Kapitel Siebzehn
»Liebe ist ein Kobold; Liebe ist ein Teufel; es gibt keinen bösen Engel, als die Liebe.«
William Shakespeare
Wie sich herausstellte, begann die »Mission Brücke« unter der Brooklyn Bridge.
Nachdem uns das Taxi abgesetzt hatte, standen wir vor dem massiven Pfeiler, der am Brooklyn-Ufer die Brücke stützte. Er stand in einem Viertel aus Lagerhallen, in dem sich jedoch eindeutig die Künstlerszene ausgebreitet hatte – viele der Gebäude waren erst kürzlich renoviert worden, und Restaurants hatten ihre Tische auf die Straße gestellt.
Zoe sagte, dass die Gegend, durch die wir gerade gefahren waren, Dumbo genannt wurde. Als ich all die Kunstgalerien sah, fiel mit wieder ein, wer ich war, was mir Freude machte – erinnerte ich mich an mein menschliches Ich.
Ich starrte den Steinpfeiler an und bemerkte überrascht, dass es in dieser Gegend weniger Verbannte zu geben schien. Meine Schultern entspannten sich und ich seufzte erleichtert, weil ich mich nicht mehr so anstrengen musste, die Sinneswahrnehmungen im Griff zu behalten.
»Okay. Also, Leute … ich sage es nur ungern, aber ich glaube, der Großteil des Nachtlebens spielt sich ein paar Blocks weiter hinten ab«, verkündete ich. Ich blickte zu den Lichtern von Manhattan hinüber, die auf der anderen Seite des Hudsons glitzerten. »Aber die Aussicht von hier ist ziemlich atemberaubend.«
Spence schnaubte. »Wir sind nicht wegen der Aussicht hergekommen, Eden«, sagte er und ging in einen dunklen Tunnel, der mitten durch den Pfeiler führte. Es war die Art von schlecht beleuchteter Unterführung, die ich vor meiner Zeit als Grigori gemieden hätte wie die Pest – und die mich selbst als Grigori nicht gerade begeisterte. Doch als Zoe Spence hinterherhüpfte und mir dabei zuwinkte, blieb mir ja wohl nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.
Als wir den Tunnel halb durchquert hatten, spürte ich plötzlich ein vertrautes Summen.
»Sind hier in der Nähe Grigori?«, fragte ich, als Spence stehen blieb und an eine Tür klopfte, die in dem nachtschwarzen Tunnel kaum zu sehen war und vor der sich bereits ein paar Obdachlose zum Übernachten versammelt hatten.
»Das kann man wohl sagen«, sagte er.
Die Tür ging auf, und eine Frau musterte uns von oben bis unten, bevor sie uns knapp zunickte. »Masken oder nicht?« Sie stellte sich nicht vor, aber sie war eindeutig eine Grigori.
»Masken«, sagte Spence.
Die Frau trat beiseite und wir gingen hinein. Als wir an ihr vorbeikamen, wechselten unsere Haare die Farbe und sie gab jedem von uns eine kleine, kristallene Maske. Die von Spence war schwarz, Zoes war – zu ihrer großen Zufriedenheit – pink und meine war golden, weil das zu meinem Oberteil passte, wie ich annahm.
Ich sah meine neuen Haare an – sie waren zwar immer noch oben zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber sie waren mindestens dreißig Zentimeter länger und hatten einen dunklen Burgunderton. Zoes Haar war vollkommen pink, was ihr Gesicht ebenfalls zum Strahlen brachte, und als wir Spence ansahen, brachen wir beide in Gelächter aus.
»Keine Chance«, sagte er zu der Frau. »Alles außer Orange!«
Zoe und ich schütteten uns aus vor Lachen, schnappten nach Luft und hielten uns die Bäuche. Die Frau an der Tür lachte auch, doch sie hatte wohl Mitleid mit ihm, denn sie veränderte mit einer Handbewegung seine Haarfarbe in marineblau. Er setzte die Maske auf. Sie passte ihm wie eine zweite Haut. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Spence war, wäre ich nie daraufgekommen.
Zoe und ich setzten ebenfalls unsere Masken auf.
»Ihr kennt die Regeln?«, fragte die Frau.
»Niemanden dazu zwingen, seine Identität preiszugeben, kein Einsatz von Kräften, keine Fotos, Masken dürfen nur freiwillig abgenommen werden, keine Kämpfe, keine Waffen ziehen«, antwortete Spence.
