zog seinen Dolch und machte sich daran, Lincoln zu helfen, und es mir zu überlassen, die letzten Wachen zu untersuchen.

»Nein!«, schrie Lincoln und hielt Griffin auf.

Ich stand auf, mir war elend und ich war entsetzt – keinem der Wachmänner konnte ich noch helfen. Sie waren tot. Ich ging zu Griffin, um selbst den Kampf aufzunehmen.

Wie konnte Phoenix das nur tun? Ich muss meine Eltern finden!

Lincoln hatte Griffin bereits aufgehalten und damit demonstriert, dass er nicht gewillt war, Phoenix auszuschalten – und zwar meinetwegen, wie wir alle wussten. Doch Phoenix würde sich niemals lebend von Lincoln fangen lassen. Ich umklammerte meinen Dolch, aber kurz bevor ich mich ins Getümmel stürzte, ging mir auf, dass Phoenix nicht mit seiner üblichen Begeisterung, sondern völlig mechanisch kämpfte.

»Er will nur Zeit gewinnen!«, schrie ich.

Phoenix sah mich einen Augenblick scharf an, dann grinste er.

Am Ende des Korridors – dort wo die Arrestzelle war – ertönte eine weitere kleine Explosion. Ein paar Sekunden später tauchte eine Gestalt aus dem Rauch auf.

Lincoln und Phoenix ließen gleichzeitig voneinander ab. Beide waren übel zugerichtet, hatten aber keine ernsten Verletzungen.

Ich beobachtete, wie sich alles, was ich befürchtet hatte, vor meinen Augen abspielte. Eine Frau, zweifellos Lilith, kam auf uns zu, hinter ihr folgten zwei Verbannte, die Evelyn zwischen sich festhielten.

Sowohl Evelyn als auch die Verbannten waren in übler Verfassung. Wenigstens hatte sie es ihnen nicht leicht gemacht.

Phoenix sah Lilith an. »Was ist mit den anderen?«, fragte er ruhig.

Lilith fauchte, ihr goldenes Haar leuchtete lebhaft durch den Qualm, ihre Kraft strömte in Wellen aus ihr heraus.

Ich ertappte mich dabei, wie ich lächelte.

Evelyn hat ihnen in den Hintern getreten! Das ist mit den anderen.

Evelyn sah ebenfalls zufrieden aus.

Liliths Blick wandte sich uns zu und blieb an mir hängen.

»Oh, wie habe ich mich auf diesen Moment gefreut.« Forschend musterte sie mich von oben bis unten, dann zog sie ihre perfekt geformten Augenbrauen nach oben und sah Phoenix an. »Ich kann nicht sagen, dass ich beeindruckt bin, Sohn.«

Ich fing an, meine Kraft aufzubauen. Wir würden ja sehen, wie beeindruckt sie wäre, wenn ich sie erstarren ließ und ihr meinen Dolch in die Brust stieß.

Lilith seufzte. »Wir müssen los – der Zeitplan ruft. Violet, dein Vater lebt noch. Betrachte es als ein Geschenk – du brauchst nur den Verbannten zu töten, den ich zu seiner Bewachung zurückgelassen habe, und uns vorbeilassen ohne irgendwelche … kindischen Manöver.«

Sofort ließ ich die Kraft fallen, die ich beinahe entfesselt hätte. Ich konnte es nicht riskieren.

»Nur die Ruhe«, fuhr sie fort, wobei sie ihre kirschroten Lippen zu einem Lächeln verzog. Das war überwältigend, ich war wie vom Donner gerührt von ihrer Schönheit, mir blieb buchstäblich die Luft weg. Ich hörte, wie Griffin neben mir scharf einatmete. »Wir sehen uns in Kürze.«

Ich erlangte die Beherrschung wieder – und bekam auch meine Kraft wieder in den Griff, die mich anstupste, weil sie benutzt werden wollte. Aber ich wollte Dads Leben nicht in Gefahr bringen.

»Phoenix wird dich in zwei Tagen aufsuchen und dir die Gelegenheit geben … deine Mutter zurückzuholen.« Sie lachte – ein Laut, der wie Musik durch den Raum hallte. »Oder zumindest bei einem Rettungsversuch zu sterben.«

Lilith gab den Verbannten, die bei ihr waren, ein Zeichen, dann spazierte sie geradewegs an uns vorbei in einen wartenden Aufzug. Ich konnte es kaum ertragen, mit anzusehen, wie sie Evelyn grob gegen die Wand stießen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, aber ich unternahm nichts. Die Angst um Dad hielt mich davon ab.

Mein Blut begann zu kochen.

Phoenix ging als Letzter.

Als er auf meiner Höhe war, blieb er stehen. »Das ist gut, Liebling. Du wirst das brauchen«, sagte er leise, während er meine Gefühle las. »Das und mehr.«

Ich sah ihn mit entschlossenem Gesicht an. »Ich werde meine Mutter zurückbekommen«, sagte ich mit knirschenden Zähnen.

Er lächelte und trat ganz nahe zu mir heran. »Darauf zähle ich. Zwei Tage, und ich werde dich finden, aber denk daran …« Er kam noch näher und senkte seine Stimme zu einem leisen Flüstern. »Wenn du ein Fenster offen lässt, kann ich dich schon vorher finden.« Er trat zurück. Etwas huschte über seine Augen, als sich unsere Blicke kurz trafen. Dann wurde sein Blick triumphierend. Er betrat den Aufzug und verschwand mit seiner Mutter. Und mit meiner.

Sobald sich die Tür geschlossen hatte, rannte ich durch den Flur zur Zelle. Dort waren nicht einer, sondern zwei Verbannte, die nur auf mich gewartet hatten. Aber das war nicht wichtig. Mit dem ersten machte ich kurzen Prozess, ich wurde kaum langsamer, als meine Klinge in seinen Bauch und dann durch seinen Hals fuhr. Heute hielt ich nicht inne, um sie vor die Wahl zu stellen.

Ihr habt euch meinen Dad geschnappt, ihr habt eure Wahl schon getroffen.

Lincoln verfuhr mit dem anderen Verbannten auf die gleiche Weise, und schon bald ließ ich mich neben Dad auf den Boden fallen. Meine Finger tasteten nach seinem Puls. Als ich ihn gleichmäßig schlagen fühlte, seufzte ich erleichtert auf.

Eine weitere Serie von Explosionen erschütterte das Gebäude. Griffin kam uns nachgerannt. »Da kommen Truppen!«, schrie er. Er packte Lincoln und sagte etwas zu ihm. Ich konzentrierte mich weiter auf Dad, versuchte, ihn aufzuwecken, aber es hatte keinen Zweck – er war vollkommen weggetreten.

Ich wollte aufstehen und Dad hochheben, um ihn in Sicherheit zu bringen, aber Lincoln packte mich am Arm und zerrte mich in Richtung Flur.

»Was machst du …?«, fing ich an. Er schnitt mir das Wort ab und zog mich hinter sich her.

»Wir müssen weg. Sofort!« Er bewegte sich weiter, aber ich wand meine Hand aus seiner und blickte zurück zu Dad. Auf keinen Fall würde ich ihn zurücklassen.

Griffin ließ sich neben Dad sinken und sah mich an. »Ich bleibe bei ihm, Violet. Darauf gebe ich dir mein Wort. Tu, was Lincoln sagt! Lauf! Los!«

Ich weiß nicht, ob es der Schrecken in seinen Augen war oder die Kraft seiner Stimme – was immer es war, es brachte mich dazu, nachzugeben. Ich ließ zu, dass Lincoln mich wieder am Arm packte. Wir rannten auf den Ausgang zu und ließen Griffin und Dad zurück. Ich wollte zur Tür rennen, hinter der die Treppen lagen, aber Lincoln zog mich zum Aufzug, dessen Tür er aufriss.