Sie nickte und machte eine Kopfbewegung zu einer Treppe hin. »Schönen Abend.«
Wir stiegen die Treppe hinauf, das Summen der Grigori umgab mich inzwischen.
»Was ist das für ein Laden?«, fragte ich, als wir oben ankamen. Wir waren jetzt innerhalb des Brückenpfeilers, der voller Menschen, nein, Grigori war.
An den Außenrändern zog sich eine hohe Wendeltreppe aus Metall bestimmt hundert Meter nach oben und teilte sich an einem bestimmten Punkt in drei getrennte Säulen. Auf überhängenden Balkonen und in kleinen Räumen, die in die hohen Wände eingebettet waren, standen unzählige Grigori, die tranken, lachten, tanzten, Party machten. Die meisten trugen Masken, einige wenige nicht.
»Das ist das Ascension. Der New Yorker Club, der ausschließlich für Grigori ist«, sagte Spence.
»Warum die Masken?«
»Weil das ein Ort ist, an dem es uns möglich sein soll loszulassen. Viele Grigori haben militärische Posten oder gehören der Regierung an und wollen nicht, dass ihre Identität allgemein bekannt wird. Viele von ihnen gehören zu den Einzelgängern. Anderen gefällt es einfach, hierher zu kommen und nicht der sein zu müssen, der sie bei ihrer normalen Arbeit sind. Das hier ist streng außerdienstlich. Komm, wir holen uns was zu trinken. Morgan und Max haben gesagt, dass sie uns an der Bar treffen.«
»Wir haben keine Ausweise«, sagte ich, während ich ihm mit erstaunt leuchtenden Augen folgte. Dapper würde anfangen zu sabbern, wenn er diesen Laden sehen würde.
»Macht nichts.« Zoe legte mir den Arm um die Schulter. »Sie wollen den Ausweis nicht sehen. Die Hälfte der Grigori hier sieht aus, als wären sie noch nicht volljährig, was sie definitiv auch nicht sind. Das würde zu lange dauern, und ein Club, der ausschließlich für Grigori ist, hat seine eigenen Regeln.« Zoe musste brüllen, um die Musik zu übertönen.
»Schön«, sagte ich. Mein Lächeln wurde breiter, während die Beats der Musik den Boden und alles um mich herum zum Vibrieren brachten. Die Stimmung war unglaublich, und ich ertappte mich dabei, wie ich lachte, als Spence mir den ersten Drink reichte, dem noch etliche folgen sollten. Ich schaute mich um und hatte zum ersten Mal, seit ich in New York war, das Gefühl, dass niemand mich beobachtete. Niemand wusste, wer ich war, und niemand wollte es herausfinden.
Okay, nur weil jemand Grigori ist, nur weil das bedeutet, dass er ein Krieger ist, der um das Recht der Menschheit auf freien Willen und Existenz kämpft, bedeutet das nicht, dass er ein verantwortungsvolles Freizeitverhalten hat.
Mir fielen bei ein paar Sachen, die ich sah, fast die Augen heraus. Wenn man sie mal von der Leine ließ, feierten die Grigori wirklich wild. Ich konnte verstehen, warum. Einige von ihnen waren weit über hundert Jahre alt und dauernd damit beschäftigt, gegen Verbannte zu kämpfen. Wenn sie sich nicht vollkommen gehen lassen konnten, wenn sie unter ihren eigenen Leuten waren, wann dann?
Endlich hatte ich es geschafft, mich von der Tanzfläche zu schleichen. Das hatte viel Mühe gekostet, weil Morgan mich nicht mehr aus den Augen lassen wollte, als sie erst mal dahintergekommen war, dass das hinter der goldenen Maske ich war. Jetzt konnte ich auf Entdeckungstour gehen. Sie spielten eine Zusammenstellung aus bestem Retro Dance, darunter ein paar Songs, die ich noch nie gehört hatte, die ich aber ab jetzt wohl bis in alle Ewigkeit online suchen würde.
Während ich die Wendeltreppe hinaufstieg und über die Balkone ging, schaute ich mir die höhlenartigen Räume an, die in die Wände eingelassen waren. Jeder von ihnen war entweder von brennenden Kerzen oder Kronleuchtern erhellt, und jeder schien einem bestimmten Zweck zu dienen. Einige davon waren mit Sofas voller Kissen ausgestattet und waren zur Entspannung da, in manchen konnten sich Gruppen an Tischen, wie sie in Kneipen standen, versammeln. Andere lagen – wie ich nach einigen Nachforschungen herausfand – hinter unsichtbaren, schallschluckenden Vorhängen, auf deren anderer Seite … eine komplett andere Ausstattung und ein anderer Musikstil zu finden waren. Das Ascension hatte für alle Generationen etwas zu bieten. Im Rockabilly-Raum kam man sich zum Beispiel vor wie in einer Zeitschleife.
Während ich all das in mich aufnahm, war ich schon halb oben, direkt unter der Casino-Galerie, als ich ihn wahrnahm. Wenn ich nicht schon so viele der leckeren minzigen, alkoholischen Getränke intus gehabt hätte, die Zoe und Spence mit dauernd gereicht hatten, hätte ich ihn schon früher gespürt.
Was macht er hier?
Ich tippte einer maskierten Grigori auf die Schulter. Sie wandte sich von ihren Gesprächspartnern ab und sah mich an. Sie trug ein rotes Kleid mit Fransen und war aus einem der Räume gekommen, in denen um hohe Einsätze gespielt wurde – älteren Grigori mangelte es nicht an Geld.
»Entschuldigen Sie, wissen Sie, was in den oberen Räumen ist?«, fragte ich sie.
Sie zwinkerte. »Privatpartys, wenn du weißt, was ich damit sagen will, Kleines.«
Ich schluckte einen Kloß im Hals hinunter. »Schon kapiert.« Ich nickte, mein Lächeln verblasste. »Danke.« Ich wich – oder vielmehr stolperte – ein paar Schritte zurück, beugte mich über das Geländer und blickte hinunter auf die Tanzfläche.
Denk nach.
Wenn ich wusste, dass Lincoln hier war, war es nur eine Frage der Zeit, bis er mich auch wahrnahm.
Atme. Denk nach.
Vielleicht hängt er hier einfach mit Leuten aus der Akademie ab. Vielleicht waren sie auf der Jagd gewesen.
Aber warum Privatzimmer?
Die Frau hatte deutlich gemacht, dass die Zimmer für die Art von Dingen genutzt wurden, die mir nur das Herz brechen würden, wenn ich sie sähe. Ganz zu schweigen von meiner Seele.
Ich hatte keinen Anspruch auf ihn.
Verdammt. Mir war übel.
Lincoln hatte es selbst gesagt, die Sache mit uns hatte nicht gerade eine Menge Action in sein Liebesleben gebracht. Was hatte ich eigentlich erwartet? Dass er einfach für immer warten würde? Wenn ich da oben jetzt hineinplatzen würde, würde ich bestenfalls wie irgendein verrückter Stalker aussehen.
Der Raum fing an, sich zu drehen. Ich musste eine Entscheidung treffen. Nach oben oder nach unten?
Nach unten, nach unten, nach unten!
Ich ging schneller, selbst als ich den Stachel in Lincolns Kraft spürte. Er wusste, dass ich in der Nähe war, und jetzt bewegte er sich auch.
Los, schnell!
Ich schaffte es zurück auf die Tanzfläche und drängte mich durch die Massen, bis ich Spence und Zoe im hinteren Teil fand. Morgan und Max waren nirgends zu sehen. Ich zog Spence zu mir.
»Kannst du uns mit einer Blendung versehen?«, fragte ich ihn, während ich mich hektisch umsah. »Lincoln ist hier und wir sind kurz davor, aufzufliegen.«
Er kam immer näher. Ich konnte seine Aufregung spüren.
Spence schüttelte den Kopf und sah sich ebenfalls um. »Nein. Das ist gegen die Regeln. Und das ist kein Ort, an dem es gut ist, die Regeln zu brechen.«
»Ich glaube, ich sehe ihn«, sagte Zoe. »Oder zumindest jemanden, der so groß ist wie er, fast unten an der Treppe angelangt ist und in unsere Richtung schaut. Er kann dich noch nicht sehen mit der Maske und den Haaren. Aber er könnte mit sonst wem hier sein, und wenn er dich entdeckt, sind wir geliefert.«
Wir wussten alle, dass das nur eine Frage der Zeit war.
Ich schob Zoe auf die Treppe zu. »Geh, geh, geh!«
Während wir losrannten, blickte ich über die Schulter zurück und sah ihn auf der anderen Seite der Tanzfläche. Obwohl er eine silberne Maske trug und sein Haar dunkel war und ihm bis auf die Schulter hing, hätte ich ihn überall wiedererkannt. Er sah mich direkt an und schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, ob er böse auf mich war oder einfach nur enttäuscht. Nach all dem Lob, das er mir zuvor gespendet hatte … Ich hatte es mir verscherzt. Kurz schloss ich die Augen vor Reue.