Aber der Aufzug war nicht da – Lilith und Phoenix waren gerade damit nach unten gefahren. Es würde zu lang dauern, bis er wieder nach oben kam. Da hörte ich, dass Leute die Treppe herunterkamen und Befehle brüllten.

Als ich Lincoln ansah, entdeckte ich die gleiche Angst in seinen Augen wie in Griffins. Was immer sie über das, was da vor sich ging, wussten – es verhieß nichts Gutes.

Lincoln zog seinen Gürtel aus. »Klettere auf meinen Rücken!«, befahl er. Ich sah hinunter in den viele Stockwerke tiefen Aufzugsschacht und sträubte mich. Unten schwelte ein Feuer.

»Sie haben ihn in die Luft gejagt!«, sagte ich. »Wir können da nicht runter.« Doch Lincoln rührte sich nicht. Ich sah ihn mit großen Augen an. »Bist du wahnsinnig? Wir können nicht springen!«

»Wir haben keine andere Wahl, Vi. Bleib einfach auf meinem Rücken und schütz dich selbst. Hast du gehört? Schütz dich, damit du mich heilen kannst, wenn wir unten sind. Wenn wir beide verletzt sind, ist keinem von uns geholfen.«

Das passiert doch gerade nicht wirklich.

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, nein! Das ist verrückt!«

Er packte mich an den Schultern, die Geräusche der sich nähernden Grigori waren nicht mehr weit entfernt. »Wir haben keine Zeit mehr. Du musst mir vertrauen!«

Sein Blick hielt den meinen, und in diesem Bruchteil einer Sekunde ging so viel zwischen uns hin und her – so viel Liebe und ja, Vertrauen.

Dummes, dummes Vertrauen.

Ich packte ihn an den Schultern und sprang ihm auf den Rücken. »Darüber unterhalten wir uns später noch«, sagte ich.

»Darauf freue ich mich schon«, sagte er und sprang.

Lincoln war so stark, dass er mich trug, als würde ich nichts wiegen. Er hakte seinen Gürtel an einem der Stahlseile ein, damit wir daran in der Mitte des Schachts hinuntergleiten konnten. Doch wir wussten beide, dass das nur so lange gut gehen würde, wie sein Gürtel hielt. Wir rasten in halsbrecherischer Geschwindigkeit nach unten, und hatten erst knapp mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt, als der Gürtel in zwei Teile riss. Lincoln ersetzte ihn rasch durch seine bloßen Hände.

Sofort roch es nach verbranntem Fleisch. Doch stur wie immer hielt er sich solange er konnte daran fest, selbst als ich schrie, weil ich die Blutspur sah, die er auf dem Seil hinterließ.

Endlich ließ er los. Dabei benutzte er seinen Schwung, um sich nach vorne zu schieben, sodass er die letzten zehn Stockwerke mit der Brust voran fiel, um mich vor der Wucht des Aufpralls zu schützen.

Er will den Aufprall mit seinem eigenen Körper abfedern!

Alles in mir schrie danach, ihn aufzuhalten, wollte meinen eigenen Schwung dazu nutzen, uns so zu drehen, dass ich unten war. Aber das tat ich nicht. Er hatte recht. Wir nutzten uns gegenseitig nichts, wenn wir tot oder bewusstlos waren. Die einzige Möglichkeit, hier lebend herauszukommen, bestand darin, dass ich ihn unten heilte, wenn meine eigene Verfassung das zuließ.

Was zum Teufel ging da vor? Warum flohen wir vor den Grigori?

Wir rasten auf den Boden zu und ich spannte mich an. Ich wollte Lincoln nicht verletzen, wenn wir aufkamen, und ich wollte sichergehen, dass ich dann noch atmete.

Die Beschleunigung des Falls war so groß gewesen, dass bei der Landung ein gewaltiger Schock meinen Körper erschütterte, und ich spürte sofort, wie mir das Bewusstsein entglitt. Doch Lincoln lag unter mir und er rührte sich nicht, deshalb hielt ich irgendwie durch. Ich rief meine Kraft, als ich von ihm herunterkroch, und ging den Flammen aus dem Weg, die an den Wänden um uns herum leckten. Dann drehte ich ihn auf den Rücken. Ich ließ nicht zu, dass das Blut, die gebrochenen Knochen oder die Schulter, die wieder ausgerenkt war, in mein Bewusstsein drangen oder mich aufhielten. Darüber hinaus konnte ich nämlich noch immer Leute, Grigori, hören, die uns oben am Aufzugsschacht zubrüllten, wir sollten uns nicht bewegen.

Meine Kraft loderte auf und ich ließ sie stark und schnell fließen. Noch nie zuvor hatte ich sie dazu gezwungen, so schnell zu arbeiten. Sie reagierte auf meine Dringlichkeit und unsere Umgebung füllte sich mit meinem Amethystnebel. Es war so viel, dass er uns unter einer violetten Wolke verbarg, während er Lincolns Verletzungen suchte. Dabei drückte ich die Schulter wieder zurück an ihren Platz. Seine verbrannten Hände waren bis auf die Knochen abgeschabt, und der Geruch brachte mich zum Würgen, aber ich machte weiter. Als Lincoln endlich die Augen aufschlug, schrie er vor Schmerzen. Er packte mich an den Armen, während ich ihn anstarrte und meine ganze Kraft darauf konzentrierte, ihn zu heilen. Nichts, nicht einmal das Geräusch von Leuten in unserer Nähe, beeinträchtigte meine Konzentration.

Als Hände, Gesicht und Schulter geheilt waren, wandte ich mich Lincolns Beinen zu. Eines davon war gebrochen, der Knochen ragte aus der zerrissenen Hose heraus.

»Himmel!«, schrie ich, weil es mir einen Moment lang nicht gelungen war, meinen Schrecken zu unterdrücken. Dann zwang ich meine Heilkraft in ihn und er brüllte wieder auf.

Als sein Atem wieder normal ging, und sein Bein geheilt war, ergriff er meine Hand. »Lass uns gehen!« Er sprang auf – der Mann, der noch vor Sekunden im Sterben lag – und riss mit seiner übermenschlichen Stärke die Aufzugstür auf.

Als wir es nach draußen geschafft hatten, rannten wir Seite an Seite durch die Straßen New Yorks und legten erst fünf, dann zehn Häuserblocks zwischen uns und die Gebäude der Akademie. Wir behielten das Tempo bei, bis wir zu einer Straße kamen, wo es viele Fußgänger gab.

»Was ist eigentlich los?«, fragte ich schließlich. Ich musste wissen, was zum Teufel passiert war. Doch dann bemerkte ich, dass Lincoln hinkte. »Verdammt. Wir müssen irgendwohin gehen. Du bist immer noch verletzt.«

»Wir sind bald da«, sagte er, ohne anzuhalten.

»Linc!«, schrie ich gereizt. »Warum laufen wir weg?«

»Weil Griffin gesagt hat, dass ich dich da rausholen soll. Ich weiß noch nicht alles, aber er sagte, sie würden dich gefangen nehmen, wenn wir blieben.«

»Warum?«, fragte ich verwirrt.

Er lief wieder schneller. »Ich glaube, Griffin denkt, dass Josephine dir diese ganze Sache anhängen will. Sie erzählt schon überall herum, dass du mit Verbannten sympathisierst.«

Oh mein Gott.

Sie würden mich einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Ohne Lincoln wäre ich da nie herausgekommen und hätte jetzt keine Chance, Evelyn zu finden.

»Griff wird sich um Mitternacht mit uns treffen. Bis dahin müssen wir uns versteckt halten und dafür sorgen, dass ihm niemand zu uns folgt.«

»Wie sollen wir das anstellen?«

»Indem wir darauf vorbereitet sind.« Er bog in eine Seitenstraße ein.

»Wohin gehen wir?«

Fast wäre ein Lächeln auf seinem Gesicht erschienen, aber das Hinken und die Angst hatten es eingefroren. »Wir gehen in die Kirche.«