»Eden!«, rief Spence.
Ich sprang die Stufen hinunter, und wir rannten an der Türsteherin vorbei, der wir unterwegs unsere Masken zuwarfen.
Spence und Zoe lachten, sie waren ganz aufgekratzt vom Alkohol und weil wir so knapp entwischt waren. Aber alles, was ich sehen konnte, waren Lincolns Augen. Wir rannten in vollem Tempo die Straße entlang, bogen so oft wie möglich ab, verirrten uns, bis wir durch Zufall auf eine Hauptstraße stolperten.
Spence verlangsamte seinen Schritt. »Na ja, es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Wir haben jeden, der uns gefolgt sein könnte, abgehängt. Die schlechte: Durch das Laufen hat sich der ganze Alkohol verflüchtigt.«
Ich verdrehte die Augen. »Das tut mir ja so leid«, sagte ich, aber meine Gedanken kreisten noch immer, und ich versuchte dahinterzukommen, was ich jetzt tun sollte. Sollte ich zurück zur Akademie fahren, ins Bett springen und so tun, als würde ich von nichts wissen? Sollte ich Lincoln konfrontieren und ihn fragen, was er da gemacht hat? Sollte ich mich entschuldigen? Wütend werden? Jetzt weinen oder lieber später?
Spence deutete auf ein Café. »Du brauchst dich nicht zu geißeln. Du kannst mir einfach einen Kuchen kaufen, um es wiedergut…«
»Stopp!«, sagte ich. Ich packte ihn am Arm und versuchte, die Sinneswahrnehmungen, die ich spürte, zu durchkämmen.
Zoe und Spence erstarrten.
Meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Café. »Verbannter«, sagte ich.
Spence und Zoe mussten sich ein Weilchen konzentrieren, um es auch wahrzunehmen, aber dann nickten sie beide.
Ich wurde immer besser darin, meine Sinneswahrnehmungen zu nutzen. Sie waren hier so überwältigend, dass ich sie gut kontrollieren musste. Plötzlich wusste ich Ranias gnadenlosen Unterricht ganz neu zu schätzen.
»Ich erkenne Folgendes … Rosen und … Minze …« Ich runzelte die Stirn. Ich hatte diese Kombination definitiv schon mal wahrgenommen, aber ich konnte sie nicht einordnen.
Wir wichen zurück auf den schattigen Gehweg gegenüber dem Café.
»Irgendwelche Ideen?«, fragte Spence. Er hatte bereits seinen Dolch gezückt. Und er lächelte. Er hatte seinen Plan rasch formuliert, und er zielte auf sofortige Konfrontation ab.
»Lasst uns hier warten. Irgendwann muss er ja rauskommen, und dann werden wir sehen, womit wir es zu tun haben. Wenn er zu Phoenix’ Leuten gehört, können wir ihn vielleicht verfolgen, wenn wir unsere Schutzschilde oben halten und ein wenig zurückbleiben.«
Zoe blickte zwischen dem Café und uns hin und her. »Ihr wisst aber schon, dass wir dafür gekreuzigt werden?«
»Klar«, sagte ich. Aber wir waren ohnehin schon geliefert, und auf diese Weise konnten wir uns wenigstens nützlich machen.
»Ich bin dabei«, sagte Spence.
Zoe nickte. »Ich auch. Nur damit klar ist, dass wir auf derselben Wellenlänge sind, Leute«, äffte sie Griffin nach.
Eine halbe Stunde später war die Aufregung verflogen und wir halb erfroren. Noch immer warteten wir darauf, dass sich unser Verbannter zeigte.
Mein Handy vibrierte in meiner Tasche. Ich zog es heraus und sah auf das Display.
»Lincoln wieder?«, fragte Spence und hauchte sich in die Hände.
Ich nickte. Wir hatten alle drei mehrere Anrufe ignoriert.
Spence ließ den Kopf in die Hände sinken. »Wir sitzen so was von in der Tinte. Ich sag’s nicht gern, Eden, aber vielleicht solltest du rangehen.«
Ich sah auf das Handy, mein Finger schwebte über der Anruf-annehmen-Taste. Spence hatte recht, aber etwas sagte mir, noch zu warten. Bevor ich es mir überlegen konnte, ging die Tür des Cafés auf und heraus kam unser Verbannter.
»Verdammt noch mal«, flüsterte Zoe.
Aber hallo, verdammt.
Ich steckte das Handy zurück in meine Tasche und machte mich bereit, ihm zu folgen.
Wir hatten soeben den Jackpot geknackt.